Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Gräver, Graever, Graver, Madeleine (eig. Johanna Magdalena), Madelaine, Johanna Magdalena,verh. Johnson-Gräver, Johnson-Graever, Johnson-Graver

* 8. März 1829 in Amsterdam, † nach 1872 (Ort unbekannt), Pianistin, Musiklehrerin und Komponistin. Johanna Madeleine Gräver kam als jüngste von mehreren Töchtern des Buchhalters Carl August Wilhelm Gräver (um 1782–1850) und dessen Ehefrau Engelina geb. Folkers (1789–1865) zur Welt. Von den Schwestern sind namentlich Catharina Mariana Engelina (1811–?), Jeanette Carolina (1813–?), Helena Theodora (1814–?), Albertina (1820–?) und Francoise Jeanne Antoinette (um 1821–1829) bekannt.

Eine umfassende musikalische Ausbildung erhielt sie zunächst von Jan Georg Bertelman (1782–1854) und später von David Koning (1820–1876). Klavierunterricht erteilten ihr darüber hinaus Ignaz Moscheles (1794–1870) sowie Henry Charles Litolff (1818–1891). 1842 wurde Liszt auf die 13-Jährige aufmerksam und sagte ihr eine große Zukunft als Pianistin voraus (NZfM 1867, S. 40).

Madeleine Grävers erster öffentlicher Auftritt erfolgte am 21. Jan. 1848. Sie spielte das Klavierkonzert Nr. 2 a-Moll op. 85 von Hummel sowie ein Adagio und Rondo von Kuhlau. Letztere führte sie zusammen mit dem Flötisten Hermann Boom auf. Es folgten weitere Auftritte in Amsterdam.

Um 1851 lebte Madeleine Gräver mit ihren Schwestern Engelina und Albertina sowie der Mutter zusammen in Amsterdam, bevor sie im Alter von 23 Jahren ihre erste Konzertreise antrat, die sie zunächst nach Paris führte. Anfang des Jahres hatte sie hier ihren ersten öffentlichen Auftritt in der Salle Herz. Kurz darauf folgte ein Konzert vor geladenem Publikum in der Salle Érard. Die „Revue et Gazette Musicale“ ist voll des Lobes: „Mlle. Graever a été, devant un public payant, ce qu'elle s'était montrée chez M. Erard en présence d'auditeurs invités, pianiste au jeu net, ferme, vigoureux et brillant. Elle ne se spécialise pas dans sa manière de jouer du piano, et dit bien également les œuvres classiques et les productions modernes, depuis la vieille sonate de Mozart jusqu'au galop chromatique de Liszt, qu'elle a joué avec une vélocité, une fougue, un brio digne de rivaliser celui de l'auteur“ („Mlle. Graever zeigte sich bei M. Erard einem geladenen Publikum als eine Pianistin mit einem klaren, festen, kräftigen und brillanten Spiel. Sie hat sich mit ihrem Klavierspiel nicht spezialisiert, sondern spielt sowohl klassische als auch moderne Werke, von der alten Mozart-Sonate bis zum chromatischen Galopp von Liszt, den sie mit einer Geschwindigkeit, einem Schwung und einer Brillanz spielte, die der des Komponisten in nichts nachsteht“, RGM 1851, S. 37). 1852 und 1853 fanden weitere Auftritte von Madeleine Gräver in Paris statt, dokumentiert sind weitere Auftritte in der Salle Herz. Ebenfalls 1853 reiste die Pianistin nach London. Hier heiratete sie zwei Jahre später, am 26. Juni 1856, den Kaufmann Samuel Johnson (1833–?) und ging mit ihm nach New York. In den folgenden Jahren wurden mehrere Kinder geboren, bekannt sind: Annie Madeleine (1856–?), Samuel Robert (1858–1858), der im Alter von vier Monaten an Cholera verstorben ist, Samuel (um 1860–?) und Robert (um 1866–?). In New York setzte Madeleine Johnson-Gräver ihre Konzerttätigkeit fort. Nach ihrem Debüt in Niblo’s Saloon am 8. Dez. 1857 ließ sie sich mehrfach in der Stadt hören. Auf ihren Programmen standen u. a. ein Klavierkonzert ihres Lehrers Litolff – Concerto Symphonique Nr. 3 E-Dur op. 45 – , dessen Trio d-Moll op. 47, Mendelssohns Konzert Nr. 1 g-Moll op. 25 und Fantasien von Liszt. Daneben erteilte sie Klavierunterricht.

Im Frühjahr 1862 kehrte die Familie nach Europa zurück. In der Wintersaison 1862/1863 gastierte Madeleine Johnson-Gräver wiederum in Paris und trat hier u. a. in den Salons Érard auf. Im Febr. 1863 veranstaltete sie ein Solokonzert mit Orchester im großen Saal des Hôtel du Louvre; das Dirigat hatte ihr ehemaliger Lehrer Henry Charles Litolff übernommen. Im Zentrum des Konzerts stand wiederum Litolffs Konzert Nr. 3. Ein weiteres Orchesterkonzert in dieser Besetzung folgte im März 1863, gespielt wurde Mendelssohns Klavierkonzert Nr. 2. Im Apr. kehrte die Pianistin in die Niederlande zurück. In einem Konzert der Sozietät Felix Meritis spielte sie vor der Königin Sophie von Württemberg (1818–1877), der Frau von Wilhelm Prinz von Oranien, und wurde von selbiger zur Hofpianistin ernannt. Kurz darauf trat sie eine Konzertreise durch Europa an, die sie u. a. in die Niederlande, nach Belgien und schließlich auch nach Deutschland führte. Im Juni gastierte sie in Wiesbaden und ließ sich u. a. im Kursaal mit Litolffs dritten Klavierkonzert und Liszts Tarantelle hören.

Nach Auftritten in Brüssel, Antwerpen und Hamburg begab sie sich im Herbst nach Kopenhagen und Stockholm (Bock 1863, S. 351). Für 1866 kündigen verschiedene Blätter eine Reise durch Deutschland und Russland an. In den 1860er Jahren sind zahlreihe Auftritte in Deutschland dokumentiert. So konzertierte die Pianistin unter anderem in Berlin, Leipzig, Aachen, Köln, Wiesbaden, Mainz, Kassel, Bremen und Hamburg. Das Repertoire der Pianistin umfasste insbesondere Werke von Litolff, Mendelssohn, Chopin, Hummel, Liszt und Taubert. Daneben brachte sie jedoch auch eigene Kompositionen zur Aufführung. Die „Revue et Gazette Musicale“ notiert dazu: „Mme Madeleine Graever, l'éminente pianiste qui a compté de si beaux succès à Paris, a fait entendre dernièrement plusieurs morceaux de piano de sa composition, qui sont tout simplement de petits chefs-d'œuvre, et dont un éditeur s'est empressé de s'emparer“ („Frau Madeleine Gräver, die hervorragende Pianistin, die in Paris so große Erfolge gefeiert hat, spielte kürzlich mehrere von ihr komponierte Klavierstücke vor, die schlichtweg kleine Meisterwerke sind und von einem Verleger eilfertig in Besitz genommen wurden“, RGM 1865, S. 383). Auch in der „Süddeutschen Musik-Zeitung“ äußert ein Korrespondent anerkennend, die Kompositionen Grävers würden „durch ihre Frische und Originalität, sowie durch elegante Form und reichen Harmoniewechsel bezaubern“ (Süddeutsche Musik-Zeitung 1865, S. 200).

Die Meinungen über Madeleine Johnson-Grävers Fertigkeiten als Pianistin waren geteilt. So wird sie in den „Signalen für die musikalische Welt“ als „eine gewandte und fingerfertige Pianistin“ (Signale 1866, S. 828) bewertet, deren „Verve im Rhythmischen, Kraft und Eleganz […] sie vor vielen“ (AmZ 1867, S. 34) auszeichne. In der „Neuen Berliner Musikzeitung" wird zudem auf „eine glänzende Technik, verbunden mit schönem Anschlag und verständnisvoller Wiedergabe“ (Bock 1867, S. 97) verwiesen. Ein Rezensent der „Neuen Zeitschrift für Musik“ bestätigt ihr darüber hinaus eine „lebendige Auffassung und feine Ausgestaltung des Details“ (NZfM 1867, S. 40). Dagegen sieht ein Rezensent der Zeitschrift „Signale für die musikalische Welt“ in ihrem Spiel „viel […] Hastiges, Unruhig-Nervöses und wie aus Schlaffheit und Mattigkeit sich nur schwer Aufraffen-Könnens, so daß wir fast an eine körperliche Indisposition zu glauben geneigt sind“ (Signale 1867, S. 221). Er wirft der Pianistin zudem einen „Mangel an Sauberkeit und Correctheit“ (ebd.) vor. Nach einem Konzert im Jahr 1867 in Leipzig wird daneben auf „eine Unsicherheit der linken Hand in den Oktavgängen, deren viele missglückten“ (AmZ 1867, S. 75) aufmerksam gemacht.

Mancherorts bringen Kritiker auch offen geschlechterstereotype Vorurteile zum Ausdruck. So heißt es nach einem Konzert der Pianistin in Bremen im Jahr 1867: „Frau Johnson-Gräver spielte mit einer großen Bravour, liess es auch andererseits an feiner Nuancierung nicht fehlen, und doch kann man den Eindruck, welchen dieses Spiel hervorbringt, nicht unbedingt schön nennen. Es liegt etwas forciert Gewaltiges darin, was besonders mit einer weiblichen Erscheinung nicht gut in Einklang zu bringen ist“ (AmZ 1867, S. 210). Auch bei anderer Gelegenheit wird die Musikerin als „eine mit männlicher Kraft begabte Pianistin [beschrieben], […] gut musikalisch, nur mitunter etwas ungestüm im Spiel“ (AmZ 1867, S. 170).

1870 ging die Pianistin nach London. Die „Revue et Gazette Musicale“ berichtet: „Mme Madeleine Johnson-Graever, la célèbre pianiste, vient d‘arriver ici, et a été aussitôt mandeé par la princesse de Galles, qui aime beaucoup son talent; elle a joué, comme elle sait le faire, devant Son Altesse Royale, les principales œuvres de son vaste répertoire“ („Die berühmte Pianistin Madeleine Johnson-Graever ist gerade hier angekommen und wurde von der Prinzessin von Wales, die ihr Talent sehr schätzt, sofort gebeten, vor Ihrer Königlichen Hoheit die wichtigsten Werke aus ihrem umfangreichen Repertoire zu spielen, wie sie es gewohnt ist“, RGM 1870, S. 197).

Bis 1872 sind Auftritte der Pianistin in England dokumentiert. Offenbar ließ sie sich hier aber vor allem im halböffentlichen Rahmen musikalischer Gesellschaften hören, die keine Medien-Resonanz fanden.

 

KOMPOSITIONEN FÜR KLAVIER

Lieder ohne Worte, o. J.; Sechs Tondichtungen (Ich hab im Traum geweinet; Heimkehr; Wiegenlied; Feenreigen; Die Freundschaft; Herzensklage) op. 6, Amsterdam 1865; Allegro giocoso, Caprice op. 7, Rotterdam 1868; Romance sans paroles op. 7a, Paris 1868; Grand Caprice de Concert op. 8; Souvenez vous op. 11, Den Haag 1870; Petit Voyage Schevenigue op. 12, Den Haag 1870; Le Retour du Chasseur op. 13, Den Haag 1870; Liebeslied op. 14, Den Haag 1871; Feuilles d’Album op. 16, Den Haag 1871; L’Attente, Paris o. J.; Souvenir de bonheur, Paris o. J.; Le Réveil de Printemps; La Ronde des Fantômes; La Chasse

 

LITERATUR

Geburtenregister Amsterdam, Noord-Holland, 1811–1950, Noord-Hollands Archives, Harleem, Signatur FHL 113,555.

Algemeen Handelsblad [Amsterdam] 1863, 21. Apr.; 1864, 8. März; 1866, 23. März

AmZ 1864, Sp. 405; 1867, S. 34, 75, 123, 160f., 170, 210

Bock 1867, S. 97

Athenæum 1853, S. 507; 1854, S. 596; 1871, S. 793

Bock 1863, S. 237; 1867, S. 97, 108

Caecilia 1848, S. 33f.

Dagblad van Zuidholland en ’s Gravenhage 1863, 29. Dez.; 1864, 19. Febr., 12. März, 25. Juni; 1869, 10. Juli, 12. Nov.

Dwight’s Journal of Music 1857, S. 306; 1858, S. 324

FritzschMW 1863, S. 60

Leipziger Tageblatt und Anzeiger 23.02.1867

Le Monde Illustré 1863, S. 196

The Musical Gazette 1857, S. 258

Musical Standard 1871, S. 90; 1872, S. 327

MusW 1854, S. 77, 100, 128, 167, 314; 1857, S. 290, 332, 770; 1864, S. 37; 1867, S. 5, 234

NZfM 1859 II, S. 36; 1866, S. 230, 410, 427, 447, 1867 I, S. 40, 70, 87f., 98, 103, 126, 134, 167

New York Herald 1857, 2. Dez.

New York Times 12. Mai 1858

Niederrheinische Musik-Zeitung 1866, S. 383

Nieuw Dagblad van ’s Gravenhage 11. Dez. 1863

Review and Gazette 1857, S. 387

RGM 1851, 36f., 358, 391, 411; 1852, S. 132f.; 1853, S. [33], 70, 111, 160; 1862, S. 126, 146, 350, 390, 406, 422; 1863, S. 30, 38, 51f., 62, 78, 88, 94, 107f., 119, 134, 150, 182, 222, 334, 358; 1865, S. 31, 383, 390; 1866, S. 110, 127; 1869, S. 223; 1870, S. 197

Signale 1852, S. 236; 1863, S. 514; 1866, S. 824, 828, 881, 913; 1867, S. 96, 112, 221, 225, 256, 333, 366, 484

Süddeutsche Musik-Zeitung 1865, S. 200

Mendel, Brown Bio, Cohen

Henry Edward Krehbiel. The Philharmonic Society of New York. A Memorial, New York u. London 1892.

Vera Brodsky Lawrence, Strong on Music. The New York Music Scene in the Days of George Templeton Strong, 3 Bde., Bd. 3: Repercussions 1857–1862, Chicago u. London, 1999.

Helen Metzelaar, From private to public spheres: exploring women's role in Dutch musical life from c. 1700 to c. 1880 and three case studies, Utrecht 1999.

Helen Metzelaar, Art. „Gräver, Johanna Magdalena“, in: Digitaal Vrouwenlexicon van Nederland, http://resources.huygens.knaw.nl/vrouwenlexicon/lemmata/data/Graever, Zugriff am 25. Aug. 2022.

 

Bildnachweis

Lithographie nach einer Photographie von Pierre Petit, Le monde illustré 1863, S. 196

 

Annkatrin Babbe / Regina Ritsch

 

© 2011/2022 Freia Hoffmann