Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Diderot, (Marie-)Angélique,  verh. Vandeul

* 2. Sept. 1753 in Paris, † 5. Dez. 1824 in Paris, Cembalistin. Sicher wären die Aktivitäten Angélique Diderots trotz ihres berühmten Vaters heute in Vergessenheit geraten, wäre sie nicht eine der drei Hauptpersonen eines musikalischen Lehrwerkes, der Leçons de Clavecin, et Principes d'Harmonie" aus dem Jahre 1771 von Anton Bemetzrieder. Der Autor beschreibt darin die Unterrichtsstunden, welche er der wissbegierigen, zu dieser Zeit etwa 16-jährigen Schülerin im Laufe von sieben bis acht Monaten gab.

Geboren als viertes Kind (nach drei früh verstorbenen Geschwistern) des Enzyklopädisten Denis Diderot (1713–1784) und dessen Frau Anne-Antoinette geb. Champion (1710–1796), genoss das junge Mädchen eine sorgfältige Ausbildung. Der Vater schätzte seine Tochter sehr, verfolgte ihre Fortschritte und regte sie zum kritischen Nachdenken an. So berichtet  Diderot 1769 seiner Freundin Sophie Volland: „Übrigens, wir setzen unsere Spaziergänge fort, mein kleiner Liebling und ich. Auf unserem letzten bemühte ich mich, ihr begreiflich zu machen, daß es keine Tugend gäbe, die nicht zwei Belohnungen nach sich ziehe: die Genugtuung, etwas Gutes zu tun, und die Freude, das Wohlwollen der Mitmenschen zu erlangen; daß es kein Laster gäbe, das nicht zwei Strafen nach sich ziehe: die eine ist die, welche wir tief in unserem Herzen abbüßen, die andere ist das Gefühl der Abneigung, das wir unseren Mitmenschen unweigerlich einflößen. Der Stoff war nicht unergiebig. Wir gingen einen großen Teil der Tugenden durch. […] In Zukunft werden wir kaum Vorurteile haben, wohl aber Taktgefühl, Sitten und solide Prinzipien, die in allen Jahrhunderten und für alle Völker allgemein gültig sind. Die letzte Überlegung stammt von ihr“ (Brief an Sophie Volland vom 31. Aug. 1769, zit. nach Geißler, S. 302).

Eine im Fonds Vandeul (Bibliothèque nationale de France) erhaltene kleine Abhandlung mit dem Titel „Physique, discours préliminaire“ von der Hand Angélique Diderots zeigt, dass der Vater seine Tochter auch mit Dingen beschäftigte, die nicht unbedingt zum üblichen Ausbildungskanon für Mädchen gehörten (vgl. Ruffet, La physique pour débutants). Daneben standen, so Diderot in einem Brief an seinen Bruder, Religion, Geographie, Geschichte, Musik und Tanz, Hausarbeit und „le travail de tous les petits travaux de son sexe („die Verrichtung von allen kleinen Arbeiten ihres Geschlechts“) – vermutlich sind überwiegend Handarbeiten gemeint (Brief an Pierre Diderot vom 13. Nov. 1772, Correspondance XII, S. 163f.).

Mit neun Jahren begann Angélique Diderot das Instrumentalspiel. Von Anfang an scheint Vater Diderot die musikalischen Fortschritte seiner Tochter intensiv verfolgt zu haben. So schreibt er am 31. Juli  1762, auch diesmal an Sophie Volland: „Ich bin von meiner Kleinen entzückt, weil sie mit ihren Gedanken bei der Sache ist. ,Angélique, diese Stelle bereitet dir wohl Schwierigkeiten? Sieh auf dein Blatt. - ,Der Fingersatz steht nicht auf meinem Blatt, deshalb komme ich nicht weiter.' - ,Angélique, ich glaube, du hast einen Takt vergessen. - ,Wie sollte ich ihn vergessen haben, ich greife doch eben noch den Akkord! (Brief Denis Diderots an Sophie Volland vom 31. Juli 1762, zit. nach Geißler, S. 177f.).

Von 1765 bis 1769 erhielt Angélique Diderot Cembalounterricht bei der sieben Jahre älteren Marie-Emmanuelle Bayon, deren Six Sonates pour le Clavecin ou le Piano Forte dont trois avec Accompagnement de Violon obligé (œuvre I, Paris 1769) sie auch erlernte. „Elle sera musicienne“ („Sie wird einmal Musikerin werden!“), verkündete 1769 stolz der Vater (Brief Diderots an Friedrich Melchior von Grimm vom 2. Nov. 1769, Correspondance IX, S. 190). Auch die spätere Schrift Bemetzrieders erwähnt mehrmals die frühere Lehrerin. Hier heißt es auch, dass die Schülerin des weiteren Kompositionen von Leontzi Honauer, Johann Gottfried Eckard, Johann Schobert und Georg Wagenseil erarbeitete. Angélique Diderot spielte damit moderne Werke zeitgenössischer deutscher und österreichischer Komponisten. Charles Burney betont die Besonderheit des von ihr gespielten Repertoires: „Ob ich gleich das Vergnügen gehabt habe, sie verschiedene Stunden zu hören, so hat sie doch platterdings nichts von französischer Komposition gespielt sondern alles war italiänische und deutsche Arbeit; und hieraus läßt sich leicht auf des Herrn Diderots Geschmack in der Musik schließen“ (Burney, S. 300). In einem Brief vom 18. Aug. 1771 bittet Diderot Charles Burney dann auch um Notenmaterial (Bassenge, S. 325): Das Interesse an neuen Werken war also groß.

Die technisch und musikalisch anspruchsvollen Kompositionen scheint Angélique Diderot gut beherrscht zu haben, denn Bemetzrieder lobt ihre geläufigen Finger und ihre gut eingerichtete Hand (Bemetzrieder, S. 118f.).  Hauptsächlich aber bedeutete der Lehrerwechsel eine Verlagerung der inhaltlichen Schwerpunkte im Unterricht. Hatte Angélique Diderot, wie wohl in der Regel für höhere Töchter üblich, bislang ausschließlich Kompositionen erarbeitet, so begann sie nun mit Generalbassspiel, Harmonielehre und Improvisation. Dabei kam ihr der von ihrem Vater philosophisch geschulte Geist eindeutig zugute, denn Bemetzrieder lobt ausdrücklich nicht nur ihre schnelle Auffassungsgabe, sondern auch ihren kritischen Verstand. Dies spiegelt sich auch in den Dialogen wider, die nachzeichnen, wie Angélique Diderot, anfangs ohne harmonische Vorkenntnisse, nach nur sieben bis acht Monaten Unterricht ein chromatisches Prélude komponieren konnte. Im Übrigen berichtet die Schule über viele praktische Details des Musiklernens und Unterrichtens (Schweitzer, S. 170-173).

Charles Burney erwähnt in seinem Bericht über einen Besuch bei Denis Diderot ausdrücklich beide Komponenten des Clavierspiels von Angélique Diderot, Interpretation und Improvisation, und hebt so die Besonderheit dieser nicht-professionellen Cembalistin hervor: „Mademoiselle Diderot, seine Tochter, ist eine der besten Flügelspielerinnen in Paris, und für ein Frauenzimmer besitzt sie ungewöhnlich viele Kenntniß von der Modulation“ (Burney, S. 300).

Diesem so vielversprechenden Beginn war allerdings keine Zukunft beschieden. In dem Bestreben, die Zukunft seiner Tochter durch eine gute Mitgift zu sichern, verkaufte Diderot seine Bibliothek an Katharina II. von Rußland. Am 9. Sept. 1772 verheiratete sich Angélique Diderot in Paris mit Abel Caroillon de Vandeul (1746–1813), dem Sohn einer reichen Industriellenfamilie. Nach ihrer Heirat endete das Musizieren wohl bald. Nachdem 1772 noch Johann Gottfried Eckhard als neuer Lehrer verpflichtet worden war, erwähnt Diderot bereits am 7. Okt., dass diese finanzielle Ausgabe zu Unstimmigkeiten mit dem Schwiegersohn geführt habe. Diderot drängt noch ein paar Mal darauf, dass seine Tochter die Musik nicht vernachlässige und beklagt sich über den Schwiegersohn, der seine Frau lieber gut gekleidet und herausgeputzt statt am Instrument sähe (Brief Diderots an Fr. M. von Grimm vom 9. Dez. 1772).

Damit ging Angélique Diderot, die durch ihren vielseitig interessierten Vater gute Voraussetzungen gehabt hatte, letztendlich den Weg der meisten jungen Frauen, deren musikalische Talente nach der Heirat brachlagen oder nur noch im familiären Rahmen genutzt wurden. Bald kamen zwei Kinder zur Welt: Marie Anne, verstorben im Kindesalter (1773–1784), und Denis Simon (1775–1850). Spätestens nach dem Tod ihres Vaters im Jahr 1784 dürfte Angélique ihre musikalischen Tätigkeiten weitgehend eingestellt haben.

Im Jahr 1797, als die ehemalige Lehrerin Marie-Emmanuelle Bayon, mittlerweile Madame Louis, nach dem Tod ihres Ehemannes eine schwere Zeit durchlebte, verbrachten die beiden Freundinnen viel Zeit miteinander und besuchten gemeinsam konzertante Veranstaltungen (vgl. Hayes, S. 94). Bereits 1791 hatte das Ehepaar Vandeul die Heiratsurkunde von Mme. Louis' Tochter unterzeichnet. In der Not unterstützte Angélique de Vandeul die alte Freundin finanziell.

Angélique de Vandeul geb. Diderot starb am 5. Dez. 1824 in Paris, elf Jahre nach ihrem Ehemann.

Ihre Rolle in dem im Jahr 2000 in die Kinos gekommenen Film „Le Libertin“ von Gabriel Aghion (in der Rolle der Angélique Diderot: Vahina Giocante) sollte sicher nicht allzu ernst genommen werden (vgl. beispielsweise www.youtube.com oder Internet Movie database).

 

(Angeblich) nachträglich notiertes Gespräch zwischen
Bemetzrieder (Le Maître) und Denis Diderot (Le Philosophe) über
Übungsweise und Ziele des Unterrichts von Angélique Diderot (L'Eleve),
Bemetzrieder, S. 122.

 

LITERATUR

1 Prélude, abgedruckt in Bemetzrieder (S. 331-333)

 

WERKE FÜR CEMBALO

Anton Bemetzrieder, Leçons de Clavecin, et Principes d'Harmonie, Paris 1771, Repr. New York 1966.

Charles Burney, Tagebuch einer musikalischen Reise, aus dem Engl. übersetzt von Christoph Daniel Ebeling, Hamburg 1773, Repr. der vollständigen Ausgabe, Kassel 2003.

Denis Diderot, Ästhetische Schriften, 2 Bde., Bd. 2, aus dem Französischen übersetzt von Friedrich

Bassenge u. Theodor Lücke, hrsg. von Friedrich Bassenge, Frankfurt a. M. 1968.

Denis Diderot, Briefe 1742–1781, ausgewählt und hrsg. von Hans Hinterhäuser, Frankfurt a. M. 1984.

Denis Diderot, Briefe an Sophie Volland, hrsg. von Rolf Geißler, aus dem Französischen übersetzt von Gudrun Hohl, Leipzig 1986.

Denis Diderot, Correspondance, hrsg. von Georges Roth u. Jean Varloot, Paris 1955–1970.

MGG 1 (Art. Denis Diderot), MGG 2000 (Art. Anton Bemetzrieder), New Grove 2001 (Art. Anton Bemetzrieder, Art. Marie-Emmanuelle Bayon Louis)

Anne Mézin u. Vladislav Rjéoutski (Hrsg.), Les Français en Russie au siècle des Lumières. Dictionnaire des Français, Suisses, Wallons et autres francophones en Russie de Pierre le Grand à Paul Ier, 2 Bde., Bd. 2: Notices. Ferney 2011.

Jean Massiet du Biest, La fille de Diderot. Mme de Vandeul, Tours 1949.

Jean Massiet du Biest, Angélique Diderot. Témoinages nouveaux principalement d'après les lettres inédites adressées à celle-ci par J. H. Meister de Zurich, Paris 1960.

Arthur M. Wilson, Diderot, New York 1972.

Jean Gribenski, „A propos des Leçons de clavecin: Diderot et Bemetzrieder“, in: Revue de musicologie 66 (1980), S. 125–178.

Pierre Dejours, „Mon Papa, c'est du chromatique...“, in: Recherches sur Diderot et sur l'Encyclopédie 3 (1987), S. 161–163.

Deborah Hayes, „Marie-Emmanuelle Bayon, Later Madame Louis, and Music in Late Eighteenth-Century France“, in: College Music Symposium Journal 1990, S. 14–23.

Lilo Gersdorf, Marie-Angélique Diderot und die Leçons de Clavecin et Principes d'Harmonie von Anton BemetzriederParis 1771, unveröffentlichte Diss. Salzburg 1992.

Monique Ruffet, „La physique pour débutants. Angélique Diderot et les Leçons de l'abbé Nollet“, in: Recherches sur Diderot et sur l'Encyclopédie 13 (1992), S. 56–78.

Larissa L. Albina, „Une lettre inédite de Marie Angélique Diderot“, in: Recherches sur Diderot et sur l'Encyclopédie 16 (1994), S. 13–16.

Deborah Hayes, „Madame Louis“, in: Women Composers. Music through the Ages, Bd. 4: Composers born 1700 to 1799, vocal music, hrsg. von Sylvia Glickman u. Martha Furman Schleifer, New York 1998, S. 93–105.

Claudia Schweitzer, „... ist übrigens als Lehrerinn höchst empfehlungswürdig“. Kulturgeschichte der Clavierlehrerin (= Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts 6), Oldenburg 2008.

Deborah Hayes, „Marie Emmanuelle Bayon Louis (1746–1825)“, in: Women Musicians of the late Eighteenth Century, im Internet: http://spot.colorado.edu/~hayesd/Bayon.html, Zugriff am 8. Aug. 2011.

Claudia Schweitzer, „‚Das unter ihrem Namen gedruckte Stück …, ob es nun gut oder schlecht sei, ist von ihr; sowohl die Oberstimme als auch der Bass und die Bezifferung‘. Französische Generalbassspielerinnen im 18. Jahrhundert“, in: Musik & Ästhetik 65 (2013), S. 45–51.

 

Claudia Schweitzer

 

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