Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Simonin-Pollet, Marie-Nicole, Marie,  geb. Simonin, verh. Pollet

* 4. Mai 1787 in Paris, † im März 1864 in Châtillon/Seine, Harfenistin. Sie war Tochter des Geigenbauers Jean-Baptiste Simonin, der einen neuen Mechanismus für die Harfe konstruierte. Marie-Nicole Simonin war drei Jahre lang Schülerin von Blattmann und dann von Martin-Pierre Dalvimare (1772–1839). Ab 1808 gab sie mit großem Erfolg Konzerte. Eine erste Reise führte die Harfenistin im Jan. 1812 zunächst nach Frankfurt a. M.; hier spielte sie mit anderen MusikerInnen zusammen sowie solistisch: „An allem, was sie bey uns vortrug, war eine sehr geübte, fertige Harfenspielerin, welcher es auch an Geschmack nicht gebricht, leicht zu erkennen. Auch nahm sie nicht, wie viele Harfenisten pflegen, ihre Zuflucht zu gemeinen Hülfsmittelchen, z. B. etwas laufende Passagen mit Einem Finger auszuführen; sondern bey ihr waren alle Finger gleich thätig, und dadurch bekam ihr Vortrag viel Bestimmtes, und jene Deutlichkeit, die man so oft bey Virtuosen auf diesem Instrumente vermisst“ (AmZ 1812, Sp. 115f.). Im selben Konzert trug sie zusammen mit ihrem sechsjährigen Sohn Carl eine Gavotte von Vestris als Duo zu vier Händen auf einer Harfe vor. Ihre Konzertreise führte sie weiter über Kassel, Berlin, Leipzig und Breslau nach Wien. In Leipzig spielte sie – als „Mitglied des k. k. Atheneums“ (AmZ 1812, Sp. 771) bezeichnet – in den Zwischenakten eines Lustspiels ein Konzert von Naderman sowie eine eigene Komposition: „In beyden Stücken erhielt sie, ihrer grossen Fertigkeit, und ihres ausdrucks- und geschmackvollen Spieles wegen, ausgezeichneten und ungetheilten Beyfall“ (AmZ 1812, Sp. 771f.). Außerdem trat sie in einem Extrakonzert des Leipziger Gewandhauses auf und ließ sich hier mit dem Harfenkonzert von Steibelt hören. In Wien wurde sie als Mitglied des Orchesters am Theater an der Wien engagiert, wo sie im Dez. 1812 in einer Oper Aschenbrödel (möglicherweise Cendrillon von Nicolas Isouard) mit ihrer Harfe das Klavier ersetzte.

Marie-Nicole Simonin-Pollet wird im Briefwechsel zwischen Johann Wolfgang von Goethe und Carl Friedrich Zelter zweimal erwähnt. Am 27. Febr. 1812 schreibt Goethe an Zelter: „Seinem verehrten Freunde, Herrn Professor Zelter in Berlin, empfiehlt mit den besten Grüßen und Wünschen Madame Pollet, eine vorzügliche Harfenspielerin, […] J. W. v. Goethe“. Und am 14. Apr. 1812 schreibt Zelter aus Berlin an Goethe: „Madame Simonin-Pollet ist angekommen und hat mir Ihre Karte gebracht. Sie wird den 29. dieses ihr Konzert geben und wahrscheinlich guten Zuspruch haben. Künftigen Dienstag werde ich sie in die Singakademie führen“. Die Musikerin konzertierte nicht nur in Deutschland und Frankreich, sondern ab 1815 auch in Polen, Russland und Cohen zufolge auch in Italien. In Paris war sie als Harfenlehrerin sehr gefragt. Nach Sartori Enci und Bourligueux war sie Harfenistin der Kaiserin Josephine sowie des Königs Murat von Neapel. Auf ihren Programmen standen Werke von Haydn, Naderman, Vestris, Steibelt, Jean-Baptiste Cardon, Boieldieu sowie eigene Kompositionen. Teilweise spielte sie Klavierstimmen mit der Harfe.

Ihre Familienverhältnisse werden unterschiedlich angegeben. In Lexika des 19. Jahrhunderts (Fétis, Mendel) wird mitgeteilt, sie sei die Ehefrau des Gitarristen L. M. Pollet (ca. 1783–ca. 1830). Der New Grove gibt an, sie sei verheiratet mit dem Harfenisten, Komponisten und Musikverleger Jean-Joseph-Benoît Pollet (1753–1823); L. M. Pollet wäre demnach ihr Stiefsohn gewesen. Ein Sohn, Joseph Pollet (1803–1883), wurde später Organist und Kapellmeister an Notre Dame in Paris. Sein jüngerer Bruder wäre demnach der o. g. Carl (um 1806–?).

In Konzertkritiken wird Marie-Nicole Simonin-Pollet mit Zeitgenossinnen wie[ Caroline Longhi und Thérèse Demar verglichen: „An Kraft des Spiels steht sie wohl der Neapolitanerin [Caroline Longhi] nach, die wir voriges Jahr hier hörten, aber außerdem kann man sie dieser an die Seite stellen“ (Bertuch 1812, S. 190f.) „Sie [Simonin-Pollet] vereinigt das Gute der Demar und Longhi, und vermeidet deren Schwächen. Sie besitzt, z. B. gegen Erstere, einen ganz vollkommenen Triller, und gegen die zweite, ein ruhigeres Behandeln des Instruments, nicht bloß durch den Effect heftig gerissener Saiten imponiren zu wollen. Außerdem spielt sie die schwersten Clavier-Passagen mit beiden Händen gleich rund, macht die chromatische Tonleiter vollkommen rein, und eben so mehrere verminderte Septimenaccorde hintereinander. Etwas verliert zwar der Charakter der Harfe dabei, aber die Bewunderung steigt“ (Bertuch 1812, S. 398).

 

WERKE FÜR HARFE

Schule für die Harfe

Div. Stücke für Harfe

 

LITERATUR

Briefwechsel zwischen Goethe und Zelter, hrsg. von Max Hecker, 3 Bde., Bd. 1, 1799-1818, Frankfurt a. M. 1987.

AmZ 1812, Sp. 115f., 156, 253, 378, 771, 850; 1813, Sp. 53f., 115, 300, 380, 398, 400

Bertuch 1812, S. 190f., 397f., 834

Bock 1864, S. 103

Morgenblattt für gebildete Stände [Stuttgart u. Tübingen] 22. Apr. 1813

Neue Freie Presse [Wien] 13. Febr. 1883

Österreichischer Beobachter [Wien] 7. Nov. 1812

RGM 1864, S. 86; 1865, S. 3

Signale 1864, S. 268

Vossische Zeitung [Berlin] 25. Apr. 1812

Chor/Fay, Gathy, Schilling (Art. Pollet, zwei Brüder), Gaßner (Art. Pollet, zwei Brüder), Schla/Bern (Art. Pollet, Charles François Alexandre), Schla/Bern Nachtrag (Pollet, Marie Nicole), Paul, Mendel, Fétis

Illustriertes Konversationslexikon der Frau, 2 Bde., Bd. 2, Berlin 1900

Sartori Enci (Art. Pollet, Familie), New Grove 1 (Art. Pollet, Familie), Cohen, Hixon, MGG 2000 (Art. Pollet, Familie), New Grove 2001 (Art. Pollet, Familie)

Roslyn Rensch, Harps and Harpists, Bloomington, Indiana [u. a.] 1989.

Guy Bourligueux, „Les Organistes de Notre-Dame de Paris au XIXe siècle (Desprez, Blin & Pollet)“, in: Revue internationale de musique française, 6 (1985), S. 51–74.

Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, 2 Bde., Bd. 1, Wien 1869, Repr. Hildesheim [u. a.] 1979.

Alfred Dörffel, Geschichte der Gewandhausconcerte zu Leipzig vom 25. November 1781 bis 25. November 1881, Leipzig 1884, Repr. Walluf bei Wiesbaden 1972.

Arthur Elson, Woman’s Work in Music, Boston 1904, Repr. Portland, Maine 1976.

 

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