Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

EssipoffEssipow(a), Jessipow(a), Yesipova, Anna, Annettevon, verh. Leschetizky, Essipoff-Leschetizky

Transliteration: Esipova, Anna Nikolaevna

* 31. Jan. (12. Febr.) 1851 in St. Petersburg, † 5. (18.) Aug. 1914 ebd., Pianistin, Lehrerin und Professorin. Ihren ersten Klavierunterricht erhielt Anna Essipoff möglicherweise von ihrem Vater, dem Hofrat Nikolai Essipoff (Esipov), anschließend von einem Lehrer namens Wielopolski an einem französischen Mädchenpensionat. Die Lust am Spiel, eine rasche musikalische Auffassungsgabe und ein unfehlbares Gedächtnis verleiteten das begabte Kind, zur eigenen Freude die ihm erreichbare Musik wahllos nachzuspielen, auch nach dem Gehör. Als Essipoff im Herbst 1865 (1864?) am Petersburger Konservatorium in die Vorbereitungsklassen zunächst von Alexander Villoing (1808–1878), dann von Karel van Ark (1839–1902) eintrat und am 1. Jan. 1866 in die Klasse von Theodor Leschetizky (1830–1915) wechselte, wurde ihr das als Disziplinlosigkeit ausgelegt, da sie darüber offenbar das konzentrierte Notenstudium vernachlässigte. Leschetizky unterwarf sie einem strengen Übungsplan, hielt sie zu vertieftem Arbeiten an und vermittelte ihr damit zugleich die notwendige Selbstdisziplin für ihre weitere Karriere. Ihr gutes Gehör und ihr hervorragendes Erinnerungsvermögen erleichterten ihr jedoch lebenslang das rasche Einstudieren und auswendige Bereithalten ihres außergewöhnlich breiten Repertoires.

Vielseitig begabt (auch mit einer schönen Sopranstimme, die professionell auszubilden Anton Rubinstein ihr vergebens riet), beschäftigte Anna Essipoff sich neben dem Musizieren mit dem Komponieren von Etüden, Salonstücken und Liedern, von denen aber lediglich eine Romanze im Moskauer Verlag Jurgenson im Druck nachweisbar ist. Auch hatte sie Talent zur (Porzellan‑)Malerei und Stickerei nach eigenen Entwürfen. Neben dem Russischen eignete sie sich während ihrer Auslandsaufenthalte Deutsch und Englisch an und galt in allen drei Sprachen als brillante Konversationspartnerin.

Noch während ihres Studiums debütierte Anna Essipoff 1869 im Salzburger Mozarteum mit Chopins Klavierkonzert Nr. 1 e-Moll op. 11, unter der Leitung Theodor Leschetizkys, und 1869 in einem Konzert der Russischen Musikgesellschaft in St. Petersburg mit Beethovens Klavierkonzert Nr. 4 G-Dur op. 58. Im Mai 1870 schloss sie ihr Klavierstudium mit einer Goldmedaille ab (Prüfungswerk: Felix Mendelssohns Klavierkonzert Nr. 1 g-Moll op. 25). Im folgenden Jahr legte sie ihr Examen in den Fächern Komposition, Instrumentation, Kontrapunkt und Harmonielehre ab, die sie bei Nikolai Zaremba (1821–1879) und Julij Jogansen (Julius Ernst Christian Johannsen, 1826–1904) studiert hatte.

Anschließend begann eine langjährige intensive und erfolgreiche Konzerttätigkeit, die sie durch ganz Europa, Russland und Amerika führte: 1871 trat sie in St. Petersburg und Leipzig auf, 1872 kamen Nord- und Ostdeutschland und Moskau sowie 1873 Wien hinzu. In London und in Holland debütierte sie 1874, in Paris war sie erstmals 1875 zu hören. Von Okt. 1876 bis Juni 1877 bereiste sie „für ein Honorar von 100 000 Francs, bei freier Station für sich und ihre Begleitung“ (La Mara, S. 65) mit großem Erfolg die USA, wo sie 106 Konzerte (z. T. mit dem niederländischen Violoncellisten Anton Hekking) gab, davon allein 37 in New York. Ab 1878 stand auch die Schweiz auf ihrem Tourneekalender, ab 1880 bereiste sie die skandinavischen, ab 1881 die südeuropäischen Länder von Spanien bis Rumänien. Am häufigsten scheint sie in den beiden russischen Hauptstädten sowie in Leipzig, Wien, London und Paris aufgetreten zu sein, wobei sie zumeist mehrere Konzerte in Folge ansetzte.

Angeblich führte sie auf ihren Konzertreisen stets ihren eigenen Steinway-Flügel mit sich. Tatsächlich setzte sie sich aber auch für Instrumente anderer Firmen ein, wie ein in den „Signalen für die musikalische Welt“ abgedruckter Leserbrief zugunsten eines von ihr genutzten Instruments von Bechstein (Signale 1885, S. 444), eine dreijährige Vertragsbindung an „Ullmans Flügel“ (NZfM 1872, S. 198) sowie die lobende Erwähnung eines Blüthners (Signale 1872, S. 133) in den Rezensionen beweisen.

1878 erkrankte Anna Essipoff lebensgefährlich an Typhus. Nach ihrer Genesung heiratete sie ihren Lehrer und Förderer Theodor Leschetizky und wurde damit die zweite Ehefrau des insgesamt viermal verheirateten Künstlers. Das Paar hatte einen Sohn (Robert) und eine Tochter (die Sopranistin und Gesangslehrerin Therese Leschetizky, 1873 [sic]–1956).

Photographie von Anna Essipoff (unbekannter Photograph, ohne Jahr).

Nach der Hochzeit ging Anna Essipoff gemeinsam mit Leschetizky nach Wien, wo dieser eine Klavierschule eröffnete, deren Vorklasse sie übernahm. (Ihre Wohnadresse lag im 18. Gemeindebezirk, Wien-Währing, Karl Ludwigstraße 38; Eisenberg, S. 45.) 1893 (nach anderen Quellen 1892) kam es zur Scheidung, die offenbar diskret und ohne größere Presseresonanz erfolgte, und Anna Essipoff kehrte nach Russland zurück. Dort übernahm sie 1893 am Petersburger Konservatorium die Nachfolge von Fjodor (Theodor) Stein. Mit dieser Intensivierung ihrer Unterrichtstätigkeit beendete sie zwar nicht ihre Konzertlaufbahn, reduzierte aber fortan ihre Reisen erheblich. Ihren letzten öffentlichen Auftritt hatte sie am 3. März 1908 in St. Petersburg.

1899 legte Anna Essipoff ihr Lehramt nieder und lehnte einen Ruf ans Moskauer Konservatorium ab, um künftig nur noch privat zu unterrichten. Dieser Wechsel scheint jedoch nicht von Dauer gewesen zu sein, denn bereits 1901 wurde sie in St. Petersburg zur Professorin ernannt. Als Nikolai Rimski-Korsakow sich in Folge der Revolution von 1905 mit den streikenden Studierenden des Konservatoriums solidarisch erklärte und daraufhin sein Amt verlor, gehörte Anna Essipoff zu denjenigen prominenten Lehrenden, die aus Protest von ihrer Stelle zurücktraten und Rimski-Korsakows Schritt internationale Beachtung sicherten. Nach Beseitigung der Misstände kehrte sie in ihr Amt zurück und unterrichtete, soweit ihre Gesundheit es zuließ, bis kurz vor ihrem Tod.

Anna Essipoff wurden zahlreiche Ehrungen zuteil: U. a. erhielt sie 1881 die goldene Medaille für Kunst und Wissenschaft des dänischen Königshauses, 1882 die goldene Verdienstmedaille erster Klasse des rumänischen Königshauses, 1885 wurde sie zur Kgl. Preußischen Hofpianistin ernannt, außerdem war sie Hofpianistin in München.

Als überaus produktive Lehrerin bildete sie auf der Grundlage der Unterrichtsmethoden Leschetizkys eine Vielzahl von SchülerInnen aus, die in Europa, Russland und Amerika wirkten, und wurde damit eine der BegründerInnen der legendären russischen Klavierschule.

Eine Schrift zu methodischen Fragen des Klavierspiels blieb unvollendet, so dass es vor allem diese SchülerInnen sind, die (neben den 1906 von ihr selbst eingespielten Klavierrollen und einer einzigen Phonographen-Aufnahme in sehr mangelhafter Qualität) von Anna Essipoffs Musikauffassung zeugen: Bereits in ihrer Wiener Zeit trug sie zu der Ausbildung von Artur Schnabel und Ignaz Jan Paderewski (dessen Klavierkonzert a-Moll op. 17 sie 1889 uraufführte) bei; später unterrichtete sie u. a. Joseph Achron, Jan Cherniavsky, Wladimir Dranischnikow, Simon Barere, M. A. Bichter, Alexander Borowski, V. N. Drosdow, A. M. Dubjanski, Thomas de Hartmann, Ignaz Hilsberg, Leonid Kreutzer, Lew Ornstein, Sergei Prokofjew, Lew Pyschnow [Leff Pouishnoff], G. I. Romanowski,  G. G. Scharojew, Joseph Schwarz und Sergei Tarnowsk sowie die Pianistinnen Maria Judina, S. O. Dawydowa, O. K. Kalantarowa, S. S. Polozkaja-Jemzowa, N. N. Posnjakowskaja, Anna Hirzel-Langenhan, Anastasia Virsaladze und Isabella Wengerowa (1877–1956), die 1906 am Petersburger Konservatorium ihre Assistentin wurde.

Als Besonderheit ihrer Unterrichtsmethode gilt die aktive Fingertechnik, mit deren Hilfe ein gleichmäßiges, ebenso klares wie klangstarkes Spiel entstehen kann. Auch wenn ein Rezensent in „Music Trade Review” anlässlich eines New Yorker Konzerts beobachtet: „She sits so high and far away from the piano that we should have thought her outstretched arms would soon get tired (zit. nach Schonberg, S. 332), ermöglichte diese Fingertechnik der Künstlerin offenbar ein ausdauerndes, ermüdungsfreies Spiel. Ihre dichtgedrängten Tourneepläne und ihre extrem umfangreichen (angeblich bis zu vier Stunden dauernden) Programme geben ein plastisches Bild ihrer physischen Ausdauer.

Auch die von Anna Essipoff erhaltenen Klavierrollen zeugen von einer manuellen Kraft und Zuverlässigkeit, die selbst in hohem Tempo, bei Akkordhäufungen und Oktavgängen nicht nachlässt. Der musikalische Zugang dagegen wirkt impulsiv, spontan und subjektiv, sodass die „Signale für die musikalische Welt“ die junge Musikerin 1872 noch schroff in ihre geschlechter-kodierten Schranken weisen: Bei allen vielversprechenden Anlagen sei ihre „Vortrags-Manier [...] weiblich verunziert durch Uebertreibungen aller Art, wie z. E.: Aufsetzen von zu vielen und zu scharfen Druckern und Lichtern, Luxus mit Contrasten, und namentlich eine un- und übermäßige Verwendung des tempo rubato“ (Signale 1872, S. 133). Mit zunehmender künstlerischer Reife wurde allerdings gerade die Paarung von manueller Perfektion und musikalischer Emotionalität zu einer reizvollen persönlichen Note, sodass die „Neue Berliner Musikzeitung“ 1880 ausgewogener urteilt: „Sie besitzt nicht nur alle Eigenschaften, die in Summa eine glänzende Technik ergeben, nicht nur eine männliche Kraft und Ausdauer, sie versteht auch in den Geist des vorzutragenden Stückes mit künstlerischem Verständnis einzudringen und den Intentionen des Autors bis in’s Detail zu folgen [...]. Da deckt sich überall Technik und Auffassung auf’s Glücklichste mit dem Inhalt der Composition. Den einen Wunsch möchten wir aber doch aussprechen, dass Frau Essipoff dem Zarten, Milden, Innigen, mit einem Wort dem Weiblichen eine größere Berücksichtigung schenken möge. [...] Schlösse der Zuhörer die Augen, er würde nicht glauben, dass die Finger einer Dame über die Tasten gleiten. Ueberall tritt ihm männliche Energie und Kraft entgegen, die gewiss volle Anerkennung verdienen, jedoch die Weiblichkeit (doch das Charakteristische auch in der Kunstleistung einer Dame) nicht gänzlich verdrängen dürfen. [...] Ein zweiter Wunsch betrifft den zu häufigen Gebrauch des Pedals; manche Stelle verlor dadurch an Deutlichkeit, obgleich wir sehr wohl wissen, dass die Finger der Frau Essipoff mit grösster Correctheit fungierten“ (Bock 1880, S. 374). Dass der Rezensent auch den im selben Konzert mitwirkenden Ehemann für diese Eigenart tadelt, ist ein Indiz dafür, dass die spezifische Pedalisierung ein Charakteristikum der Leschetizky-Schule zu sein scheint.

Anna Essipoffs impulsiver musikalischer Zugriff, die direkte, von großer Geste und pianistischer Verve geprägte Umsetzung insbesondere der Virtuosenliteratur des 19. Jahrhunderts, die unbefangene Ausnutzung äußerer Effekte und ihre subjektiven Phrasierungen scheinen nach 1893, also mit Intensivierung der Lehrtätigkeit, allmählich in den Hintergrund zu treten; ihr Spiel wurde ausgeglichener, ihr Repertoire wandte sich stärker auch den Klassikern zu.

Während der zentralen Phase ihrer Konzerttätigkeit, also in den Jahren 1871 bis 1893, gastierte Anna Essipoff als reisende Künstlerin regelmäßig in den großen europäischen Metropolen, oft parallel zu Sofie Menter, mit der sie in der Presse gern verglichen wurde, und mit einem ähnlich gelagerten, sehr breiten Repertoire, das von Joh. Seb. Bach bis in die Gegenwart reichte. Trotz Kammermusik-Programmen (bevorzugt mit dem Violinisten Leopold Auer und dem Cellisten Alexander Werzhbilowitsch) wurde die Künstlerin überwiegend als Solistin und Virtuosin wahrgenommen. Ein Schwerpunkt ihres Repertoires lag im frühen und mittleren 19. Jahrhundert, reichte aber bis in die (bevorzugt russische) Moderne. Ihr Publikum schätzte besonders ihre Auftritte mit den Kernwerken der Hochromantik (Chopin, Schumann, Mendelssohn, Weber), in denen ihr direktes, emotionsbetontes und souverän virtuoses Spiel ein reiches Betätigungsfeld fand, und rühmte ihre unvergleichliche Wiedergabe kleiner, brillanter Virtuosen-Piecen, die sie gern und reichlich in ihre Programme integrierte. Bei schwergewichtiger, komplexer Musik unterlag Anna Essipoff in Vergleichen jedoch oft Sofie Menter, deren vermeintlich männlichere, auf jeden Fall (soweit anhand der erhaltenen Klavierrollen nachvollziehbar) noch eigenwilligere und kraftvollere Interpretationen zum Gegenpol der – dann als dezidiert weiblich gedeuteten – Interpretin Anna Essipoff hochstilisiert wurden. Vergleiche mit anderen Pianistinnen kommen zu ähnlichen Ergebnissen: „Paderewski gives a very interesting comparison between the efficient Essipoff and the volcanic Carreño [María Teresa Carreño García de Sena, 1853—1917]Essipoff’s playing, he wrote, in many ways was perfect except when it came to strong, effective pieces. Than she was lacking in force, as women pianists generally are. [...] She was very feminine in her playing, and small poetic pieces she could play admirably (Schonberg, S. 332f.).

Auf nichtmusikalischem Gebiet, nämlich was die Eigenwilligkeit und öffentlichkeitswirksame Selbstpräsentation betraf, waren Anna Essipoff und Sofie Menter einander dagegen ebenbürtig. Wie Menter bevorzugte Anna Essipoff auffällige und kostbare Kleidung und machte sogar vor dem Sensationellen nicht Halt, wenn sie bei ihrem letzten Konzert in New York „appeared to the public in a star-striped costume symbolizing the American flag“ (The Great Soviet Encyclopedia 1979, zit. nach Russian Culture Navigator). Ihre äußere Erscheinung wurde vom Publikum dezidiert als exzeptionell wahrgenommen und in den Zeitungen regelmäßig angesprochen: „She seems organized for the piano; the beautiful movement of her hand and wrist is worth watching for itself, schwärmt „Dwight’s Journal“ am 23. Dez. 1876 anlässlich eines Auftritts in Boston (zit. nach Schonberg, S. 332).

Notenausgabe des Verlags D. Rather (Leipzig, Hamburg) 1884.

Solche Äußerlichkeiten förderten das Verlangen nach Autogrammen, den lukrativen Handel mit Bildporträts und Notenausgaben des von ihr gespielten Repertoires (im Hamburger Verlag Rather, siehe Abbildung). Von ihrer Wirkung auf ihr Publikum zeugen auch die für die damalige Zeit auffällig ausführlichen Rezensionen, in denen Anmerkungen zu ihrer Spielweise mit persönlichen und mit geschlechterbezogenen Charakterisierungen ineinandergreifen. Schon 1872 hebt ein deutscher Rezensent die „männliche Bravour und Ausdauer, die Verve und Grazie“ (zit. nach La Mara, S. 64) Essipoffs hervor, und anerkennend heißt es: „Man hat [...] bei ihr den Eindruck, daß sie mit ihrem gesamten Denken und Empfinden bei der Sache ist, daß der darzustellende Inhalt wirklich ihre Seele erfüllt. Im Gegensatz zu den meisten Klavierspielerinnen scheint ihre Natur nichts Halbes, Verschwommenes, Unfertiges zu dulden“ (ebd.). La Mara betont sowohl die als männlich wie die als dezidiert weiblich wahrgenommenen Züge ihrer künstlerischen Persönlichkeit und fasst zusammen: „Alles, was sie gibt, trägt das Gepräge einer musikalischen Individualität, einer selbständig waltenden, übersprudelnd spielfreudigen Natur. Ein singender, tongesättigter Anschlag, eine merkwürdige Muskelkraft, welche die Fertigkeit und Ausdauer ihrer klein gebauten Hand unterstützt, ein meisterhafter Pedalgebrauch, eine männliche Energie der Auffassung und des Ausdrucks, ein durch mit Vorliebe angewandte scharfe Kontraste noch gesteigerter blendender Glanz der Farbengebung eignen der kühnen Pianistin, die man gleichwohl nicht mit Unrecht die weiblichste unter unsern großen Klavierspielerinnen genannt hat. Am nächsten unter allen, die sie interpretiert, steht ihrer Subjektivität Chopin, [...] nächst ihm Robert Schumann. [...] Weniger vertraut [...] sind ihr [...] Bach und Beethoven. [...] Das Schlicht-Erhabene liegt ihrem pointierten Vortrag nicht recht, der, bei sprühendem Esprit und einem ausgesprochen dichterischen Element, im Graziös-Träumerischen, Pikant-Capriciösen sein eigenstes Reich hat. Und doch kommen ihr selbst bei dem ihrem Wesen Fernerliegenden ihre slavische Elastizität und das wundersame Aneignungstalent zu statten, das ihr von Natur zur Mitgabe geworden“ (La Mara, S. 66f.).

Die „Signale für die musikalische Welt“ berichten 1890 von ihrem Petersburger Ruhm als „weibliche[r] [Anton] Rubinstein“ und „beste Chopin-Spielerin“ (Signale 1890, S. 456); die „Neue Berliner Musikzeitung“ apostrophiert sie schon 1878 als „Königin unter den weiblichen Klavierhelden“ (Bock 1878, S. 318), und 1880 heißt es: „Alles in Allem genommen ist’s für Klavierspielende ein Verlust, Frau Annette Essipoff nicht gehört zu haben!“ (Allgemeine Deutsche Musikzeitung 1880, S. 389). Ihr Spiel beeindruckte Georg Bernard Shaw, der in „The World” vom 17. Mai 1893 ihre technische Souveränität rühmt, Johannes Brahms, der sie in seinem Brief an Hermann Levi vom November 1873 ungewohnt ernsthaft für Konzerte empfiehlt (Brahms 1910, S. 141), den gefürchteten Wiener Musikkritiker Eduard Hanslick (Hanslick 1886, S. 94) und sogar den manchmal nicht weniger bissigen Peter Tschaikowsky. Dieser lobt am 6. Dez. 1871 in der Zeitung „Moskovskie vedomosti“ anlässlich des zweiten Symphoniekonzerts der Russischen Musikgesellschaft vom 26. Nov. 1871 die Verbindung „der makellosen Reinheit ihres Spiels mit der Reife des künstlerischen Vortrags“ (Tschaikowsky, S. 18f.), kritisiert allerdings die Wahl von Chopins erstem Klavierkonzert: „ein ermüdend langes, inhaltsleeres und gänzlich schablonenhaftes Stück“, das der Künstlerin seiner Meinung nach nur dazu verhalf, „dem Publikum ihre exzellente Technik vorzuführen“ (ebd.). Stärker noch sind seine ästhetischen Vorbehalte beim Symphoniekonzert vom 15. Nov. 1874, als Anna Essipoff das 1871 komponierte Klavierkonzert op. 12 von Julius Zellner (1832–1900) darbot: „Einen so großen Stuß, ein derart abgeschmacktes, wäßriges und nichtswürdiges Stück habe ich noch nie zu Ohren bekommen. Auf Frau Jessipowas unglückliche Stückwahl reagierte das Publikum eiskalt  eine Reaktion, wie sie die ausgezeichnete junge Künstlerin wohl noch nie erlebt hat“ (Tschaikowsky, S. 233).

Pikanterweise erschien Tschaikowskys Konzertfantasie op. 56 in einem eigenen Arrangement für zwei Klaviere 1884 zwar mit einer Widmung an Anna Essipoff, die komplette Partitur wurde 1893 jedoch mit einer Dedikation an Sofie Menter gedruckt. Andere Widmungen wie z. B. von Werken Ignaz Jan Paderewskis oder Anton Rubinsteins Russischem Capriccio op. 102 sind ein Zeichen der Dankbarkeit für eine bedeutende Interpretin, die bei allem Ruhm auch für ihre SchülerInnen sorgte, indem sie mit ihnen gemeinsam auftrat oder sie in gesellschaftliche Kreise einführte, die ihr Fortkommen sicherten.

 

WERKE FÜR KLAVIER

Laut MGG 2000 existieren Etüden und Salonkompositionen.

 

AUFNAHMEN

Welte-Mignon-Klavierrollen (7. Febr. 1906): Eugène d’Albert, Scherzo aus Vier Stücke für Klavier op. 16 Nr. 2; Anton Arenskij, Etüde aus 24 Stücke für Klavier op. 36 Nr. 13; Frédéric Chopin, Barcarole Fis-Dur op. 60, Etüde C-Dur op. 10 Nr. 7, Mazurka h-Moll op. 33 Nr. 4, Prélude As-Dur op. 28 Nr. 17; Franz Liszt, Valse caprice Nr. 6 aus Soirées de VienneParaphrase de concert No. 3 Rigoletto; Robert Schumann, Fünf Impromptus über ein Thema von Clara Wieck op. 5, Sigismund Thalberg, Grande caprice sur des motifs de La Sonnambula op. 46.

Edison-Zylinder/Julius Block (15. Nov. 1898): Benjamin Godard, Gavotte G-Dur op. 81/2.

 

LITERATUR (Auswahl)

Briefe (u. a. in den Sammlungen der Universität Hamburg und Frankfurt a. M. und im Staatlichen Institut für Musikforschung in Berlin)

Allgemeine Deutsche Musikzeitung 1880, S. 389

AmZ 1872, Sp. 100, 149, 164f., 180; 1875, Sp. 364, 717, 748; 1876, Sp. 76, 122; 1878, Sp. 747, 778, 830ff.; 1879, Sp. 110, 478; 1880, 827; 1881, Sp. 189, 814; 1882, Sp. 14, 171f.

Bock 1871, S. 75, 412; 1872, S. 38f., 63, 69, 71; 1874, S. 22, 373; 1875, S. 71, 163, 414; 1876, S. 21, 277; 1877, S. 230; 1878, S. 21, 43, 46, 52, 94, 110, 295, 318, 343, 350, 356, 365, 397; 1879, S. 7, 54, 87, 111, 167, 246, 295, 318, 335, 359; 1880, S. 15, 23, 95, 111, 224, 263, 339, 374, 389, 398; 1881, S. 22, 63, 87, 174; 1882, S. 6, 158, 182, 192, 342; 1883, S. 15, 95, 119; 1884, S. 30, 143, 199, 365, 307; 1885, S. 125f., 374; 1886, S. 6, 21, 86; 1887, 398; 1888, S. 79, 305, 318, 335; 1889, S. 86; 1891, S. 270, 440; 1893, S. 434

FritzschMW 1882, S. 25, 238

Illustrirte Zeitung [Leipzig] 1882 II, S. 8

Die Musik 1904/05 III, S. 289

NMZ 1891, S. 101

NZfM 1872, S. 60, 73, 97f., 103, 106, 112, 177, 198, 206; 1874, S. 73, 192, 240, 252, 297, 463, 497, 521; 1875, S. 49, 71, 90, 112, 163, 194f., 234, 435, 509f., 519; 1876, S. 18, 29, 37f., 56f., 61, 77, 94, 254, 261; 1876, S. 282, 291, 298, 307, 310, 370, 392, 412, 433, 454, 486, 524; 1877, S. 64, 125, 302, 396, 419; 1878, S. 18, 58f., 71, 108, 133, 142, 279, 406, 448f., 465f., 474f., 488, 490, 496f., 508, 518, 538f.; 1879, S. 39, 41, 79, 92, 104, 115; 1880, S. 64, 224, 299f., 312, 424, 444, 449, 456, 473, 483, 495, 497, 507, 539, 550; 1881, S. 9, 29, 31, 34, 62, 117, 131, 138, 182, 195, 222, 227, 248, 267f., 442, 471, 503; 1882, S. 21, 29f., 50, 74, 83, 115, 125, 205, 217, 240, 250, 275, 299, 414, 424, 475, 534; 1883, S. 11, 32, 80, 89, 101, 112, 148, 192, 342, 442, 473, 483, 561, 574; 1884, S. 50, 58, 97, 168, 189, 200f., 292, 305, 406, 454, 478, 485, 495, 497, 504f., 520, 547; 1885, S. 5, 7f., 113, 156, 189, 196, 200, 211, 487, 510, 546; 1886, S. 21, 30, 57, 142, 165, 256; 1887, S. 9, 76, 441, 454, 536; 1888, S. 95f., 141, 179, 314, 403f., 407, 446, 458ff., 465; 1889, S. 206, 251f., 271, 528, 566; 1890, S. 449; 1891, S. 164, 302, 447, 529; 1892, S. 311; 1893, S. 376; 1894, S. 90, 562; 1895, S. 139; 1896, S. 449; 1897, S. 412; 1898, S. 445, 540; 1899, S. 209f.

Signale 1870, S. 471f.; 1871, S. 359; 1872, S. 92, 108, 125, 133, 149, 163, 170, 180, 185, 196, 200, 218, 313, 325, 357, 473; 1873, S. 326, 804, 839, 867, 870, 902, 915; 1874, S. 26, 53, 65, 68, 155, 233, 361, 363, 393, 517, 549; 1875, S. 44, 105, 141, 177, 184, 186, 472, 649, 676, 789, 871; 1876, S. 42, 55f., 76, 101, 107, 109, 116, 123, 136, 152, 164, 209, 259f., 314, 489, 666, 792, 891, 1030; 1877, S. 11, 20, 91, 105, 129, 347, 632, 956, 1047, 1067; 1878, S. 15, 19, 20, 102, 120f., 125, 140, 165f., 171, 213f., 225, 235, 298, 540, 600, 662, 698, 819, 822, 891, 907, 910, 922, 932f., 963f., 966, 982, 987, 1031, 1048, 1053, 1066, 1080, 1083, 1126; 1879, S. 14, 41, 57, 75, 84, 101f., 193, 201, 279, 309, 345, 378, 484, 516, 519, 539, 567, 614f., 615, 620, 696, 710, 727, 824, 889, 941, 984, 1097; 1880, S. 26, 76, 129, 132, 185, 188, 216, 232, 246, 269, 281, 297, 307, 314, 329, 344, 410, 461, 474, 540, 557, 617, 726, 825, 853, 1028, 1033, 1046, 1051, 1113; 1881, S. 28, 52, 59, 134, 145, 161, 182, 185, 266, 409, 491, 629, 889, 1002, 1017, 1060, 1096, 1157, 1174; 1882, S. 22, 39, 53, 60, 85, 153, 405, 486, 566, 612, 980, 999; 1883, S. 40, 232, 235, 282, 294, 321, 328, 413, 1174; 1884, S. 177, 185, 193, 391, 407, 461, 478, 501, 568, 570, 696, 914f., 974, 985, 1001, 1031, 1038, 1062, 1096; 1885, S. 23, 29, 107, 184, 196f., 225, 262, 310, 346, 388, 444, 467, 475, 477, 590, 679, 1001, 1016f., 1028, 1035, 1061, 1092; 1886, S. 72, 117, 129, 137, 232, 249, 329, 344, 380, 447, 501, 676, 903, 965, 1160, 1177; 1887, S. 130, 152, 166, 184, 281, 538, 890, 971, 1003, 1079, 1083; 1888, S. 27, 130, 167, 216, 246, 266, 467f., 753f., 788, 790, 794, 822, 1016; 1889, S. 41, 59, 150, 162, 299, 341, 411, 468, 499, 1159; 1890, S. 166, 354, 456, 1014; 1891, 153, 195, 390, 412, 564, 169, 625, 967, 1111, 1173; 1892, S. 131, 293, 470; 1893, S. 280, 312, 502, 516, 533, 664, 737; 1895, S. 231, 242, 401, 914, 995, 1004; 1896, S. 130, 258; 1897, S. 9; 1899, S. 297, 449, 450, 499, 743; 1900, S. 643

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Bildnachweis

(1) (Photograph: P.): Photographie von Anna Essipoff, ohne Jahr, Sammlung Manskopf der UB Frankfurt a. M., http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2003/7800429/, Zugriff am 4. Mai 2012.

(2) Photographien von Anna Essipoff und Theodor Leschetizky auf dem Titelblatt einer Notenausgabe vom Verlag D. Rather (Leipzig—Hamburg) 1884; http://commons.wikimedia.org/wiki/File:Leschetizky-Essipova.jpg?uselang=de, Zugriff am 13. Apr. 2012.

 

Kadja Grönke

 

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