Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Müller, Elise (Maria)

* 15. Sept. 1782 in Bremen, † 30. Dez. 1849 ebd., Pianistin, Klavierlehrerin und Komponistin. Ihr Vater war der Domkantor, Musikschriftsteller und Pädagoge Wilhelm Christian Müller (1752–1831), der 1781 Maria Amalia geb. Buken (Buck) aus Kiel geheiratet hatte. Elise Müller wurde zusammen mit ihrem zwei Jahre jüngeren Bruder Adolph Wilhelm (1784–1811) vom Vater unterrichtet und konnte schon mit vier Jahren auf einem eigens für sie gefertigten Klavier spielen. Im Elternhaus fanden im Zeitraum von 1782 bis 1820 regelmäßig Konzerte statt, an denen die Kinder früh mitwirkten. Die Unterrichtsmethode Wilhelm Christian Müllers wird wie folgt beschrieben: „Er [ein Schüler von Wilhelm Christian Müller] ist anfänglich nur angehalten, immer vom Blat [sic] zu spielen, und sobald als möglich Bachische Werke. Nach dieser Methode führt er iezt seine eigenen Kinder, ein Mädchen von 7 auf dem Klavier, und einen Knaben von etwa 5 Jahren auf dem Violonzell an. Ich habe mit Entzüken einmal diese süße Szene gesehen, wie er zwischen seinen niedlichen Kindern saß und ein Trio von Pleyl spielte“ (Boßler 1790, S. 135f.).

Nach einem Unfall oder einer Erkrankung im Kindesalter konnte Elise Müller mehrere Jahre lang den Unterricht nicht fortsetzen, körperliche Schäden und Schmerzen blieben zeitlebens zurück. Ihre ersten öffentlichen Konzerte gab sie im Alter von etwa 10 Jahren. 1804 errichtete sie eine Erziehungs-Anstalt für Mädchen und unterrichtete dort Geographie, Geschichte, Musik sowie deutsche Grammatik, Französisch und Englisch. Neben ihrer pädagogischen Tätigkeit trat Elise Müller weiterhin öffentlich als Pianistin auf. 1807 schreibt die „Allgemeine musikalische Zeitung“: „Unter den Dilettanten zeichnen sich auf dem Pianoforte zwey Frauenzimmer aus, welche mehrmals in Konzerten gespielt haben; nämlich: Mad. Sengstacke [Christiane Grund, verh. Sengstackund Dem. Müller. Beyde spielen mit Leichtigkeit, Sicherheit und Ausdruck. Die echte Kunstliebhaberey der ersten hat ihrer Freundin einen wohlthätigen Impuls gegeben. Die letzte kann ihr Vorbild nicht wol erreichen, weil sie eine wissenschaftlich gebildete Lehrerin einer Töchterschule ist. Sie scheinen beyde vorzüglich an Mozarts und Beethovens herrlichsten Sachen zu hangen“ (AmZ 1807, Sp. 107).

1814 besuchte Wilhelm Christian Müller zusammen mit seiner Tochter Goethe in Wiesbaden. Einige Jahre später sandte Elise Müller Goethe – durch Vermittlung des befreundeten bremischen Schriftstellers Karl Iken – eigene Kompositionen zu. Karl Iken schrieb am 26. Mai 1817 an Goethe und empfahl ihm die „Kunstjüngerin an, in deren Namen ich ebenfalls zu reden mir vergönnt seyn mag – Jungfrau Elise Müller, die im Sommer 1814, nebst ihrem Vater, Dr. W. C. Müller, das Glück hatte, Ew. Excellenz in Wisbaden zu sprechen, und Ihnen gegenwärtig einige von ihren Compositionen vorlegt. Sie ist eine unserer ersten Pianofortespielerinnen und leistet sowohl in der Composition als im Spiel etwas Ungewöhnliches. In ihren Musikparthien, denen ich oft mit beiwohne, ist uns für die Musik Ludwig van Beethoven der Erste und Höchste“ (zit. nach Schulz, S. 114).

Im Jahre 1815 war Elise Müller zusammen mit ihrem Vater und dem Komponisten Wilhelm Friedrich Riem an der Gründung einer Singakademie in Bremen beteiligt. Bei den Familienkonzerten Wilhelm Christian Müllers spielten im ersten Teil die Mädchen aus Elise Müllers Erziehungsanstalt mit Unterstützung einiger Musikfreunde „leichtere musikalische Werke, die „sich bis zu Streichquartetten steigerten (Blum 1975, S. 66), und „Sonaten für vier Hände oder mit Violinbegleitung“ (AmZ 1819, Sp. 514). Möglicherweise unterrichtete Elise Müller auch Gesang, da ihre Schülerinnen bei den Familienkonzerten auch als Solosängerinnen auftraten.

1820 gab sie das Erziehungs-Institut aus gesundheitlichen Gründen auf. Gleichzeitig trat sie als Komponistin von Liedern das erste Mal öffentlich in Erscheinung. Elise Müller war eine große Verehrerin Beethovens. Bereits 1815 hatte sie einen Brief an den Komponisten geschrieben, woraufhin er Tochter und Vater zu sich einlud. Zu einem Besuch kam es jedoch erst im Rahmen ihrer gemeinsamen Bildungsreise nach Italien 1820/21, die gleichzeitig der Genesung Elise Müllers dienen sollte. Auf dieser Reise besuchten sie u. a. die Familie Streicher in Wien. Wilhelm Christian Müller schrieb in seinem Reisebericht: „Während E. [Elise] mit der genialen Nanette [Nanette Streicher] vierhändige Sachen spielt oder sich Charakterzüge vom hochverehrten Beethoven erzählen läßt, sitzen wir Alten im Sopha (W. C. Müller 1824, Bd. 1, S. 110). In Mödling bei Wien besuchten sie auf Wunsch Elise Müllers den bereits tauben Beethoven. „E. mußte etwas spielen schrieb Wilhelm Christian Müller. „Er fragte sie, ob sie nicht komponire? (ebd., S. 134). Dass Beethovens Albumblatt für Elise ihr gewidmet ist, gilt als unwahrscheinlich. Nach dem Besuch entspann sich eine Korrespondenz zwischen den Müllers und Beethoven, die Elise Müller verwahrte.

Nach ihrer Rückkehr unterrichtete sie nur noch vereinzelt. 1833 konnte sie aufgrund eines „seltsamen Uebels (Brief an Karl August Varnhagen von Ense vom 9. Sept. 1833) in den Händen kaum noch Klavier spielen. 1841 schrieb sie an denselben: „Ich will heute nach 10 Jahren einmal wieder mit Freunden ein Trio eins vom Prinzen L. F. [Louis Ferdinand] wie ich es nehml. mit. m. schwachen Händen zu Ende bringe (Brief an Karl August Varnhagen von Ense vom 19. Mai 1841).

1837 hatte ihr Robert Schumann editorischen Beistand bei der Veröffentlichung einiger Lieder geleistet. In den folgenden Jahren schickte sie ihm mehrere Briefe, denen Kompositionen beilagen, jedoch ohne jemals eine persönliche Antwort zu erhalten. 1840 begegnete sie Clara Wieck (Clara Schumann), die in Bremen konzertierte. Zwei Jahre später machte sie persönlich Bekanntschaft mit Robert Schumann, der Bremen im Febr. 1842 besuchte. Er notierte in seinem Tagebuch: „Elise Müller, ein Original wie es scheint. Einige Worte mit ihr gewechselt (zit. nach Appel, S. 48).

Kurz vor ihrem Tod 1849 schrieb sie – in Anspielung auf die deutschen Revolutionswirren – ihrem Freund Karl August Varnhagen von Ense: „Ein Glück für mich ist die Musik, durch welche ich mich zuweilen berausche, indem ich ihre begeisternden Tränke in mich aufnehme. Ich mache es dabei wie die Zecher von Profession, u. vergesse auf Stunden die tiefe Trübsal, in welche der trostlose Zustand unseres Vaterlandes mich leben läßt“ (Brief vom 10. Okt. 1849).

Das Repertoire von Elise Müller umfasste Werke von Beethoven, Friedrich Wilhelm Riem, Louis Ferdinand, Mozart, Anton Halm und Joh. Nepomuk Hummel. Sie konzertierte häufig zusammen mit ihrem Vater oder mit Friedrich Wilhelm Riem. Das Musikleben Bremens hat sie entscheidend mitgeprägt. Wilhelm Christian Müller schreibt über Elise Müller:[Sie] hat als Leiterin der Töchter-Erziehungs-Anstalt, als ausgezeichnete Pianoforte-Spielerin Beethoven’scher Werke und Lehrerin von sehr vielen Pianoforte-Schülerinnen, als erste Gehülfin bei Errichtung der Singakademie, und Tondichterin von vielen zum Theil gedruckten Liedern und genialen Variationen bedeutenden Einfluß auf die vermehrte Musikliebe in Bremen gehabt (W. C. Müller 1830,  S. 276f. ). Und Friedrich Wellmann äußert sich Jahre später wie folgt: „Elise Müller ist später neben der berühmten Madame Sengstake die beste Klavierspielerin Bremens gewesen, […] und [hat] durch ihre Vorliebe für Beethoven viel zur Hebung des guten Musikgeschmackes in Bremen beigetragen. Viele Kenner schätzten ihr Spiel sogar höher als das der Sengstake, weil es tiefer und seelenvoller sei (Wellmann 1914, S. 134f.).

 

LITERATUR

Elise Müller u. Karl August Varnhagen von Ense, Anklang, den Herzliches findet im Herzen des Andern’. Briefwechsel von 1833 bis 1850, in: Makkaroni und Geistesspeise, hrsg. von Nikolaus Gatter (= Almanach der Varnhagen Gesellschaft 2), Berlin 2002, S. 48–104.

AmZ 1807/08, Sp. 107; 1815, Sp. 361, 363; 1819, Sp. 514f.; 1822, Sp. 229; 1825, Sp. 511

Boßler 1790, Sp. 135f.

Gathy, Mendel, Fétis, Cohen, MGG 2000

Wilhelm Christian Müller, Aesthetisch-historische Einleitungen in die Wissenschaft der Tonkunst, 2 Bde., Bd. 1, Leipzig 1830.

Wilhelm Christian Müller, Briefe an deutsche Freunde von einer Reise durch Italien über Sachsen, Böhmen und Oestreich 1820 und 1821, 2 Bde., Altona 1824.

Carl Wilhelm August Otto von Schindel, Die deutschen Schriftstellerinnen des 19. Jahrhunderts, 3 Bde., Bd. 2, Leipzig 1823–1825, Repr. Hildesheim [u. a.] 1978.

Alfred Chr. Kalischer, Beethoven und seine Zeitgenossen, 4 Bde., Bd. 3: Beethovens Frauenkreis, 2. Teil, Berlin [u. a.] o. J. [1910]

Friedrich Wellmann, „Das Privatinstitut des Dr. W. C. Müller in Bremen, in: Bremisches Jahrbuch 23 (1911), S. 172–196.

Friedrich Wellmann, „Der bremische Domkantor Dr. Wilhelm Christian Müller“, in: Bremisches Jahrbuch 25 (1914), S. 1–137.

Hermann A. Schumacher, „Magister Müllers letzte Schrift. Ein bremisches Kuriuosum, in: Bremisches Jahrbuch 39 (1940), S. 116–137.

Hermann Tardel, „Wilhelm Christian Müller bei Goethe in: Bremisches Jahrbuch 41 (1944), S. 305–315.

Klaus Blum, „Musikleben in Bremen, in: Geistiges Bremen, hrsg. von Alfred Faust, Bremen 1960, S. 177–206.

Günter Schulz, „Carl Ludwig Ikens Briefe an Goethe (1817–1830), in: Jahrbuch der Wittheit Bremen 1971, S. 105–207.

Klaus Blum, Musikfreunde und Musici. Musikleben in Bremen seit der Aufklärung, Tutzing 1975.

Anton Schindler, Biografie von Ludwig Van Beethoven, Leipzig 1977.

Freia Hoffmann, Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1991.

Sybilla Bösenberg, Der Bremer Dichter J. H. Menke und die Musikerin  Elise Müller, in: Zeitschrift für Niederdeutsche Familienkunde 75 (2000), S. 121–124.

Bernhard R. Appel, „Robert Schumann und die Komponistin Elise Müller, in: „Neue Bahnen. Robert Schumann und seine musikalischen Zeitgenossen, hrsg. von Bernhard R. Appel, Mainz 2002, S. 41–57.

Sibylla Bösenberg, „Elise Müllers Lebensgang, in: Makkaroni und Geistesspeise, hrsg. von Nikolaus Gatter (= Almanach der Varnhagen Gesellschaft 2), Berlin 2002, S. 41–47.

Claudia Schweitzer, „… ist übrigens als Lehrerinn höchst empfehlungswürdig“. Kulturgeschichte der Clavierlehrerin (= Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts 6), Oldenburg 2008.

Sibylla Bösenberg, Ein Glück für mich ist die Musik. Elise Müller, eine Bremer Musikerin aus der Zeit der Romantik, Bremen 2014.

Freia Hoffmann, „Die Pädagogin, Pianistin und Komponistin Elise Müller und der wiederentdeckte „Plan einer weiblichen Lehr- und Erziehungsanstalt“ von Wilhelm Christian Müller",  in: Musikerinnen und ihre Netzwerke im 19. Jahrhundert, hrsg. von Annkatrin Babbe u. Volker Timmermann (= Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts 12), Oldenburg 2016, S. 203–223.

 

Anja Herold

 

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