Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Jaëll, Marie Marie-Christine geb. Trautmann

* 17. Aug. 1846 in Steinseltz bei Wissembourg (Elsass), † 4. Febr. 1925 in Paris, Pianistin, Klavierlehrerin, Komponistin und Schriftstellerin.

Marie Trautmann wuchs in einer ländlichen Umgebung auf. Ihre Eltern waren George Trautmann (1816–1890), als Bürgermeister und Landwirt in Steinseltz tätig, und Christine Trautmann geb. Schopfer (?–1878). Marie Trautmanns jüngere Schwester Caroline Trautmann (?–1888) verh. Diehl emigrierte in die USA und heiratete dort 1869 den Mediziner und Bürgermeister von Buffalo (NY), Conrad Diehl.

Für Marie Trautmanns erste Lebensjahre ist zur Musikausbildung lediglich Anekdotisches überliefert: „Noch ehe sie sprechen konnte, sang sie alle Melodien nach, die sie hörte. In dem Dorfe war kein Klavier; sie sah 6 ½ Jahre alt zum ersten Male ein solches und ließ nicht ab, ihre Eltern zu bitten, ihr auch eine solche Musik, wie sie sagte, zu kaufen und sie darauf spielen lernen zu lassen. Als endlich ihre Bitte gewährt wurde, war ihr Eifer außerordentlich. Sie ging im strengsten Winter eine halbe Stunde weit oft im tiefsten Schnee in das nächste Dorf zum Unterricht. Sie machte in kurzer Zeit unglaubliche Fortschritte, insbesondere war es ihr großes Tontalent, das allgemeine Aufmerksamkeit erregte. Sie nannte, sobald sie die Namen der Töne kannte, jeden Ton, den man anschlug“ (Der Bayerische Landbote 1857, S. 405).

Um 1852 wurde Marie Trautmann von ihren Eltern nach Stuttgart zu Franz B. Hamma geschickt, welcher dort neben Klavier- auch Gesangs- und Kompositionsunterricht erteilte. Dieser organisierte für Marie Trautmann nach etwas mehr als zwei Jahren intensiven Klavierunterrichts einen ersten öffentlichen Auftritt am 14. Okt. 1855 in Stuttgart, bei dem sie unter Anderem ein Trio von Mozart, die Etüden op. 70 Nr. 3 und 6 von Ignaz Moscheles sowie eine Beethoven-Sonate op. 10 vortrug. Unter den Anwesenden war auch Moscheles, welcher „erklärte, dass ihm ein solches Talent bei einem Kinde noch nicht vorgekommen sei und […] darüber ein glänzendes Zeugniss auf das erste Blatt ihres Albums“ ausstellte (Süddeutsche Musik-Zeitung 1862, S. 173). Bis Ende des Jahres 1856 spielte Marie Trautmann schon wenigstens 20 Konzerte in Süddeutschland und im Elsass, unter Anderem vor Rossini in Wildbad (1855).

Die Literatur hebt, meist nur andeutungsweise, die Bedeutung Christine Trautmanns für die musikalische Entwicklung und Karriere ihrer Tochter hervor. So organisierte diese neben einer Vielzahl an Konzerten und Konzertreisen auch wegweisende Treffen mit Franz B. Hamma und Henri Herz und zeigte sich für die Organisation des Klavierunterrichts verantwortlich. Sie begleitete ihre Tochter bis zur Heirat auf deren Konzertreisen.

Christine Trautmann organisierte ihrer Tochter für den 27. Dez. 1856 das Debüt in Paris. Durch ihre Vermittlung war auch Henri Herz (1803–1888) anwesend, der Marie Trautmann daraufhin von 1857 bis 1861 privat als Schülerin unterrichtete. Zeitweise soll Marie Trautmann auch Unterricht von Louis Liebe (1819–1900) erhalten haben, welcher zu dieser Zeit in Straßburg als Komponist und Dirigent tätig war. Bis zum Abschluss ihres Studiums spielte sie ungefähr 100 Konzerte, überwiegend im Elsass,  in Süddeutschland und der Schweiz. Marie Trautmann reiste dabei teilweise „avec son propre instrument construit à sa mesure“ („mit ihrem eigenen ihrer Größe angepassten Instrument“, Kiener, S. 23).

Unter Anderem erregte ein Konzert mit Wilhelm (= Guillaume) Bauerkeller am 5. Apr. 1857 in der Salle Herz Aufmerksamkeit. „Quelque prévenu quon soit sur les enfants précoces, extraordinaires, prodiges, enfin, il faut bien reconnaître lorganisation exceptionelle de ceux-ci, dont les deux ages réunis ne dépassent pas le chiffre 24.[…] Alsacienne [Marie Trautmann], née dans le département du Bas-Rhin, et douée dun sentiment musical extrêmement remarquable, soit quelle exécute un solo, soit quelle joue de la musique densemble, cette jeune fille se distingue surtout par la fondeur du son, si rare chez la plupart des pianistes, par le rhythme senti, intelligent et non mécanique, et par la netteté du trait, quelle enlève avec facilité („Obwohl wir gegen die frühreifen, außerordentlichen Wunderkinder Vorbehalte haben, muss doch letztlich die außergewöhnliche Fähigkeit dieser beiden anerkannt werden, deren Alter zusammen die Zahl 24 nicht übersteigt. [...] Elsässerin [gemeint: Marie Trautmann], geboren im Departement Bas-Rhin und ausgestattet mit einem sehr bemerkenswerten musikalischen Gefühl, sowohl bei der Ausführung von Solo-Stücken als auch beim Vortrag im Ensemble, zeichnet sich dieses Mädchen vor allem durch die Tiefe des Tons, was nur selten unter den meisten Pianisten zu finden ist, durch den präzisen Rhythmus, intelligent und nicht-mechanisch, und durch die Sauberkeit der Linienführung, die sie mit Leichtigkeit gestaltet, aus“, RGM 1857, S. 123). Rien nest plus charmant que de voir les doigts de Marie courir sur le clavier mignon lorsquelle accompagne son jeune ami dans la Sonate en fa de Beethoven” („Nichts ist reizender als Maries Finger über das niedliche Klavier laufen zu sehen, wenn sie ihren kleinen Freund bei der F-Dur-Sonate von Beethoven begleitet“, Courrier du Bas-Rhin, 13. Nov. 1856).

Im Frühjahr 1857 spielte Marie Trautmann auch in England, unter Anderem in London vor der Königin Victoria, von der sie als „pianiste lilliputienne“ beschrieben wurde. Nach der Rückkehr konzertierte sie in Frankreich, Deutschland und der Schweiz.

Bis in die frühen 1860er Jahre wurde Marie Trautmann als ‚Wunderkind wahrgenommen, was sich nach der „Süddeutschen Musik-Zeitung“ von 1862 für Christine Trautmann als Organisatorin und die Künstlerin als problematisch erwies: „Concerte von Kindern sind beim gebildeten Publikum nicht beliebt, es widerstrebt dem gesunden Sinn Productionen anzuhören, die nur durch Uebertreibung noch ungereifter Kräfte andressiert und herbei gezwungen sind. Gegen diese Disposition oder vielmehr Indisposition des Publikums hatte Marie Trautmann bei ihrem jedesmaligen ersten Auftreten in einer Stadt viel zu kämpfen. Ihrer, nur ganz für sie lebenden und für sie sorgenden Mutter gelang es oft nur mit grosser Schwierigkeit und unter Aufwand all ihres praktischen Talentes für die kleine Marie die Mitwirkung anderer musikalischer Kräfte zu gewinnen und ein erstes Auditorium zusammen zu bringen“ (Süddeutsche Musik-Zeitung 1862, S. 173).

Im Dez. 1861 wurde sie am Konservatorium in Paris aufgenommen und setzte ihren Unterricht bei Henri Herz fort. Für die ersten drei Monate des Studiums (Jan. bis März 1862) wurde ihr jedoch eine Beurlaubung gewährt, da Marie Trautmann ihre Kunstreise in der Schweiz fortzusetzen beabsichtigte. „Nachher verfolgte sie den weiteren Verlauf des Kurses während 4 Monaten mit unermüdetem Fleiß und mit einer Liebe zur Sache und einer Begeisterung, die ihre Lehrer vollkommen für sie gewann“ (Süddeutsche Musik-Zeitung 1862, S. 173). Die Statuten des Pariser Konservatoriums sahen zu dieser Zeit eigentlich eine mindestens sechsmonatige Studiendauer vor, dennoch konnte Marie Trautmann an der Abschlussprüfung im Juli teilnehmen: „Pour les femmes, un concerto de Moschelès avait été choisi, et elles navaient pas à sen plaindre. Disons tout de suite quune des plus jeunes concurrentes, qui est venue perfectionner à Paris, par les leçons dHenri Herz, un talent déjà constaté en France et en Allemagne, Mlle Trautmann, dorigine alsacienne, a produit un effet supérieur, exceptionnel. Elle nest arrivée que lavant-dernière, après vingt et une autres exécutantes, mais elle a rendu au morceau la fraîcheur et la vie: on croyait ne lavoir pas encore entendu, tant elle la marqué au cachet de sa nature individuelle. A Mlle Trautmann le premier prix appartenait donc sans conteste („Für die Musikerinnen war ein Concertstück von Moscheles ausgewählt worden, und sie hatten sich dessen nicht zu beklagen. Sagen wir aber sofort, dass eine der jüngsten Aspirantinnen, welche nach Paris gekommen war, um ein schon in Frankeich und Deutschland zur Anerkennung gelangtes Können bei Henri Herz noch weiter auszubilden, nämlich Marie Trautmann, aus dem Elsass gebürtig, einen ganz hervorragenden und einzigartigen Effekt hervorgebracht hat. Sie war die vorletzte von 21 Spielenden, die das gleiche Stück vortrugen, sie gab dasselbe aber mit einer Frische, mit einem neuen Zauber wieder, dass man glaubte, dieses Stück zuvor noch nicht gehört zu haben. Sie hat dasselbe mit ihrem ganz individuellen Stempel gezeichnet. Marie Trautmann wurde einstimmig der erste Preis zugesprochen“, RGM 1862, S. 243). Zu ihrem erfolgreichen Abschluss bekam Marie Trautmann von Henri Herz einen Flügel aus eigener Fabrikation geschenkt, den sie auch bei späteren Konzertreisen mit sich führte.

 

Marie Jaëll, Photographie um 1862.

 

Im Anschluss an das Studium konzertierte Marie Trautmann in der Schweiz (1862), Frankreich (1863, 1864) und Deutschland (1862, 1863, 1865, 1866). Um 1866 lernte Marie Trautmann in Deutschland den Pianisten Alfred Jaëll kennen. Nach der Heirat am 9. Aug. 1866 zog das Paar nach Paris, wo ihr Salon in der Rue Saint-Lazare als eine bedeutende Begegnungsstätte von KünstlerInnen und LiteratInnen galt.

Mit ihrem Mann bereiste Marie Jaëll in den folgenden Jahren weite Teile Europas. Konzerte, in denen sie zusammen auftraten, lassen sich für Frankreich (1867, 1870, 1872–1877), Deutschland (1867, 1868, 1869, 1870) Schweiz (1867, 1869, 1870, 1871), Italien (1870, 1873, 1875), England (1867, 1868, 1870), Russland (1872), Holland (1868) und Österreich (1873) nachweisen. Zusammen mit Liszt konzertierten sie in Rom, Florenz und Budapest. Ihr Repertoire umfasste unter Anderem das Konzert für 2 Klaviere und Streicher C-Dur von Bach (BWV 1061), Reineckes  Improvisata über eine Gavotte von Christoph Willibald Gluck op. 125 und Raffs Chaconne für zwei Klaviere op. 150. Besonders häufig findet op. 46 (Andante und Variationen B-Dur für zwei Klaviere) von Schumann in der Presse Erwähnung.

Das Zusammenspiel des Paares wird in vielen Rezensionen gelobt und beispielsweise als „bewundernswürdig exact und einheitlich, aufs Feinste durchgearbeitet und von virtuoser Präcision“ beschrieben (NZfM 1869, S. 275). Zu einem Konzert in Wien 1873 heißt es in der Zeitschrift „Signale für die musikalische Welt“: „Jaell […] hatte bald eine gewisse Höhe erreicht, auf der er sich auch jetzt noch zu erhalten weiß. Wenn es seinem perlenreinen Spiele an Schlagschatten gebricht, weiß dies seine Ehehälfte, Frau Marie Trautmann-Jaell, doppelt zu ersetzen. Ihre große Technik und männliche Energie fühlt sich am wohlsten auf Lisztscher Unterlage“ (Signale 1873, S. 148).

Ab 1878 finden zunehmend Soloauftritte von Marie Jaëll, gemeinsame Konzerte mit Alfred Jaëll hingegen nur noch vereinzelt in der Presse Erwähnung. Ein möglicher Grund könnte in den unterschiedlich bewerteten pianistischen Fähigkeiten von Alfred und Marie Jaëll zu finden sein. So heißt es bei La Mara zu den pianistischen Fähigkeiten von Frauen: „Als Alterspräsidentin […] müssen Sie Clara Schumann an die erste Stelle setzen, obgleich ihr im Können die Neueren über sind, unter denen Sofie Menter ohne Zweifel allen voransteht. Dann Marie Jaëll-Trautmann, die nächst ihr musikalischste, die ihren Mann bedeutend überragt“ (La Mara, S. 248f.).

Das Ehepaar Jaëll verbrachte die Kriegsmonate 1871 in der Schweiz, wo sie sich mit Richard und Cosima Wagner trafen. „Les caractères et aussi les sentiments patriotiques de Wagner et de Marie Jaëll se heurtèrent bientôt avec violence; ils ne devaient jamais arriver à se comprendre“ („die Charaktere und auch die patriotischen Gefühle von Wagner und Marie Jaëll kollidierten heftig; sie sollten niemals gegenseitiges Verständnis entwickeln“, Kiener S. 43). Der Deutsch-Französische Krieg scheint für die gebürtige Elsässerin ein einschneidendes Erlebnis gewesen zu sein. So schrieb sie nach der Niederlage Frankreichs: „Still, I try to reconcile patriotism with pardon, to turn ill-feeling into charity; but alas!, fully absorbed in my pain I always see these foreigners in our plains, towns, homes; I see my country bleeding, and we all, her children, are living in exile! (zit. nach Guichard, S. 47). Nach dem Krieg spielte Marie Jaëll nur noch vereinzelt in Deutschland.

Der Tod Christine Trautmanns 1878 und Alfred Jaëlls 1882 stellten nach Auffassung Hélène Kieners, welche auf der Basis ihr vorliegender Quellen eine Publikation über Marie Jaëll verfasst hat, für die Musikerin einschneidende Ereignisse dar. Die dort genannten Ausschnitte aus Briefen und Tagebucheinträgen verdeutlichen weiterhin den (inneren) Konflikt Marie Jaëlls zwischen den Anforderungen und Erwartungen an die Rolle als Ehefrau und ihrem Wirken als Künstlerin. An ihren Freund Edouard Schuré schrieb sie: „From a woman, gifted or not, man takes away everything, little by little, and robs her of her creative forces; he takes her life from her. How often I have seen my dreams shattered by this single fact. The union of two beings can certainly be beautiful, splendid, marvelous, but… Must a woman always give in, and make the choice between the wings of the soul, sacrifice the former for the latter. Cant she keep all four [sic]?“ (zit. nach Guichard, S. 53).

Nach dem Tod ihres Mannes 1882 verbrachte sie von 1883 bis 1885 je einige Monate in Weimar im engsten Kreis Liszts, welcher sie mit Anton Rubinstein und Johannes Brahms bekannt machte. Sie war für Liszt als Sekretärin tätig, übernahm Korrekturarbeiten und nahm an Unterrichtsstunden teil. Die Pianistin und Musikschriftstellerin Lina Ramann war am 20. Mai 1884 zugegen, als Marie Jaëll in privater Runde ein Stück aus den Années de pèlerinage vortrug: Nach dem Thee wurde musicirt [...]. Mme Jaëll spielte ‚Les jeux deau à la Villa dEste‘. Da konnte man Wunder erleben - sie begann glatt, virtuos, begann mit dem Stück und hörte mit etwas ganz anderem auf! Der Meister [Liszt] schaute verblüfft drein, dann lächelte er. Ähnliches passirt ihr manchmal in der Erregung (Ramann, S. 228). Kurz vor Liszts Tod am 31. Juli 1886 konzertierte dieser zusammen mit Marie Jaëll in ihrem Salon in Paris. Nach Auffassung von Hélène Kiener findet sich im Tod Liszts ein Grund für die anschließende Fokussierung der Künstlerin auf ihre pädagogische und wissenschaftliche Arbeit.

Dennoch erregte Marie Jaëll in den folgenden Jahren, besonders durch ihre zyklisch angelegten Konzerte, als Pianistin große Aufmerksamkeit: Im Juni 1889 präsentierte sie in sechs Konzerten vor einem „auditoire dartistes (Ménestrel 1889, S. 207) als erste französische Pianistin alle 32 Beethoven-Sonaten. Anschließend, im Dezember 1889, trug sie in sechs aufeinander folgenden Konzerten die wichtigsten Klavierwerke Schumanns vor. Nach dem letzten der sechs Schumann-Abende bemerkt der Rezensent des „Ménestrel“: „Mme Jaell a approfondi dans tous leurs détails chàcune [sic] des pièces quelle a fait entendre, et lon sen rend compte à laudition, car les plus grandioses et les plus difficiles, aussi bien que les plus simples et les plus naives, ont été marquées dun cachet très personnel et très original“ („Mme Jaëll vertiefte sich in alle Details eines jeden Stücks, das sie zu Gehör brachte, und davon konnte man sich überzeugen, denn die genialsten und schwierigsten, aber auch die einfachsten und naivsten, wurden mit einem sehr persönlichen und sehr originellen Stempel versehen“, Ménestrel 1889, S. 406). Weiterhin trug sie mit Begleitung eines Kölner Orchesters am 10. Febr. 1890 in der Salle Érard die vier Klavierkonzerte von  Camille Saint-Saëns vor. Den Werken Liszts widmete sie im Januar 1892 sechs Konzerte in der Salle Pleyel. Im Jahr 1893 wiederholte sie den Vortrag der 32 Beethoven-Sonaten.

Seit Mitte der 1890er Jahren reduzierte sie ihre anderweitigen Tätigkeiten, um sich der Entwicklung einer psychophysiologisch fundierten Reform des Klavierspiels zu widmen. Zudem führte sie ihren Klavierunterricht fort und demonstrierte bei Konzerten 1891 und 1892 die Ergebnisse „quobtient Mme Marie Jaell avec la méthode le Toucher‘“ („die Madame Marie Jaëll mit ihrer Methode le Toucher erzielte“, Ménestrel 1892, S. 88). Zu den SchülerInnen, die im Rahmen dieser Konzerte auftraten, zählen Mlle F. Spalding, Eva Boutarel, Mme Conneau, M. Warmbrodt, Jeanne Caillate, Mlle Rochefort und M. Ponselle. Weitere SchülerInnen waren Catherine Pozzi (= Madame Bourdet), Elisabeth Caland, Albert Schweitzer und Jeanne Bosch vans Gravemoor. Weiterentwicklung erfuhr die Methode Jaëlls durch Jeanne Bosch vans Gravemoors Schüler Eduardo del Pueyo (1905–1986) und Blanche Selva (1884–1942). Zusammen mit Dr. Charles Féré, Chefarzt der psychiatrischen Klinik in Bicêtre bei Paris, arbeitete sie von 1897 bis 1907 an Experimenten zum Tastenanschlag. Ihre Ergebnisse publizierten sie gemeinsam unter Anderem 1902 in der „Revue Scientifique“.

 

Marie Jaëll, Photographie 1876.

 

Zwischen 1870 und 1890 war Marie Jaëll auch als Komponistin aktiv. Kompositionsunterricht und Unterstützung erhielt sie von César Franck und Saint-Saëns. Es erschienen zahlreiche  Werken für Klavier, Quartette, zwei Klavierkonzerte, ein Violoncellokonzert sowie Werke für Chor und Orchester. Unvollendet bliebt das musikalische Drama Runéa (später zweimal umbenannt in Mara und Ethione). Ihre romantische Oper Ossiane kam im Mai 1879 in Paris zur Aufführung. 1887 wurde sie als eine der ersten Frauen in die Pariser „Société des Compositeurs“ aufgenommen.

Die Beurteilung ihres Klavierspiels fiel widersprüchlich aus. Während in einigen Rezensionen „männliche Energie und „große Technik“ (Signale 1873, S. 148) als äußerst positiv hervorgehoben werden, widersprechen insbesondere zwei Rezensionen diesem Bild. Zu einem Konzert in Weimar 1884 schreibt ein Rezensent in der  Zeitschrift „Die Grenzboten“: „Welche Marterstunde hat sie mir und anderen bereitet, und zwar ebenso durch ihr Spiel wie durch ihre Komposition! Die letztere entzieht sich jeder Kritik, aber als nun diese Vertreterin des schönen Geschlechts am Instrument saß und mit hinaufgezogenen Schultern ihre mageren Arme auf den Tasten auf- und abwärtsrasen ließ, da begann das Instrument nicht zu säuseln oder zu singen, sondern zu stöhnen, zu wimmern, zu ächzen, zu wehklagen. Die Widerstandsfähigkeit des Flügels, dessen Saiten wie von einer Kriegsfurie durchtobt wurden, rief allgemein wehmütige Bewunderung hervor“ (Die Grenzboten 1884, S. 36). Hanslick schildert einen ähnlichen Eindruck während eines Konzerts 1873 in Wien: „Sie führte sich mit Schumanns ‚Davidsbündlertänzen‘ ein, welche sie – eine sehr unglückliche Idee – vollständig, alle 18 Stück in einem Zug durchspielte. Ich bin in einiger Verlegenheit, den von Frau Jaell empfangenen Eindruck richtig zu schildern. Ihre ungewöhnliche Kraft und Ausdauer, ihre Bravour und ihr Gedächtnis verdienen alle Anerkennung; aber das alles entschädigt nicht für die Affectation und Unnatur, mit der sie Schumann vortrug, halb Somnabule, halb Amazone. Die zarten, langsamen Stücke spielte Frau Jaell ohne rechten Zusammenhang und festen musikalischen Kern; man konnte glauben, es sei früher Morgen und die Dame sitze in Schlafrock und Pantoffeln am Klavier, allenfalls ein Zeitungsblatt auf dem Schoß, und lasse halb unbewußt die Finger über die Tasten gleiten, an nichts denkend, als ihren Gemahl nicht aus dem Schlummer zu wecken. Tact und Tempo waren bis auf eine Ahnung verschwunden“ (Hanslick 1873, S. 93).

 

WERKE FÜR KLAVIER (AUSWAHL)

Deux Méditations Leipzig 1871; 10 Bagatellen 1872; Six petits morceaux Leipzig 1871; Valses à quatre mains, Paris/Leipzig 1871; Six Esquisses romantiques 1884; Ce qu'on entend dans l'Enfer, le Purgatoire, le Paradis 1884;  Sphinx 1885;  Les voix de printemps 1885; Six Valses mélancoliques, Paris; Six Valses mignonnes; Promenade matinale; Harmonies imitatives; Alanguissement; Les jours pluvieux; Ennuyeux comme la pluie; Les Beaux jours; On rêve mauvais temps; La Babillarde (NA: Körborn 2014); Prisme. Problèmes en musique; Klavierkonzert Nr. 1; Klavierkonzert Nr. 2; Klavierkonzert d-Moll; Klavierquartett g-Moll; Klaviersonate C-Dur; Klaviertrio Nr. 1; Klaviertrio Nr. 2

 

LITERATUR

AmZ 1863, Sp. 18, 108, 314; 1865, Sp. 742; 1868, Sp. 54, 79, 143, 214; 1869, Sp. 111, 343, 415; 1873, Sp. 109f.,156f.

Der Bayerische Landbote 1857, S. 405

Deutscher Bühnen-Almanach, 1857, S. 191; 1862, S. 176

Der Eilbote. Tageblatt für die Stadt und den Bezirk Landau 1856, S. 172

La Figaro [Paris] 13. Febr. 1875

La France Musicale 1860, S. 435; 1862, S. 236

Fränkischer Kurier. Nürnberg-Fürther neueste Nachrichten. Mittelfränkische Zeitung 11. Aug. 1866

Die Grenzboten 1884 Bd. 3, S. 36

Le Guide Musical 1875, S. 10

Intelligenzblatt [der Stadt Bern] 29. März 1859; 1. Apr. 1859; 4. Apr. 1859; 5. Apr. 1859

Intelligenzblatt der freien Stadt Frankfurt 1861, S. 166

Morgenblatt zur Bayerischen Zeitung 1862, S. 1126

Münchner Omnibus, S. 569, 10. Dez. 1862

Ménestrel 1857, S. 4; 1862, S. 277, 184; 1863, S. 160, 168, 184; 1864, S. 120, 128, 136, 144; 1866, S. 7, 136, 156,207, 221, 238, 254, 336; 1867, S. 134, 158, 164, 176, 272, 312, 415; 1868, S. 23, 77, 118, 166, 206; 1869, S. 63, 86, 104, 111, 270, 293, 327, 406; 1870, S. 37, 223, 342; 1872, S. 38, 78, 112, 142, 208, 215, 320; 1873, S. 111, 120, 144, 374, 406; 1874, S. 22, 96, 104, 127, 144, 150, 151, 336, 376, 391; 1875, S. 38, 50, 52, 54, 78, 86, 167, 183, 350, 390f., 399; 1876, S. 64, 70, 72, 87, 102, 151, 183; 1877, S. 120, 135, 198; 1878, S. 156, 205, 398; 1879, S. 56, 72, 111, 184,200, 238, 419; 1880, S. 84, 143, 335; 1881, S. 80, 87, 319; 1882, S. 182; 1883, S. 23, 56, 62f., 71f., 79, 294, 412; 1884, S. 8, 56, 96, 112, 120, 215, 262, 416, 420; 1885, S. 56, 72, 80, 128, 168, 376, NP; 1886, S. 79, 116, 120, 193f., 244, 357, 362, 378, 389, 393; 1887, S. 63, 119, 128, 184; 1888, S. 15, 64, 119, 391, 413; 1889, S. 16, 31, 48, 56, 72, 95, 151, 153, 161, 207, 368, 406; 1890 S. 326377, 144, 160; 1891, S. 176, 384; 1892, S. 21, 31, 3753, 88, 101, 343, 383, 407; 1893, NP, S. 15, 17, 20, 21, 30, 37, 72, 80, 93175, 335; 1894, S. 54, 64, 84, 133, 157, 184, 327; 1895, S. 62, 69; 1897, S. 70, 304; 1898, S. 388; 1900, S. 164; 1901, S. 152; 1902, S. 291, 299; 1903 S. 228f., 335, 352; 1904, S. 246; 1905, S. 164; 1906, S. 273, 281; 1911, S. 126; 1922, S. 299; 1925 S. 84

NZfM 1859 I, S. 248; 1863 I, S. 50; 1866, S. 149; 1869, S. 275, 387; 1873, S. 281f.

Signale 1866, S. 228, 457; 1867, S. 419; 1868, S. 67; 1869, S. 1108; S. 1870, S. 6; 1872, S. 455; 1873, S. 148

Süddeutsche Musik-Zeitung 1862, S. 173f

RGM 1857 S.94, 123; 1862, S. 243

Frank/Altmann, Baker, MGG 2000, New Groove 2001

Eduard Hanslick, Concerte, Componisten und Virtuosen der letzten fünfzehn Jahre. 1870-1885. Kritiken, Berlin ²1886.

Constant Pierre, Le Conservatoire National de musique et de déclamation. Documents historiques et administratifs, Paris 1900.

Eugène Rapin, Histoire du piano et des pianistes, Paris 1904.

La Mara [d. i. Marie Lipsius], Durch Musik und Leben im Dienste des Ideals. Autobiografie, 2 Bde., Bd.1, Leipzig 1917.

Hélène Kiener, Marie Jaëll. Problèmes desthétique et de pédagogie musicales, Paris 1952.

Lina Ramann, Lisztiana. Erinnerungen an Franz Liszt in Tagebuchblättern, Briefen und Dokumenten aus den Jahren 1863–86/87, hrsg. von Arthur Seidl, Textrevision von Friedrich Schnapp, Mainz 1983.

Albert Schweitzer, Predigten 1898–1948. Werke aus dem Nachlaß im Verlag C. H. Beck, München 2001.

Association Marie Jaëll-Alsace (Strasbourg),www.mariejaell-alsace.net, Zugriff 18. Mai. 2012.

Catherine Guichard, Marie Jaëll. The Magic Touch, Piano Music by Mind Training, New York 2004.

 

Bildnachweis

Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg, http://www.bnu.fr/videodisque/33/NIM33637.jpg, Zugriff am 4. Jan. 2012.

Bibliothèque nationale et universitaire de Strasbourg, http://www.bnu.fr/videodisque/33/NIM33644.jpg, Zugriff am 4. Jan. 2012.

 

Jannis Wichmann

 

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