Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Dreyfus, Alexandre, Alexandre-Dreyfus, Dreyfus-Alexandre, Dreyfuß-Alexandre, Charlotte, geb. Moyse

* 3. Nov. 1815 in Paris, † 28. Jan. 1901 in Paris, Harmonium-Spielerin und Komponistin. Als älteste von vier Töchtern des Metzgers Joseph Moyse und seiner Ehefrau Esther geb. Lévy wurde die Musikerin als Charlotte Moyse geboren, konzertierte unter dem Namen ihres ersten Mannes, Emmanuel Dreyfus (1807–1850), und trat in der Gesellschaft unter dem Namen ihres zweiten Mannes, Isaïe Alexandre (1805–1870), auf. Während der am 12. Nov. 1862 in Boulogne geschlossenen zweiten Ehe mit einem erfolgreichen Schreibwarenfabrikanten führte sie in Paris einen musikalischen Salon, in dem sie auch als Musikerin aktiv war. Das veranlasste die „Revue et Gazette Musicale“, sie in ein und demselben Artikel als Gastgeberin des nach ihr benannten Salons selbstverständlich „Mme Alexandre“ zu nennen, sie bei ihrem musikalischen Auftreten im Rahmen dieses Salons aber ebenso selbstverständlich als „Charlotte Dreyfus“ zu bezeichnen – wobei außer Frage steht, dass in beiden Fällen dieselbe Person gemeint ist (RGM 1863, S. 102). Einige Jahre später wird dies nochmals bestätigt: „On n’a pas oublié le beau talent d’organiste de Mlle Charlotte Dreyfus. Quoique devenue Mme Alexandre, l’éminente artiste n’a pas dit adieu à un art qui lui a valu de si beaux succès“ („Wir haben die schönen Leistungen des Fräulein Charlotte Dreyfus als Organistin nicht vergessen. Auch wenn sie Frau Alexandre geworden ist, hat die außergewöhnliche Künstlerin ihrer Kunst, die ihr so schöne Erfolge eingebracht hat, nicht Adieu gesagt“, RGM 1866, S. 85).

In zeitgenössischen Quellen wird Charlotte Dreyfus als „artiste organiste“ (Totenschein) oder als Pianistin und nicht mit dem heute gebräuchlichen französischen Ausdruck „harmoniumiste“ bezeichnet, denn sie spielte ausschließlich auf Instrumenten des 1829 gegründeten Pariser Industrieunternehmens Alexandre et Fils, für die aus rechtlichen und vermarktungstechnischen Gründen der Begriff „Harmonium“ bewusst nicht verwendet wurde. Nach der zweiten Eheschließung erwies sich die Namensgleichheit mit der Firma, deren reichhaltige Produktpalette sie offiziell präsentierte, als höchst werbewirksam, was häufig dazu geführt hat, die Harmoniumspielerin fälschlich als geborene Dreyfus und als Gattin des Sohnes und Geschäftsteilhabers, Edouard Alexandre (1824–1888, tatsächlich verheiratet mit Pauline Malherbes), zu bezeichnen (so auch in dem Nachruf auf diesen, Musical Opinion and Music Trade Review Apr. 1888, S. 323).Tatsächlich aber bestanden keine verwandtschaftlichen Beziehungen (Cercle de Généalogie Juive, https://www.genealoj.org/fr/charlotte-moyse-dreyfus-alexandre).

Über die Ausbildung von Charlotte Dreyfus ist derzeit nichts bekannt. Ihre künstlerischen Aktivitäten wurden jedoch hoch geschätzt; immer wieder wird sie als „une éminente artiste“ („eine herausragende Künstlerin“, Le Correspondant 1865, S. 236) bezeichnet. In ihrem Salon in der Pariser Rue Béranger verkehrten in den 1860er Jahren geladene Gäste aus Kunst und Literatur wie Hector Berlioz und Alexandre Dumas d. Ä. Die MusikerInnen, die bei ihr auftraten, spielten ebenso wie Charlotte Dreyfus mit Brillanz, Technik und effektvoller Selbstinszenierung ein Repertoire, das überwiegend aus Arrangements und Opernparaphrasen bestand. Das musikalische Niveau muss beachtlich gewesen sein, denn nach einer von 150 bis 200 Personen besuchten „soirée artistique [...] dans les salons de Mme Alexandre (Charlotte Dreyfus) [...] qui [...] avait été organisée par les soins de la gracieuse maîtresse de la maison, qui est en même temps une de nos grandes artistes“, schreibt die „Revue et Gazette Musicale", dass der Abend „aurait fait fortune à la salle Herz“ (die „künstlerische Soirée in den Salons der Frau Alexandre (Charlotte Dreyfus), die von der anmutigen Hausherrin, die zugleich eine unserer großen Künstlerinnen ist, ausgerichtet wurde, hätte auch in der Salle Herz Erfolg gehabt“, RGM 1863, S. 102). Im Rahmen des gemischten Programms spielte Charlotte Dreyfus eine Fantasie für Orgel (also Harmonium) und, gemeinsam mit dem Pianisten Auguste Mey, ein Duo aus Carl Maria von Webers Oper Der Freischütz für Orgel und Klavier, „executé avec un art, un goût extrêmes“ („vorgetragen mit außerordentlicher Kunstfertigkeit und Geschmack“, ebd.).

Tatsächlich beschränkte sich ihr Wirken nicht auf den halbprivaten Bereich ihres künstlerischen Salons. Auch öffentlich trat sie mit Erfolg auf, und zwar in gemischten Programmen wie denen der Violoncellistin Hélène de Katow am 2. Mai 1859 und am 22. März 1863, beide Male in der Salle Herz. Über einen Auftritt am 22. Dez. 1852 in der Salle Herz schreiben die „Archives israélites“: „Madame Charlotte Dreyfus, pianiste fort habile, [...] a fait éprouver à l’auditoire de délicieuses sensations [...]. La salle était comble et le succès de la bénéficiaire a été complet (Frau Dreyfus, eine sehr fähige Pianistin, [...] hat der Hörerschaft genussreiche Empfindungen beschert [...]. Der Saal war voll und der Erfolg der Konzertgeberin war ein vollständiger“, Archives israélites 1852, S. 57). Marie Rattazzi (geb. Laetita Marie Wyse Bonaparte, 1833–1902) formuliert in Les mariages de la créole sehr poetisch: „Charlotte Dreyfus, dont l'orgue fait vibrer les cordes les plus secrètes de l'âme“ („Charlotte Dreyfus, deren Orgel die geheimsten Saiten der Seele vibrieren lässt“, Rattazzi, S. 34).

Trotz der vielen Verweise auf die musikalischen Qualitäten der Künstlerin ist der Bezug speziell auf die von Alexandre hergestellten Harmonium-Modelle evident („une éminente artiste, madame Charlotte Dreyfus, a fait entendre, sur l'orgue de salon de M. Alexandre“; „eine außergewöhnliche Künstlerin, Frau Charlotte Dreyfus, hat sich auf der Salon-Orgel [der Firma] Alexandre hören lassen“, Le Correspondant, 1865, S. 236). Diese Verbindung zwischen der namhaften Interpretin und den von ihr eindrucksvoll gespielten Instrumenten war für beide Seiten ein wichtiger Werbefaktor. Zwar stand das Instrument auch für die zeittypische Neigung zu technischer Neuerung und Sensation, sodass Charlotte Dreyfus Auftritte sich die Aufmerksamkeit teilten mit „La lanterne magique électrique, les stéréoscopes américains, les photographies microscopiques“ („elektrische Laterna magica, amerikanische Stereoskopie, Mikrophotographie“; Le Correspondant 1965, S. 236). Vor allem aber bot das aufwändig dekorierte Harmonium als typisches Möbelstück des Salons des Second Empire das passende optische Gegenstück zur geschmackvoll auftretenden Dame des Hauses (Dieterlen Bd. 1, S. 226).

Einen eindrucksvollen Beleg für die Verbindung von Musik und Dekor bietet der Bericht über ein Konzert, das im Apr. 1863 unter Mitwirkung von Charlotte Dreyfus im fantasievoll geschmückten Atelier des Photographen Nadar stattfand: „Samedi dernier, notre spirituel photographe Nadar avait transformé ses ateliers en salons champêtres et en jardins: lumières à profusion, verdure, fleurs, grottes et cascades, rien n’y manquait; c’était un spectacle féerique, y compris les jolies femmes. Dans cet Éden improvisé, Nadar donnait une belle et bonne soirée musicale. [...]. Jamais on n’avait entendu éclater autant de bravos dans un atelier de photographie. Quel riant album si le collodion pouvait reproduire l’enthousiasme!“ („Am vergangenen Samstag hatte unser geistreicher Photograph Nadar seine Ateliers in ländliche Salons und in Gärten verwandelt: Lichter in Hülle und Fülle, Grünpflanzen, Blumen, Grotten und Kaskaden, nichts fehlte; es war ein feengleiches Spektakel, hübsche Frauen mit eingeschlossen. In diesem improvisierten Garten Eden gab Nadar eine schöne und gute musikalische Soirée. [...] Nie zuvor hat man in einem Fotoatelier so viele Bravos gehört. Was für ein heiteres Album gäbe das, wenn man den Enthusiasmus auf einer Fotoplatte wiedergeben könnte!“ Le Ménestrel 1863, S. 150.)

Über ihre künstlerischen Qualitäten hinaus scheint der sichere Instinkt für den äußeren Effekt Charlotte Dreyfus als Werbeträgerin besonders interessant gemacht zu haben. Ihre Auftritte förderten nicht nur den Vertrieb der unterschiedlichen Instrumente der Firma Alexandre et Fils, sondern auch das Entstehen und den Absatz des instrumentenspezifischen Notenmaterials (das ebenfalls von dieser Firma gedruckt und verkauft wurde). Auch sie selbst hat arrangiert und komponiert, und zwar Klavierstücke, möglicherweise auch Militärmusik, vor allem aber Werke für Orgel bzw. Harmonium, die zwischen 1857 und 1864 in Paris bei Alexandre und bei Brandus & Dufourim Druck erschienen (Vernet 2007, S. 33, nach Guillot 2003) und die offenbar vollkommen ihr künstlerisches Profil widerspiegelten: „Mme Charlotte Dreyfus, la sympathique artiste, ouvrait le concert avec une de ces cèlestes [sic] reveries [sic] qui n’appartiennent qu’à elle („Frau Dreyfus, die sympathische Künstlerin, eröffnete das Konzert mit einer ihrer himmlischen Träumereien, die nur ihr allein eigen sind“; Les matinées italiennes 1868, S. 294).

Angesichts ihrer Verbindung von künstlerischer Produktion und Reproduktion, ihrer sowohl gesellschaftlichen wie künstlerischen Aktivitäten im eigenen Salon und in der Öffentlichkeit, ihrer Bindung an ein Produkt der Zeit und ihrer merkantilen und werbewirksamen Aktivitäten gilt: „Charlotte Alexandre-Dreyfus représente particulièrement bien l’artiste de salon de ce milieu du second empire, sorte d’incarnation de la femme bourgeoise idéale“ („Charlotte Alexandre-Dreyfus verkörpert die Salonkünstlerin dieser Gesellschaftsschicht des Second Empire, den Inbegriff der idealen bürgerlichen Frau, besonders gut“, Vernet, S. 33).

 

 

 

KOMPOSITIONEN FÜR HARMONIUM

La belle Hollandaise – Valse brillante, 1873 (Herzogenbusch/Mosmans)

La Gardenia – Valse, ca. 1875 (in: Album pour l'orgue Alexandre)

 

KOMPOSITIONEN FÜR KLAVIER

Charmeuse – Polka-mazurka

Le Zéphyr – Galop, 1878

 

LITERATUR

Archives israélites 1852, S. 57

Le Correspondant 1865, S. 236

Fremden-Blatt [Wien] 11. Dez. 1866

Gazette anecdotique, littéraire, artistique et bibliographique 1898, Bd. 1, S. 160

Les matinées italiennes: revue anecdotique, artistique et littéraire par Mr. le Baron Stock [i.d. M.l.b.-W. Rattazzi], avec la collaboration de Mm. Ste Beuve, Jacob [Paul Lavroix], Vepereau [u. a.] 1868, S. 210, 294

Le Ménestrel 1863, S. 150

Musical Opinion and Music Trade Review 1888, S. 323

NZfM 1869, S. 234

Le Petit Journal, 4. Apr. 1863, S. 1

RGM 1854, S. 131; 1855, S. 124, 212; 1856, S. 15; 1857, S. 95; 1858, S. 85; 1859, S. 106; 1860, S. 302; 1861, S. 62; 1862, S. 45, 390, 403; 1863, S. 102; 1864. S. 159; 1865, S. 134, 367; 1866, S. 85f.; 1867, S. 386f.; 1869, S. 39; 1870, S. 231, 378; 1872, S. 80, 126; 1873, S. 166; 1875, S. 56; 1876, S. 407; 1877, S. 174, 183

Riemann 12, Sartori Enci, Fétis Suppl.

Hector Berlioz, Critique musicale 1823-63, hrsg. von Anne Bongrain u. Marie-Hélène Coudroy-Saghaï, Bd. 6 (1845–1848), Paris 2008.

Constant Pierre, Les Orgues Mélodium d’Alexandre Père & Fils, Paris 1855.

Marie Rattazzi, Les mariages de la créole, Brüssel 1866.

Alexandre Dumas d. Ä., Causeries sur l’Italie à Madame Charlotte Dreyfus, Paris 1869.

Société des artistes français (Hrsg.), Explication des ouvrages de peinture, sculpture, architecture, gravure, et lithographie des artistes vivants exposés au Palais des Champs-Elysées, Paris 1886.

[Ohne Autor,] Charlotte Dreyfus et Alexandre Dumas, in: Les Matinées Espagnoles, 30. März 1887.

Constant Pierre, Les facteurs d’instruments de musique, Paris 1893.

[Ohne Autor,] Mémoires de l’Académie de Stanislas, Nancy 1894.

Daniel Gregory Mason, The Art of Music. A Comprehensive Library of Information for Music Lovers and Musicians, 14 Bde., Bd. 11, New York 1915.

Arthur W. J. G. Ord-Hume, Harmonium: The History of the Reed Organ and its Makers, New York 1986.

Gero Ch. Vehlow, Studien zur Geschichte der Musik für Harmonium, Regensburg 1998.

Michel Dieterlen, L’harmonium, le Jeu Expressif du Second Empire et la Voix Céleste du XIXième siècle (thèse en 4 vol.), Villeneuve d’Ascq 1999. Auch auf: http://www.harmoniumnet.nl/boek-frans-dieterlen-masterthesis1982.html, Zugriff am 17. Juni 2011.

David Rosen, A Tale of Five Cities: The Peregrinations of Somma's and Verdi's Gustavo III (and Una vendetta in dominò and Un ballo in maschera) at the Hands of the Neapolitan and Roman Censorshipin: Verdi Forum 26-31, American Institute for Verdi Studies, New York 1999, S. 53-66.

Pierre Guillot, Dictionnaire des organistes Français des XIXe et XXe siècles, Sprimont 2003.

Bruno Blondé u. Natacha Coquery, Retailers and consumer changes in early modern Europe: England, France, Italy, and the Low Countries, Tours 2005.

Alain Vernet, En parcourant la méthode pour l’Orgue-Alexandre de Lebeau et Durand, in: L’harmonium français, N° 2, décembre 2007.

Harmoniums et Anches libres. Forum francophone http://harmonium.forumactif.net; Zugriff am 10. Juni 2011.

Warwick Bardon Henshaw, Biographical Dictionary of the Organ, http://www.organ-biography.info/index.php?id=Doon, Zugriff am 15. Juli 2011.

Kadja Grönke, À la recherche de Mme Alexandre ... Ein Plädoyer für eine erkenntnisgeleitete Gender-Forschung, in: un/verblümt. Queere Politiken in Ästhetik und Theorie, hrsg. von Josch Hoenes u. Barbara Paul, Berlin 2014, S. 172–185.

Cercle de Généalogie Juive, https://www.genealoj.org/fr/charlotte-moyse-dreyfus-alexandre, Zugriff am 1. Febr. 2021.

 

 

Bildnachweis

Charlotte Alexandre-Dreyfus, Carte de visite von Disderi, 1854 (?), auf: http://www.harmonium.fr/fichiers-a-telecharger/en-parcourant-la-methode-pour-l27orgue-alexandre-de-lebeau-et-durand-28alain-vernet29.pdf, S. 33, Zugriff am 14. Juni 2011.

 

Kadja Grönke

 

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