Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Genlis, Stéphanie-Félicité, geb. du Crest de Saint-Aubin, Du Crest de Saint-Aubin

* 25. Jan. 1746 in Champcéri bei Autun, † 31. Dez. 1834 in Paris, Harfenistin, Cembalistin. Daneben spielte sie Gitarre, Hackbrett, Musette, Pardessus de viole, Mandoline, Tympanon (eine antike Handtrommel) und komponierte. Stéphanie-Félicité du Crest entstammte einer alten verarmten Adelsfamilie. Ihre Eltern waren Félicité Mauguet de Mézières (1717–1790) und Pierre César du Crest de Saint-Aubin (1711–1763). Sie hatte einen Bruder, Charles Louis du Crest de Saint Aubin (1747–1824). Von Marie-Françoise de Mars in Saint-Aubin, den Ländereien ihres Vaters, erzogen, beschäftigte sich das junge Mädchen hauptsächlich mit Religion, Cembalospiel, Gesang und Theaterstücken.

 

Gemälde von Adelaide Labille-Guillard (1749–1803).

 

Nach Verlust des Familienvermögens nutzte Stéphanie-Félicité du Crest ihre künstlerischen Fertigkeiten und ihre Ausstrahlung bei Auftritten in den Pariser Salons. So verkehrte sie regelmäßig beim Prinzen von Conti und unterhielt rege Kontakte zu dem Musikmäzen Alexandre-Jean-Joseph Le Riche de la Pouplinière, bei dem sie und ihre Mutter einige Zeit lebten. Hier traf sie auch auf den Harfenisten Georg-Adam Gaiffre (1727–1808), der sie im Spiel auf seinem Instrument unterwies.

Am 8. Nov. 1762 verheiratete sich die junge Frau mit dem Comte Charles Brillart de Genlis. Mit großem Ehrgeiz suchte sie ihre bis dahin eher oberflächliche Bildung zu vertiefen: Sie lernte Italienisch, Englisch und Deutsch, zeichnete, malte und übte sich im Spiel auf den unterschiedlichsten Instrumenten. Das tägliche Arbeitspensum betrug angeblich mindestens 10 Stunden. Ihr Lieblingsinstrument war die Harfe, für die sie bald – mangels Repertoire – Cembalowerke adaptierte. So spielte sie mit Vorliebe Kompositionen von Mondonville, Rameau und Händel. Schilling berichtet, dass „in ihrem Instrumentalspiele durchgehends eine höchst anziehende Leichtigkeit und überraschende Eleganz“ herrsche.

Durch die Heirat war Stéphanie-Félicité de Genlis Nichte von Mad. de Montesson, der Maîtresse des Herzogs von Orléans, geworden. Durch diese Beziehung gelang es ihr 1777, zur Erzieherin der Kinder des Herzogs – Louis Philippe Joseph, genannt Philippe Égalité, und Adélaïde de Bourbon-Penthièvre – ernannt zu werden. Ihre Stellung war damit sehr einflussreich, sie führte ihren eigenen Salon und veranstaltete regelmäßig Privatkonzerte, bei denen sie selbst auftrat.

Es verwundert nicht, dass eine Frau in dieser Position umstritten war. So wurde sie als leichtlebig und extrem ehrgeizig beschrieben. Spöttisch heißt es in den Memoiren der Baroness d’Oberkirch: „One of the great follies of this masculine woman is her harp; she carries it about with her. She speaks of it when it is not near – she plays upon a crust of bread, and practises with a piece of packthread. When she perceives that anybody is looking at her, she rounds her arm, pinches up her mouth, assumes a sentimental look and attitude, and begins to move her fingers. What a charming quality is simplicity of character!” (Oberkirch, Bd. 1, S. 245).

Während der Revolution reiste Mad. de Genlis durch England, Belgien und Deutschland. Erst im Jahr 1800 kehrte sie nach Paris zurück, wo Napoleon ihr eine Pension zusprach. Sie starb am 31. Dez. 1834.

Als äußerst produktive Schriftstellerin hielt Stéphanie-Félicité de Genlis auch ihre pädagogischen Konzepte sowie Ideen zur musikalischen Erziehung schriftlich fest. Ihre 1802 gedruckte „Méthode de harpe“ widmete sie ihrem Schüler Casimir Baecker (1790–1864), den sie aus Berlin mitgebracht hatte und zu einem berühmten Harfenvirtuosen ausbilden wollte. Die Schule, die außerordentlich methodisch aufgebaut ist, schlägt einige spieltechnische Neuerungen vor, wie z. B. die Verwendung des kleinen Fingers. Sie beschreibt Vibrato, das Spiel lang angehaltener Töne und Obertöne in der rechten Hand. Wichtige Kapitel beschäftigen sich mit dem „goût“, der Verfeinerung des Ausdrucks, verschiedenen Harfenschulen und der Geschichte des Instruments. Um jederzeit üben zu können, besaß Mad. de Genlis kleine Harfen mit drei, fünf oder acht Saiten, die sie auch für Kinder empfahl.

Trotz anfänglich guter Resonanz konnten sich weder ihr Schüler Casimir noch die Harfenschule langfristig durchsetzen. So berichtet schon 1811 die „Allgemeine musikalische Zeitung“ zwar positiv über „Herrn Casimir“, dass er angeblich „als Harfenspieler, besonders in Hinsicht auf Besiegung von Schwierigkeiten, alles, was man gehört hat“ überträfe und „namentlich auch sehr schwere Klavierstücke auf seiner Harfe vollkommen“ ausführe; anschließend heißt es aber: „Auch dadurch wird seine Erscheinung noch interessant, dass er, als Virtuos, ein Schüler der berühmten, unermüdlich thätigen Schriftstellerin, Mad. de Genlis, ist, welche selbst sehr gut Harfe spielt, und vor kurzem eine Méthode de Harpe herausgegeben hat, welche gerühmt wird, aber, ausser einer gefälligen Schreibart nichts Ausgezeichnetes enthält“ (AmZ 1811, Sp. 617f.).

 

Zeichnung, signiert mit Delpech, frühes 19. Jahrhundert.

 

L'ENIGME, OU LE PORTRAIT
D'UNE FEMME CELEBRE1

Au physique je suis du genre féminin,
Mais au moral je suis du masculin.
Mon existence hermaphrodite
Exerce maint esprit malin.
Mais la satire et son venin
Ne sauraient ternir mon mérite.
Je possède tous les talents,
Sans excepter celui de plaire;
Voyez les fastes de Cythère
Et la liste de mes amants,
Et je pardonne aux mécontents
Qui seraient de l’avis contraire.
Je sais assez passablement
L’orthographe et l’arithmétique,
Je déchiffre un peu la musique,
Et la harpe est mon instrument.2
A tous les jeux je suis savante:
Au trictrac, au trente-et-quarante,
Au jeu d’échecs, au biribi,
Au vingt-et-un, au reversi,
Et par les leçons que je donne
Aux enfants3 sur le quinola,
J’espère bien qu’un jour viendra
Qu’ils pourront le mettre à la bonne.
C’est le plaisir et le devoir
Qui font l’emploi de ma journée;
Le matin, ma tête est sensée,
Elle devient faible le soir.
Je suis monsieur dans le lycée,
Et madame dans le boudoir.

1 Mme de Genlis.
2 On rappelle ici, en jouant sur les mots, l’accusation portée contre Mme de Genlis d’avoir M: de la Harpe pour teinturier. (Meister)
3 Les enfants de la maison d’Orléans.

DAS RÄTSEL, ODER DAS PORTRÄT
EINER GEFEIERTEN FRAU1

Körperlich gehöre ich zum weiblichen Geschlecht,
Aber seelisch zum männlichen.
Meine hermaphroditische Existenz
Beherbergt so manchen listigen Geist.
Der Spott und sein Gift
Könnten meinen Wert nicht schmälern.
Ich besitze alle Gaben,
Einschließlich derjenigen zu gefallen;
Seht die Pracht von Kythera
Und die Liste meiner Liebhaber,
Und ich sehe es den Unzufriedenen nach,
Wenn sie vielleicht gegenteiliger Meinung sind.
Ich beherrsche ziemlich gut
Orthographie und Arithmetik,
Ich spiele ein wenig Musik vom Blatt,
Und die Harfe ist mein Instrument.²
In allen Spielen bin ich eine Kennerin:
Tricktrack, Trente-et-quarantea
Schach, Biribia,
Siebzehnundvier, Reversi,
Und durch die Stunden, die ich den Kindern des Hauses Orléans
Im Quinola-Spielb gebe,
Hoffe ich sehr, dass der Tag kommen wird,
An dem sie es zum Guten bringen können.
Freude und Pflicht
Bestimmen meinen Tageslauf;
Des Morgens ist mein Kopf gescheit,
Er wird schwächer des Abends.
Ich bin Monsieur im Lyzeum
Und Madame im Boudoir.

1 Mme de Genlis.
2 Wortspiel, das sich auf Meisters (einer der Hrsg.) Anschuldigung bezieht, Mme de Genlis beschäftige Monsieur de la Harpe als «teinturier», das heisst, als Färber oder Unterhalter und Reiniger ihrer Kleider.
a Karten- und Glücksspiele
b Quinola heisst die wichtigste Karte im Reversi. Der Begriff wurde gleichzeitig zur Bezeichnung des Spieles selber verwendet.

Correspondance littéraire, philosophique et critique par Grimm, Diderot, Raynal, Meister, etc., Revue sur les textes originaux (…), Bd. 13, Paris 1880, Repr. Nendeln/Liechtenstein 1968.

 

WERKE FÜR HARFE

Air varié für Harfe, in: Henri Petrini, Recueuil de trois airs variées et deux sonates… dédiés à Mlle d’Orléans, œuvre Xe, Paris, s. d. (RISM AI)

Divers œuvres, in: Courier lyrique ou Passe-temps des toilettes par Mme Dufrenoy, Paris 1. Juni 1785–16. Jan. 1789 (RISM BII)

 

SCHRIFTEN

Veillées du château, ou Cours de morale à l’usage des Enfans, 1784

Adèle et Théodore, ou lettres sur l’éducation, 1782, 1783, 1785–1789

Leçons d’une gouvernante à ses Elèves, ou Fragmens d’un Journal, qui a été fait pour l’éducation des enfans du duc d’Orléans, 1791

Mémoires (1756–1825)

Lettres à Casimir (1802–1839)

 

LEHRWERKE

Méthode de harpe, Paris 1802

Nouvelle Méthode pour apprendre à jouer de la harpe en moins de six mois de leçons, et contenant un enseignement et des détails entièrement nouveaux sur les sons harmoniques et sur plusieurs autres effets également neufs que peut produire cet instrument, Paris 2. Aufl. 1805

 

LITERATUR

Stéphanie-Félicité du Crest de Genlis, Mémoires inédits de Madame La Comtesse de Genlis, sur le dix-huitième siècle et la révolution française, depuis 1756 jusqu'à nos jours, 10 Bde., Brüssel 1825.

Madame Carette, née Bouvet, Choix de mémoires et écrits des femmes françaises aux XVIIe, XVIIIe et XIXe siècles avec leurs biographies: Madame la Comtesse de Genlis, 9. Aufl. Paris o. J. (um 1895).

Henry Lapauze (Hrsg.), Lettres inédites de Mme de Genlis à son fils adoptif Casimir Baecker (1802–1839), publiées avec une introduction et des notes d’après des documents nouveaux, Paris 1902.

Chor/Fay, Herloßsohn, Schilling, Michaud, Gaßner, Hoefer, Schla/Bern, Paul, Fétis, EitnerQ, MGG1, Dufourcq, Michel/LesureEncymus, Zingel, Govea, MGG 2000, New Grove 2001

Barbara Garvey Jackson, „Say can you deny me“: A guide to surviving music by women from the 16th through the 18th centuries, Fayetteville 1994.

Paul Harvey u. Janet E. Heseltine, The Oxford companion to French literature, Repr. Oxford 1986.

Henriette d'Oberkirch, Memoirs of the Baroness d'Oberkirch, Countess de Montbrison, 3 Bde., Bd. 2, London 1852.

Henriette Herz in Erinnerungen, Briefen und Zeugnissen, hrsg. v. Rainer Schmitz, Frankfurt a. M. 1984.

Charles Muteau u. Joseph Garnier, Galerie bourguignonne, 3 Bde., Dijon 1858–1860.

Antoinette Joséphine Françoise Anne Drohojowska, Les Femmes illustres de la France, Paris 1862.

Charles-Augustin Sainte-Beuve, Nouvelle galerie de femmes célèbres, tirée des causeries du lundi, des portraits littéraires, etc., Paris 1865.

Honoré Bonhomme, Madame la Comtesse de Genlis. Sa vie, son œuvre, sa mort (1746–1830), d’après des documents inédits, Paris 1885.

Michel Brenet [d. i. Marie Bobillier], „Madame de Genlis. Musicienne“, in: Bulletin de la société internationale de musique VIII, 2 (1912), S. 1–14.

Georges Cucueil, La Pouplinière et la musique de chambre au XVIII siècle, Paris 1913, Repr. Genf 1971.

Roslyn Rensch, Harps and Harpists, Bloomington/Indiana [u. a.] 1989.

Richard J. Viano, By Invitation only. Private concerts in France during the second half of the eighteenth century, in: RMFC (1991/1992), S. 131–162.

Rajka Dobronić-Mazzoni/Frederick Lucies, The Comtesse and Her Wunderkind: Madame de Genlis and Casimir, in: The American Harp Journal (1998), Nr. 4, S. 25–26.

Carla Hesse, The other Enlightenment. How French women became modern, Princeton [u. a .] 2001.

Claudia Schweitzer, „… ist übrigens als Lehrerinn höchst empfehlungswürdig“. Kulturgeschichte der Clavierlehrerin (= Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts 6), Oldenburg 2008.

Bonnie Arden Robb, Félicité de Genlis. Motherhood in the margins, Danvers 2008.

Beatriz Onandia, Transfert culturels, traductions et adaptations féminines en France et en Espagne au siècle des Lumières, Diss. Université de Lorraine 2016, http://www.theses.fr/2016LORR0096/document.

Josiane Guitard-Morel, „Félicité de Genlis, gouverneur des enfants d’Orléans, femme de pouvoir", in: Le Politique et le Féminin. Les femmes de pouvoir dans les mémoires d'Ancien Régime, hrsg. von Cyril Francès, Paris 2020, S. 233–269.

Véronique Léonard-Roques, Stéphanie-Félicité de Genlis, Encyclopédie numérique de la sociabilité britannique au cours du long dix-huitième siècle, ISSN 2803-2845, https://www.digitens.org/fr/notices/stephanie-felicite-de-genlis.html, Zugriff am 3. Nov. 2023.

 

Bildnachweis

Gemälde von Adelaide Labille-Guiard, http://wapedia.mobi/de/Datei:Madame_de_Genlis_1780.jpg#1, Zugriff am 20. Sept. 2009.

Zeichnung von Delpech, http://wapedia.mobi/de/Datei:MmedeGenlis.jpg, Zugriff am 20. Sept. 2009.

 

Claudia Schweitzer

 

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