Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Godillon, (Agathe-Anaïs-) Juliette (Künstlername Dillon)

* 23. Dez. 1823 in Orléans, † 8. Aug. 1854 vermutlich in Paris, Pianistin, Klavierimprovisatorin, Organistin, Komponistin und Musikschriftstellerin. Sie wurde anfangs von ihrer Mutter Elisabeth Godillon geb. Fournier, einer in Orléans tätigen Musiklehrerin, unterrichtet, und zwar schon frühzeitig in Solfège und im Alter von neun Jahren in Klavier und Musiktheorie. Mit zehneinhalb Jahren improvisierte sie bereits auf dem Klavier. Zu dieser Zeit lernte Juliette Godillon in der Kirche St.-Paterne in Orléans Orgelspielen. Ihr blinder Lehrer Marius Gueit (1808–1864), ein ehemaliger Kindervirtuose und nun an dieser Kirche angestellt, hatte kurz zuvor sein Studium am Institut des jeunes aveugles in Paris abgeschlossen und sollte später das angesehene Organistenamt an St.-Denys-du-St.-Sacrement in Paris übernehmen. Marius Gueit führte die junge Musikerin in das Standardrepertoire der französischen Berufsorganisten ein (Joh. Seb. Bach, Claude Balbastre, François Couperin) und förderte ihre Improvisationsfähigkeit, indem er sie in liturgischer Aufführungspraxis unterwies. 1837, im Alter von 14 Jahren, wurde sie von ihrer Mutter nach St.-German-en-Laye gebracht, in der Hoffnung, dass eine größere Nähe zu Paris ihr die Möglichkeit einer Karriere als Konzertpianistin eröffnen würde. Wenig später erhielt Juliette Godillon indessen die bedeutende Stelle einer Organistin an der Kathedrale von St.-Etienne in Meaux. Neben den Verpflichtungen des Amtes begann Juliette Godillon, Klavierwerke zu komponieren, darunter eine auf Hoffmanns Erzählungen von Offenbach basierende Fantasie in zehn Teilen, die 1847 mit positiver Kritiker-Resonanz publiziert wurde.

Versuche, eine Karriere als Pianistin voranzutreiben, wurden 1848 durch die Februar-Revolution durchkreuzt. Kurz bevor sie nach Paris reisen wollte, kam es dort zu heftigen und anhaltenden Demonstrationen, und Louis Philippe sah sich zur Abdankung gezwungen. Die Konzert-Szene, weitgehend beherrscht von der Pariser Elite, war stark von diesen Ereignissen betroffen, und wichtige künstlerische Persönlichkeiten wie Chopin flohen nach England. So blieb Juliette Godillon zunächst in Meaux. Die Wahl von Louis Napoléon Bonaparte zum Präsidenten der Republik im September 1848 trug jedoch dazu bei, den Weg für ihre Konzertkarriere zu ebnen: Am 2. Sept. 1849 fand in der Kathedrale von Meaux in Anwesenheit des „Prince-président“ die Einweihungsfeier für die Eisenbahnstrecke Paris – Epernay statt. Juliette Godillons Orgelspiel bei der feierlichen Messe, die zu Ehren des Präsidenten zelebriert wurde, wurde in der „Revue et Gazette musicale“ lobend erwähnt. Der Korrespondent fügte hinzu, dass Louis Napoléon die Widmung ihrer jüngsten Komposition, France! marche militaire, angenommen habe. Am 30. Juni 1850 hörte sie ein anonymer Autor derselben Zeitschrift beim Improvisieren auf dem Klavier: Als eine der fähigsten Pianistinnen der Stadt hatte sie die Aufgabe, die Preisträger eines Geigen- und Gesangswettbewerbs zu begleiten. Kurzfristig wurde der Gesangsauftritt abgesagt, und Juliette Godillon sprang ein, um zu zufällig ausgewählten Themen zu improvisieren – u. a. Arien aus Boieldieus Oper La Dame blanche. Dies trug ihr eine weitere lobende Besprechung ein.

Am 7. Juli 1850 würdigte Henri Blanchard, Konzertkritiker der „Revue et Gazette Musicale“, Juliette Godillons Komposition France! marche militaire. Der Name Dillon, erklärte er bei dieser Gelegenheit, sei in der Zeitschrift durch einen Irrtum entstanden: Godillon sei als G. Dillon gedruckt wurden, und dies habe sie versehentlich zu einer Musikerin „d´origine irlandaise“ („irischen Ursprungs“, RGM 1850, S. 229) gemacht.

Fortan fand der Name Dillon für alle Besprechungen und Publikationen Verwendung. 1851, vor dem Staatsstreich, begann sich das Musikleben in Paris wieder zu normalisieren. Am 30. März 1851 gab Godillon einen kurzen Auftritt als Improvisatorin und wirkte als Gesangsbegleiterin im berühmten Salon der Baronin Amaury de Maistre. Nun weitete sie ihre Tätigkeit auf die „Salles de Concert“ aus, in Paris neu entstandene Konzerthallen für die öffentliche Aufführung von Instrumental- und Vokalmusik. Als Louis Napoléon seine zweite, andauernde Herrschaftszeit als französischer Kaiser begründete, begann Godillon offiziell ihre Konzertlaufbahn. Obwohl ihr ‚Debut‘ am 28. März 1852 im Saal der Association des Artistes Musiciens stattfand, war ein früheres Konzert an bescheidenerem Ort, der Salle Ste.-Cécile, am 14. März ebenso bedeutsam. Juliette Godillon präsentierte dort ihr erstes, durchgehend aus Improvisationen bestehendes Programm. Im ersten Teil improvisierte sie über verschiedene Themen aus Opern und Kammermusik, im zweiten über Themen, die Blanchard selbst vorgab. Das Konzert war ein großer Erfolg. Godillon beeindruckte sowohl anspruchsvolle Kritiker der „musique sérieuse“ wie Blanchard als auch die an populären Strömungen orientierten Journalisten der Tagespresse. Blanchard bezeichnete sie als „pianiste habile et fantaisiste originale“ („geschickte Pianistin und originelle Improvisatorin“, RGM 1852, S. 84).Jules de Prémaray von der „Patrie“ nannte sie „un génie“ (L’Avenir Musical 15. Jan. 1853, S. 5.).„En présence de l’improvisateur [on se sent agité; on tremble pour lui, et à chacune de ses heureuses inspirations, l’enthousiasme éclate spontané comme l’improvisation elle-même“ („In Anwesenheit der Improvisatorin […] fühlt man die Erregung mit; man zittert mit ihr, und bei jeder ihrer glücklichen Inspirationen bricht die Begeisterung los, so spontan wie ihre Improvisationen“, L’Avenir Musical 1853, S. 5). Einige ihrer Improvisations-Themen wurden von ihr selbst, andere während des Konzerts vom Publikum ausgewählt. Galoppe d’Orquaire, Rezensent der Zeitschrift „L´Avenir Musical“, sinnierte: „Je ne serais pas fâché d’entendre, J’ai du bon tabac dans ma tabatière, combiné avec la Marche de Moïse, entrecoupée de l’air Au clair de la lune, saupoudré des motifs de Lucie, le tout roulant sur la grande sonate en ut dièse de Beethoven“ („Ich wäre nicht überrascht zu hören, wenn J’ai du bon tabac dans ma tabatière, mit der Marche de Moïse kombiniert, von dem Lied Au clair de la lune unterbrochen, mit Motiven aus Lucie durchsetzt und das alles auf die große Sonate in Cis von Beethoven zurollen würde“, L’Avenir Musical 1853, S. 5).

Die Musikerin versuchte, aus derartigem musikalischen Material nicht ein Potpourri zu entwickeln, ihr Ziel war eine anspruchsvolle musikalische Gestaltung. Im „L´Avenir Musical“ von 1853 ist eine Unterhaltung zwischen dem Kritiker (Pier Angelo) Fiorentino und Juliette Godillon abgedruckt: Als die Pianistin ihn um einige Melodien bat, antwortete dieser: „Mon Dieu, Mademoiselle, suivez librement votre inspiration [pourquoi vous imposer des entraves?“ („Mein Gott, Mademoiselle, folgen sie frei ihrer Inspiration […] warum sollten Sie sich Schranken auferlegen?“, L’Avenir Musical 1853, S. 5). Godillon entgegnete: „Vous avez raison [], mais j’ai le plus grand respect pour la galerie, lorsqu’elle est aussi bien composée“ („Sie haben recht […], aber ich habe den größten Respekt vor dem Publikum, wenn es aus so anspruchsvollen Leuten besteht“, L’Avenir Musical 1853, S. 5). Sie hatte demnach den Anspruch, vorhandenes musikalisches Material geistreich und gekonnt zu verbinden. Ihre Improvisationen sollten ihre HörerInnen nicht nur unterhalten, sondern sie auch mit virtuosen, aus dem Stegreif entwickelten Darbietungen beeindrucken.

Juliette Godillon errang nicht den Ruhm von Interpreten wie Liszt, Thalberg oder Paganini. Sie gab keine Solo-Konzerte an so herausgehobenen Orten wie der Pariser Oper und verfügte nicht über einen Agenten, der ihren Namen verbreitet hätte. Aber sie trat in sämtlichen größeren Pariser Konzertsälen auf und errang die Bewunderung aller musikliebenden Kreise. Es gab zu ihrer Zeit eine Reihe anderer Pianistinnen auf den Konzertpodien, aber sie scheint die einzige gewesen zu sein, der die einhellige Verehrung eines so breit gefächerten Publikums entgegengebracht wurde. Besonders wurde sie für die Intensität ihres musikalischen Ausdrucks gelobt. Clara Schumann hatte in den 1830er Jahren in Berlin in privaten und öffentlichen Konzerten eine ähnliche künstlerische Anerkennung erfahren. Beide wurden als ‚genial‘ wahrgenommen, nicht wegen ihrer technischen Brillanz, ihrer Perfektion oder ihrem hinreißenden Vortrag, sondern wegen ihrer außergewöhnlichen geistigen Ausdruckskraft und Intensität. In Paris war Godillon bei ihren Auftritten von Bewunderern belagert, darunter scharenweise SchriftstellerInnen und Kritiker aus der Musik- und Theaterszene der frühen 1850er Jahre. Ihrem Zeugnis zufolge war Juliette Godillon keine der stromlinienförmigen Musikerinnen, deren Karriere mit der aktuellen Mode stieg oder fiel, sondern eine bedeutende Musikerin von bleibendem Rang. „Voilà les merveilles d’art, voilà ce que fait Mlle Dillon!“ („Dies sind die Wunder der Kunst, das ist es, was Mlle. Dillon hervorbringt“, L’Avenir Musical 1853, S. 4f.).

Ihre Bühnenauftritte waren eindrucksvoll konzipiert: Sie erschien aus der dunkelsten Ecke des Raumes in einem langen tiefschwarzen Kleid, das Haar geschnitten und mit schwarzen Blumen geschmückt. Der „maître de maison“ führte sie zum Klavier, wo sie, die Hände auf die Tastatur gelegt, zunächst in meditativer Versenkung verharrte. Was folgte, die vielgepriesene „improvisation musicale“, wurde beschrieben als „une étincelle divine qui s’échappe de son souffle inspire, et qui – par un phénomène intellectuel bien plus extraordinaire – passe de la tête aux doigts dans une composition instantanée aussi correcte de style, aussi élégante de forme, aussi parfaite d’harmonie que si elle avait été longuement élaborée“ („ein göttlicher Funke, der aus ihrer Eingebung entsteht und der – durch eine außergewöhnliche geistige Erscheinung – vom Kopf in die Finger gelangt in einer spontanen Komposition, so rein im Stil, so elegant in der Form, so vollkommen in der Harmonie, als ob sie von langer Hand ausgearbeitet worden wäre“, L’Avenir Musical 1853, S.6). Godillon ähnele einer „vierge […] cloîtrée dans l’art […] [qui] se livre à la fougue de l’inspiration, sans s’écarter des règles sévères de la science“ („einer ausschließlich der Kunst geweihten Jungfrau, […die] sich dem Ungestüm der Einbildungskraft überlässt, ohne von den strengen Regeln der Wissenschaft abzuweichen“, L’Avenir Musical 1853, S. 4–6). Der zeitgenössischen Resonanz zufolge hatte ihr Auftreten eine faszinierende spirituelle Aura, die kaum Jemanden im Saal unberührt ließ.

Godillons Ausstrahlung zeigte sich nicht nur in ihrem musikalischen Auftreten. Eine bemerkenswerte Energie vermittelt sich auch in ihren Schriften. Wie Berlioz war sie als Musikkritikerin im wöchentlich publizierten Theater-Feuilleton des „Moniteur Parisien“ tätig, einer gemäßigten republikanischen Zeitung, die von März 1851 bis Febr. 1852 erschien. Für dieses Blatt verfasste sie eine Reihe von Beiträgen über die sittlichen Wirkungen der Musik, wobei sie gegenüber der lärmenden Pariser Kultur der 50er Jahre eindeutig eine kritische Position bezog.

Im Nov. 1852 gründete die Musikerin die Zeitschrift „L’Avenir Musical“ mit der Zielsetzung, die „bonne musique“ zu fördern. Damit ist anspruchsvolle Musik gemeint,  im Gegensatz zu Straßen- oder Kabarett-Musik, die sie ablehnte. Auf Subskriptionsbasis erhielten die LeserInnen per Post ein Exemplar der Zeitschrift und eine individuelle Auswahl an Noten. Die SubskribentInnen setzten sich aus allen Altersgruppen zusammen, sie wurden in ganz Frankreich und später auch in den Kolonien beliefert. Es waren sowohl Frauen als auch Männer unter ihnen, obwohl das Journal offiziell als Zielgruppe junge Frauen ansprechen wollte, die, wie der Redakteur E. Plaine feststellte, „s’occupent presque toutes aujourd’hui de la musique“ („sich heute fast alle mit Musik beschäftigen“, L’Avenir Musical 1852, S. 1). Juliette Godillon verfasste die meisten Rezensionen und Artikel der Zeitschrift selbst. Sie publizierte außer unter ihrem Künstlernamen Juliette Dillon auch unter einer Reihe von Pseudonymen (beispielsweise Richard Sincère, Quelqu’un und Camille Dubreuil). In ihrem Büro in Paris stellte sie die Musiksendungen zusammen und beantwortete die Briefe von LeserInnen. Im Subskriptionspaket bot sie auch ihre eigenen Kompositionen als besonderes Album an. Sie behielt die Leitung des Journals bis Febr. 1853. Im selben Jahr gründete sie eine weitere Zeitschrift, „Le Progrès Musical. Journal des familles“, mit dem hohen Anspruch: „Enseigner l’art musical à la jeunesse, c’est justifier notre titre, car les progrès de toutes choses sont toujours en germe dans les jeunes générations“ („Der Jugend die Kunst der Musik zu vermitteln, das ist es, was unseren Titel begründet, denn der Fortschritt aller Dinge hat immer seinen Keim in der jüngeren Generation“, Le Progrès Musical 1853, S. 1). „Le Progrès“ führte das Anliegen von „L’Avenir“ durch die Neuauflage vieler Texte und den Nachdruck besonderer Ausgaben fort. Die letzte Nummer erschien am 16. Mai 1854, drei Monate vor Godillons Tod.

Lithographie von Charles Bour (1814–1881): Portrait Mademoiselle Juliette Godillon, Organiste de la Cathédrale de Meaux, mit Gedicht, Archives départementales de Seine-et-Marne, 6FI623.

Mademoiselle Juliette Godillon, Organiste de la Cathédrale de Meaux.

Vous dont le cœur parle pour elle
Sur une fin si prompte si cruelle
Ne pleurons pas!
Qu’importe la mort ici-bas?
La tombe est le berceau de la vie éternelle! 

Vers prononcées sur la tombe de Mademoiselle Godillon, dite Dillon par M. Victor Roussay

Mademoiselle Juliette Godillon, Organistin der Kathedrale von Meaux.

Ihr, deren Herz für sie spricht
Über ein so schnelles und grausames Ende
Lasst uns nicht weinen!
Was zählt der Tod hier auf Erden?
Das Grab ist die Wiege des ewigen Lebens! 

Gedicht, vorgetragen am Grab von Mademoiselle Godillon, genannt Dillon, von M. Victor Roussay

 

WERKE FÜR KLAVIER

Contes fantastiques de Hoffmann, Paris o. J.; Dix contes fantastiques de Hoffmann,  2. Aufl. Paris o. J.

 

PUBLIKATIONEN

Le Moniteur Parisien. Journal politique, littéraire et commercial (Musikkritikerin 1851–1852)

L’Avenir Musical (Gründerin, Herausgeberin und Autorin 1852–1853)

Le Progrès Musical. Journal des familles (Gründerin, Herausgeberin und Autorin 1853–1854)

 

LITERATUR

Archives départementales de Seine-et-Marne: Lettres de Juliette Godillon, dite Dillon, organiste de la cathédrale de Meaux et compositrice

AmZ 1848, S. 320

L´Avenir Musical 1852, S. 1; 1853, S. 4, 5, 6

NZfM 1850 I, S. 166

RGM 1849, S. 287; 1850, S. 222, 228f.; 1851, S. 90-100; 1852, S. 84, 99f.

Signale 1849, S. 111

I. J. Sykes, „Gender and musical performance in mid-nineteenth-century France: the case of Juliette Godillon and the femme d'esprit", in: French History 2010, H. 12.

Bildnachweis

Lithographie von Charles Bour

Archives départementales de Seine-et-Marne, 6FI623

Mit Dank an:

Département de la musique, BNF

Service départemental d’Archives du Loiret

 

Ingrid Sykes

Übersetzung: Jannis Wichmann

 

© 2012 Freia Hoffmann