Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Lachner, Julie Maria, verh. Kayser

* 16. Mai 1843 in München, † 18. Jan. 1873 in Karlsruhe, Pianistin. Sie war die Tochter des Komponisten und Dirigenten Ignaz Lachner (1807–1895) und seiner Ehefrau Franziska geb. Waldhör (1818–1884). Nach dem vermutlich im Elternhaus erhaltenen Anfangsunterricht im Klavierspiel erhielt Julie Lachner ihre weitere Ausbildung bei dem tschechischen Klaviervirtuosen Ignaz Amadeus Tedesco (1817–1882), Hofpianisten des Großherzogs von Oldenburg. Dessen Spitzname „Hannibal der Oktaven“ zeugt von seinen technischen und der frühe Erfolg seiner Schülerin von seinen pädagogischen Fähigkeiten.

Julie Lachner debütierte im Alter von elf Jahren bei einem Konzert in Hamburg am 12. Apr. 1855. In einem Konzertbericht aus Hamburg heißt es: „Der Vater hatte dem Mädchen ein Conzert mit Orchester für den Abend componirt, dessen leichter Styl der kindlichen Auffassung der Vortragenden entsprach, und obgleich die Hände der angehenden Virtuosin noch keine Oktave beherrschen, so behauptete sich der Anschlag des Kindes doch in der klarsten Bestimmtheit über dem Tutti der Instrumente. Der Beifall war ungeheuer; Freudenthränen sah man glänzen in den Augen des Vaters, wie auch des Lehrers“ (Münchener Punsch 1855, S. 128).

Ein knappes Jahr später erfolgte in Hamburg der zweite Auftritt der Musikerin.  Der „Münchener Punsch“ lobte sie wiederum „für ihren durch viel Feuer und eine erstaunliche Kraft ausgezeichneten Vortrag des Mozart’schen Clavierconzerts in C-moll, des sogenannten Kaiserconzerts. Die Leistung des lieblichen Kindes wirkte dermaßen auf das Auditorium, daß die Beifalls-Ungeduld den Vortrag der kleinen Virtuosin mehrmals zum Schweigen brachte“ (Münchener Punsch 1856, S. 64).

Am 6. Dez. 1856 präsentierte Julie Lachner den 1. Satz aus dem Konzert für Klavier und Orchester As-Dur op. 113 von Johann Nepomuk Hummel. Ein Konzertbericht aus Hamburg bestätigt eindrücklich das stetig fortschreitende Können der Musikerin: „Frln. Julie Lachner ließ sich auf dem Piano mit dem 1. Satz aus Hummel´s Asdur-Conzert hören. […] Die kleine Virtuosin hat seit einem Jahr solche Fortschritte gemacht, daß ihr die ehrenvollste Laufbahn als Künstlerin zu prophezeihen ist“ (Münchener Punsch 1856, S. 398).

Am 10. April 1858 musizierte Julie Lachner bei einem Concert ihres Vaters im Wörner'schen Saal Ludwig van Beethovens Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll op. 37. „Frln. Julie Lachner, die kindliche Claviervirtuosin, spielte Beethoven´s tiefsinniges Clavierwerk aus C moll. Das Mädchen steht erst zwischen dem 13. und 14. Jahre, und ist dennoch im Besitz einer so ausgebildeten Technik, daß sie alle Schwierigkeiten des Cmoll Conzerts mit ausdauernder Kraft und der schönsten Leichtigkeit überwand“ (Hamburger Nachrichten, zit. nach Münchener Punsch 1858, S. 135).

Nach dem Wechsel des Vaters 1858 als Hofkapellmeister nach Stockholm findet sich auch dort ein Beleg für ein Konzert der nun 16jährigen mit der königlichen Kapelle unter Leitung von Ignaz Lachner im Juni 1860 mit dem Beethoven´schen Klavierkonzert Nr. 3 c-Moll op. 37. In einem Bericht aus Stockholm heißt es: „Von sonstigen hier gegebenen Concerten möchten wir […] besonders hervorheben: […] das von Herrn Hofcapellmeister I. Lachner, worin außer einer wirksam instrumentirten Ouverture des Concertgebers unter andern die Eroica-Sinfonie und das Clavierconcert in Cmoll von Beethoven aufgeführt wurde, letzteres gespielt von Fräulein Julie Lachner mit einer für ihr Alter ungewöhnlichen Kraft“ (Signale 1860, S. 348).

Im August desselben Jahres – während eines Sommerurlaubs der Familie Lachner in Visby auf der Insel Gotland – vermerkt der Vater Lachner in einem Brief an den Stockholmer Opernintendanten Hyltén-Cavallius: „Meine Tochter Julie gab vergangenen Freitag den 27. Juli eine sehr zahlreich besuchte musikalische Soirée und setzte das Publikum in großes Staunen und Verwunderung“ (zit. nach Mann, S. 91).

Alle hier zitierten Zeitungsberichte erinnern stark an die Wirkung manch anderer zeitgenössischer ‚Wunderkinder‘, etwa die Schwestern Milanollo, die Schwestern Isabella und Sophie Dulcken oder Hortensia Zirges. Erstaunlicherweise und im Unterschied zu den Genannten findet sich bislang aber keine einschränkende oder gar negative Kritik zu Julie Lachners Können. Möglicherweise liegt dies an der unbestrittenen musikalischen und persönlichen Integrität des Vaters bzw. seiner gesicherten Existenz, welche eine ‚Wunderkind-Dressur‘ zur persönlichen Bereicherung kaum denkbar erscheinen ließ.

Julie Lachner heiratete den aus Karlsruhe stammenden Eisenbahninspektor Ernst Adolf Kayser. Die Ehe blieb kinderlos. Vier Monate nach dem Tod ihrer Zwillingsschwester Sophie starb Julie Kayser am 18. Jan. 1873 im Alter von nur 29 Jahren.

 

LITERATUR

Blätter für Musik, Theater und Kunst 1860, S. 204

Münchener Punsch 1855, S. 128; 1856, S. 64, 398; 1858, S. 135

Signale für die musikalische Welt 1860, S. 348

Süddeutsche Musik-Zeitung 1860, S. 107

Der Tagesbote aus Böhmen 17. Apr. 1855

Harald Johannes Mann, Die Musikerfamilie Lachner und die Stadt Rain, Rain a. Lech 1989.

JewishEncyclopedia.com. Eintrag Ignaz Amadeus Tedesco, Zugriff am 8. Apr. 2024.

 

Andreas G. Ratz

 

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