Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Meller, Clara, verh. Kretzschmar

* 3. Febr. 1855 in Bristol, † 6. Mai 1903 in Leipzig, Pianistin. Ihr Vater William Meller war Gerichtsbeamter in Bristol. Vom 17. Mai 1871 bis Ostern 1873 war Clara Meller am Konservatorium in Leipzig eingeschrieben und wurde dort von Carl Reinecke (1824–1910), Robert Papperitz (1826–1898) und Oscar Paul (1826–1903) unterrichtet. Ihr Nachruf in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ nennt sie eine Pianistin aus der Schule Reineckes und Liszts (NZfM 1903, S. 306), ein persönlicher Kontakt zu Liszt ist indes nicht nachweisbar. In den Jahren 1872 bis 1876, also noch über ihre Einschreibungsfrist hinaus, wird Clara Meller regelmäßig in den Prüfungsberichten der „Signale für die musikalische Welt“ und der „Neuen Zeitschrift für Musik“ erwähnt. Nach einem Konzert in Bristol, das sie am 10. Dez. 1873 mit dem Violinisten Alexander Kummer gab, debütierte sie in Deutschland am 27. Febr. 1877 mit dem 4. Klavierkonzert G-Dur von Beethoven im Leipziger Euterpekonzert. Den „Signalen“ zufolge bewältigte die Musikerin das Beethoven-Konzert „besonders nach technischer Seite hin in sehr anerkennungswerther Weise; dann gab sie noch das Notturno in Desdur Op. 27 No. 2 und den Walzer in Asdur Op. 42 von Chopin zu hören, und brachte diese Sachen in allewege vollgenügender zur Geltung als das Beethoven’sche Concert. Ueberhaupt bewies sie, daß sie auf dem besten Wege zur tüchtigen und eine gute Zukunft verheißenden Clavier-Künstlerschaft ist“ (Signale 1877, S. 275). Die „Neue Zeitschrift für Musik“ urteilte ähnlich. Obwohl „wesentlich technische Ausstellungen auch diese Reproduction nicht beeinträchtigten“ (NZfM 1877, S. 170), fehle doch die „Ausbildung der inneren, künstlerischen Natur“, die bei diesem Konzert notwendig sei, „das von allen Concerten in gewissem Sinne das schwierigste [sei], weil es zur Aufdeckung seiner reichen Phantastik und seines zarten, maienduftigen Inhalts einer ebenso selbstständigen als poesievollen Auffassung bedarf“ (ebd.). Englische Blätter meldeten hingegen ein „successful debût (MusT 1877, S. 186) und „thoroughly excellent performance“ (Monthly Musical Record 1877, S. 61).

Im Lauf des Jahres 1877 sammelte Clara Meller Konzerterfahrung mit einer Gruppe von MusikerInnen, die der Konzertunternehmer Julius Hoffmann für eine Tournee zusammengestellt hatte und in der u. a. die Sängerinnen Minna Peschka-Leutner und Luise Dustmann sowie Paul Klengel als Geiger mitwirkten. Auftritte sind in Leiden, Deventer, Leeuwarden, Göttingen, Leipzig, Breslau, Chemnitz, Dresden, Kiel, Stralsund, Thorn und Stettin nachgewiesen. Die deutschsprachige Presse reagierte gemischt, während in England wiederum Erfolge verbucht wurden: „The journée [sic] was a most successful one, and the artists are spoken of in most flattering terms by the local Press wherever they went“ (MusT 1877, S. 294.).

Von 1878 an konzentrierte sich Clara Meller auf solistische Auftritte, beginnend mit der Aufführung eines nicht näher bezeichneten Klavierkonzertes von Saint-Saëns in Magdeburg: „Frl. Meller hat sich durch den virtuosenhaften, feurigen und festen Vortrag dieses sehr schwierigen Stückes mit Ruhm bedeckt; ihre außerordentliche Fertigkeit und Ausdauer trat auch in dem großen Walzer von Rubinstein und Liszt’s ‚Waldesrauschen‘ hervor; Chopin’s Desdurnotturno spielte die junge Künstlerin mit vieler Empfindung“ (NZfM 1878, S. 95). In Leipzig folgte im Konzert des Gesangvereins Arion das Klavierkonzert a-Moll von Robert Schumann.

Am 23. Okt. 1878 trat Clara Meller erstmals im Konzertverein Rostock auf, um unter Leitung von Hermann Kretzschmar dort ebenfalls das Schumann-Konzert aufzuführen. 1880 heiratete sie den in Rostock seit 1877 als Universitätsmusikdirektor amtierenden Hermann Kretzschmar (1848–1924) und wirkte in der Folge in vielen seiner Konzerte mit, z. B. am 25. März 1884 mit der Aufführung des 2. Klavierkonzertes B-Dur von Brahms und am 25. März 1887 mit dem 1. Klavierkonzert e-Moll von Chopin sowie der Fantasie über ungarische Volksmelodien von Liszt. 1887 übernahm Kretzschmar das Amt des Universitätsmusikdirektors in Leipzig, „wo er in der Folgezeit das Musikleben der Stadt als Dirigent des Riedel-Vereins (1888–1898) sowie als Gründer und Leiter der Akadem. Orchesterkonzerte (1890–1895) künstlerisch [...] und organisatorisch maßgeblich prägte (MGG 2000, Art.Kretzschmar, Hermann ). Auch Clara Kretzschmar war in den folgenden Jahren in den Akademischen Orchesterkonzerten, im Universitäts-Singverein, in den Gewandhauskonzerten und in Veranstaltungen des Lehrergesangvereins präsent. Am 19. Febr. 1889 spielte sie wiederum die Fantasie über ungarische Volksmelodien von Liszt, am 10. März 1891 das 2. Klavierkonzert B-Dur von Brahms, am 15. Jan. 1892 das 2. Konzert g-Moll von Saint-Saëns, am 7. Nov. 1893 wirkte sie in Joh. Seb. Bachs Konzert für drei Klaviere C-Dur BWV 1064 mit, und am 14. Febr. 1895 war sie die Solistin im Konzert fis-Moll von Hans von Bronsart. 1896 gab es wieder Gelegenheit zum Zusammenspiel mit Paul Klengel, der diesmal als Pianist auftrat und mit Clara Kretzschmar ein Rondo von Chopin und Ungarische Tänze von Brahms auf zwei Flügeln interpretierte. Ein kammermusikalischer Höhepunkt war zweifellos ihr Zusammenwirken mit dem Böhmischen Streichquartett am 13. Apr. 1896 (Klavierquintett Es-Dur op. 44 von Schumann).

Auswärtige Auftritte fanden am 13. Juni 1889 in Zittau (Saint-Saëns, Chopin, Godard) und 1895 in Zwickau statt, wo Clara Kretzschmar das Konzert e-Moll von Chopin musizierte und nochmals eine Würdigung als Pianistin erhielt, die „durch den bezaubernden Anschlag, die technische Machtvollkommenheit, die wohldurchdachte Temponahme, kurz durch die geistvolle Interpretation Erstaunen und Aufsehen erregte. Mit höchster Anmuth brachte sie noch Solostücke von S. Bach und A. Henselt zur Ausführung (NZfM 1895, S 432).

Am 6. Mai 1903 starb Clara Kretzschmar überraschend mit 48 Jahren. Ihre Ehe mit Hermann Kretzschmar war kinderlos geblieben.

 

LITERATUR

Schreiben von Dr. Dietmar Schenk, Archiv der Universität für Künste Berlin, vom 5. u. 11. Febr. 2014 an die Verf.

Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, Bibliothek/Archiv: Protokolle der Privat-Prüfungen Michaelis 1871, Signatur: A, II.1/3, http://digital.slub-dresden.de/werkansicht/dlf/17991/1/cache.off, Zugriff am 3. Febr. 2014.

AmZ 1877, Sp. 190, 204, 206; 1878, Sp. 93f.

CaeciliaNL 15. Febr. 1877, S. 36f., 152

FritzschMW 1876, S. 299, 369, 672; 1877, S. 160, 271, 615; 1878, S. 73, 315, 403, 428, 450, 476; 1889, 26. Dez., S. 3f.; 1890, S. 18; 1891, S. 155, 167, 580; 1892, S. 84, 108; 1893, S. 587, 597, 606, 652; 1896, S. 214, 226

Der Klavier-Lehrer 1893, S. 289

Leipziger Zeitung 1877, S. 114, 223

The Monthly Musical Record 1876, S. 108, 125; 1877, S. 61, 189; 1878, S. 47; 1895, S. 7; 1903, S. 118

Musica e Musicisti 1903, S. 547

Musical Opinion and Music Trade Review 1880, Okt., S. [38]

Musical Standard 1873 II, S. 375; 1893 II, S. 409

MusT 1874, Jan., S. 343; 1877, Febr., S. 80, Apr., S. 186, Juni, S. 294

NZfM 1872, S. 212; 1873, S. 288; 1876, S. 261, 278, 291; 1877, S. 85, 170, 498, 534; 1878, S. 51, 95105, 257, 285, 489; 1884, S. 226; 1889, S. 309; 1892, S. 88; 1893, S. 480; 1894, S. 39, 549; 1895, S. 125432; 1896, S. 219; 1903, S. 306

Prager Abendblatt 1891, 20., 21. Febr.

Signale 1872, S. 401; 1873, S. 402; 1876, S. 786; 1877, S. 275, 313, 424, 935, 955, 967; 1878, S. 147, 227, 704, 716; 1889, S. 229; 1891, S. 371; 1893, S. 817; 1894, S. 963; 1895, S. 163

MGG 2000 (Art. Kretzschmar, Hermann)

Eberhard Creuzburg, Die Gewandhauskonzerte zu Leipzig 1781–1931, Leipzig 1931.

Hermann Abert, „Zum Gedächtnis Hermann Kretzschmars, in: Ders., Gesammelte Schriften und Vorträge, hrsg. von Friedrich Blume, Tutzing 1968, S. 527–547.

Helmut Loos u. Rainer Cadenbach (Hrsg.), Hermann Kretzschmar. Konferenzbericht Olbernhau 1998, Chemnitz 1998.

Dietmar Schenk, Die Hochschule für Musik zu Berlin. Preußens Konservatorium zwischen romantischem Klassizismus und Neuer Musik. 1869–1932/33, Stuttgart 2004.

Gerhard Puls, Ohne Musik wäre das Leben ein Irrtum (Friedrich Nietzsche). Die Geschichte des Rostocker Musikvereins, Rostock 2007.

Walter Frisch u. Kevin C. Karnes, Brahms and his World, überarbeitete Neuauflage Princeton/NJ 2009.

 

Freia Hoffmann

 

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