Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Roger-Miclos, geb. Miclos, verh. Roger-Miclos-Battaille, (Aimée-)Marie, Maria

* 1. Mai 1860 in Toulouse, † 1950 (Paris?), Pianistin und Klavierlehrerin. Nach dem Besuch des Konservatoriums in Toulouse setzte sie ihre Ausbildung 1874 am Pariser Konservatorium bei Henri Herz (1803–1888) und Louise Massart fort und schloss sie dort 17-jährig 1877 mit einem ersten Preis ab. Auguste Wolff, Inhaber der Klavierfirma Pleyel, Wolff & Cie., war Mitglied der Jury, schenkte Marie Miclos einen Flügel und förderte die junge Künstlerin anschließend durch Auftrittsmöglichkeiten in der Salle Pleyel.

 

Marie Roger-Miclos, Stich von Robert-Kiss.

 

Regelmäßige Auftritte sind in Paris ab 1879 in der Société nationale, bei Pasdeloup, im Châtelet, in Cirque d’Hiver u. a. nachgewiesen, 1879 und 1881 zusammen mit der Geigerin Marie Tayau. Ab 1882 wird sie nicht mehr als  „Mlle Miclos“, sondern als „Mme Roger-Miclos“ bezeichnet. Im Herbst 1889 konzertierte sie einige Wochen in London. Dort empfing die Fachpresse sie als „extremely brilliant and able performer, who comes to this country with a Parisian reputation“ (The Saturday Review of Politics, Literature, Science, and Art 1889, S. 495), kritisierte teilweise aber „the exaggeration into which the artist’s self-consciousness occasionally led her (MusW 1889, S. 590). Übereinstimmend wurde ihre Interpretation von Mendelssohns Konzert g-Moll in den Covent Garden Concerts als technisch brilliant, aber musikalisch wenig überzeugend kritisiert: „Mendelssohns Concerto in G minor was treated as if it were solely a vehicle for technical display, the last movement being utterly ruined by the breathless tempo adopted“ (MusW 1889, S. 617). Eine günstigere Aufnahme fand sie mit dem Klavierkonzert g-Moll von Saint-Säens in den Crystal Palace Konzerten: „Mme. Roger-Miclos has a powerful touch, and her execution is not only technically excellent, but characterized by extraordinary brilliancy“ (The Saturday Review of Politics, Literature, Science, and Art 1889, S. 495). Auch in den folgenden Jahren (bis 1895) verbrachte sie jeweils einige Monate in London und konzertierte mit Solo-Literatur ihrer „favourite masters“ Beethoven, Schumann und Chopin (The Musical Standard 1893, S. 479). Nur selten ergänzte sie ihre Programme mit Kammermusik, so 1894 mit Violinsonaten von Moritz Moszkowski und Edvard Grieg. Die Presse wiederholte teilweise die Charakterisierung von 1889 („she was less successful in works which may be regarded as classical than in pieces in the more showy style of Moszkowski and Godard, MusT 1894, S. 462). Die „Musical Opinion and Music Trade Review“ befand hingegen: „A singular combination of female grace and masculine energy, keen artistic perceptiveness and brilliant mechanism, enabled this eminent pianist to realize with equal success the classic simplicity of Mozart, the romantic intensity of Schumann and Chopin, the elegance and chic of Godard and Moszkowski. The rendering of Grieg’s beautiful Sonata in C minor, for piano and violin (Op. 45), rivalled the memorable performance given some years ago by the composer in person with the same violinist, Mr. Johannes Wolff, at St. Jamess Hall. Higher praise is impossible (Musical Opinion and Music Trade Review 1894, S. 622).

Im deutschsprachigen Raum, den sie 1894 und 1895 bereiste (Berlin, Wien, Dresden, Leipzig), galt sie als „vorzügliche Repräsentantin der Pariser Schule und wurde mit großem Beifall ausgezeichnet“ (Signale 1894, S. 531). Entsprechend wählte sie im Folgejahr ihr Programm, als sie in Berlin mit dem Philharmonischen Orchester in der Singakademie auftrat: „Das technisch abgerundete, elegante und geschmackvolle Spiel der Dame hat bereits in voriger Saison viel Anerkennung gefunden. Diesmal kam uns Frau Roger-Miclos durchaus national. Sie spielte ein ausgedehntes Programm mit größtentheils unbekannten französischen Compositionen, doch kann man nicht behaupten, daß sie den Hörern damit einen großen Gefallen erwies. Saint-Saëns’ bekanntes Gmoll-Clavierconcert und seine zum ersten Male gehörte geistvolle Afrika-Fantasie ausgenommen, brachte das Programm nur leichte und seichte Waare, sowohl in einem Clavierconcert von G. Pierné wie in einer Anzahl kleinerer Stücke von Godard, Massenet, Chabrier und Andern“ (Signale 1895, S. 251). Auch in Wien fand man, ihr Spiel übe „einen sympathischen Eindruck nicht aus, weil das Absichtliche, Raffinirte dominirt und den Vorträgen der gesunde musikalische Sinn fast vollständig fehlt“ (Signale 1895, S. 293). Als sie 1897 eine dritte Reise nach Deutschland unternahm (Konzerte in Berlin und Leipzig), wurde sie von der „Neuen Zeitschrift für Musik“ ebenfalls in erster Linie als Französin wahrgenommen: „Als ein Zeichen der sich immer friedlicher gestaltenden politischen Constellation kann man die zahlreichen musikalischen Boten, die uns Frankreich sendet, betrachten. So lange dieselben signalisirt werden, ist kein Krieg in Sicht. Außer der schon erwähnten Mlle. Panthès, begrüßten wir neulich mit Vergnügen Madame Roger-Miclos auf dem Concertpodium, eine der Hauptrepräsentantinnen der französischen Clavierschule, einen ‚officier de l’Instruction Publique‘, wohlverstanden ohne Degen und Sporen. Glänzende Virtuosität, feinpointirter Vortrag, picante Nüancirung und schon männlich zu nennende Kraft und Ausdauer zeichnen die Darbietungen dieser Künstlerin in hohem Maße aus. Dieses Mal fesselten besonders ‚Prélude, Choral und Fugue‘ von César Frank [sic]. Vermag diese Künstlerin schon durch ihr geistreiches Spiel zu interessiren, so bietet die reizende, echt französische Erscheinung eine Augenweide, die gewiß nicht schädigend wirkt“ (NZfM 1897, S. 65). Ein in diesem Zusammenhang bemerkenswertes Programm wählte Roger-Miclos, als sie das Leipziger Publikum im selben Jahr mit Werken des Dessauer Hofmusikdirektors Friedrich Wilhelm Rust (1739–1796) bekannt machte.

Während die Musikerin auf dem Höhepunkt ihrer Karriere neben französischen Konzertorten wie Lille, Rouen, Nizza, Angers, Nancy, Reims, Marseille, Lyon, Aix-les-Bains und Pau auch Brüssel, Neuchâtel, den deutschsprachigen Raum, Prag, Petersburg und Anfang 1903 auch New York bereiste, konzentrierten sich ihre Auftritte nach 1910 auf Paris. Spätestens 1905 hatte sie in zweiter Ehe Louis-Charles Battaille (?–1937) geheiratet, Sohn des berühmten Bassisten Charles Amable Battaille (1822–1872), einen angesehenen Sänger und Gesangslehrer. Unter dem Namen Roger-Miclos-Battaille gab sie weiterhin Konzerte. Zu Themen-Abenden, die z. B. nur Werke von Chopin und Mozart oder Schumann und Debussy präsentierten, hielt ihr Ehemann einführende Vorträge. Eines ihrer letzten Konzerte mit Klaviersonaten von Beethoven und Schumann kommentiert die Zeitschrift „Lyrica“ mit großem Lob für Roger-Miclos Werktreue: „L’Appasionata [sic] et le Clair de Lune sont peut-être les deux Sonates les plus entendues de Beethoven. Et cependant, le nombre est petit des interprètes qui savent en exprimer la pensée profonde et exacte. Parmi ceux-là, Mme Roger-Miclos est une des plus remarquables. Ce n’est pas elle que l’on entend, dans ces œuvres, c’est Beethoven lui-même qui parle à ceux qui l’écoutent. De là l’émotion intense que cette haute artiste dégage de ses interprétations dans lesquelles on en remarque même la supériorité de sa technique tant elle n’est que la servante de l’idée („Die Appassionata und die Mondscheinsonate sind vielleicht die meistgehörten Sonaten Beethovens. Indessen ist die Zahl der InterpretInnen klein, die deren tiefen Sinn richtig zum Ausdruck bringen können. Unter diesen ist Mme. Roger-Miclos eine der bemerkenswertesten. Es ist nicht sie, die man in diesen Werken wahrnimmt, es ist Beethoven selbst, der zu jenen spricht, die ihr zuhören. Daher rührt das intensive Gefühl, das diese hohe Künstlerin in ihren Interpretationen entfaltet, und man nimmt in ihnen zudem die Vortrefflichkeit ihrer Technik wahr, umso mehr als sie nur die Dienerin des musikalischen Gehaltes ist“, Lyrica 1/1926, S. 978).

Die Pianistin setzte sich aber auch in Concerts de musique moderne für zeitgenössische Komponisten ein wie Charles Tournemire (1870–1939), Florent Schmitt (1870–1958), Sergej Michailowitsch Ljapunoff (1859–1924), Antoine Mariotte (1875–1955), Déodat de Sévérac (1874–1921), Alexander Tcherepnin (1899–1977), Ernst Toch (1887–1964), Manuel de Falla (1876–1946), Maurice Ravel (1875–1939), Paul Le Flem (1881–1984), Albert Roussel (1869–1937) und Henri Tomasi (1901–1971). Gabriel Pierné (1863–1937) widmete ihr sein Klavierkonzert c-Moll op. 12, Camille Saint-Säens seine Fantasie Africa für Klavier und Orchester op. 89, Jules Massenet seine Toccata in B-Dur.

Dem „Dictionary of Pianists“ zufolge wurde Marie Roger-Miclos 1891 zur Professorin ernannt und erhielt „the (for a lady) rare distinction of being made Officier de l’Instruction publique“. Der privat erteilte Unterricht wird in der Presse mehrfach erwähnt, ebenso Schülerkonzerte, die sie gemeinsam mit ihrem zweiten Mann veranstaltete.

1905 realisierte die italienische Firma Fonotipia Records (Dischi Fonotipia) Tonaufnahmen mit Marie Roger-Miclos, so dass Gelegenheit besteht, die widersprüchlichen Urteile der Zeitgenossen an Einspielungen von Chopin, Mendelssohn, Schumann, Liszt und Godard zu überprüfen.

 

Marie Roger-Miclos, Photographie, vor 1895.

 

TONAUFNAHMEN

1. Benjamin Godard, Mazurka B-Dur Nr. 4 aus op. 103,  XPh 735, Fonotipia 39253, Paris 1905

2. Frédéric Chopin, Walzer Des-Dur op. 64 Nr. 1, XPh 736, Fonotipia 39254, Paris 1905

3. Felix Mendelssohn, Spinnerlied C-Dur op. 67 Nr. 4 , XPh 737, Fonotipia 39255, Paris 1905

4. Felix Mendelssohn, Rondo capriccioso e-Moll 0p. 14, XPh 739, Fonotipia 39256, Paris 1905

5. Franz Liszt, Ungarische Rhapsodie Nr. 13 (Auszug), XPh 738, Fonotipia 39257, Paris 1905

6. Franz Liszt, Ungarische Rhapsodie Nr. 11, XPh 740, Fonotipia 39258, Paris 1905

7. Frédéric Chopin, Nocturne Fis-Dur op. 15 Nr. 2, XPh 2235, Fonotipia 39930, Paris Nov. 1906

8. Robert Schumann, Traumeswirren aus „Fantasiestücke” op. 12, XPh 2239, Fonotipia 39931, Paris Nov. 1906

9. Frédéric Chopin, Walzer cis-Moll op. 64 Nr. 2, XPh 2236, Fonotipia 39932, Paris Nov. 1906

10. Felix Mendelssohn, Scherzo e-Moll op. 16 Nr. 2, XPh 2238, Fonotipia 39933, Paris Nov. 1906

Die Nrn. 1, 2, 4, 5 u. 6 sind in Youtube (Zugriff 20. Mai 2011) eingestellt.

Die Nrn. 1, 2, 3,  4, 6 u. 9 sind veröffentlicht in French Women Pianists, Tahra TAH653-654, P2008.

Die Nr. 8 ist veröffentlicht in  A Multitude of Pianists. Rare recordings from the Harry  L. Anderson Collection, Ipam Records 1206, P2000.

 

LITERATUR

The Academy 1889, S. 210, 277

L’Actualité musicale 1910, S. 92

Art Journal 1890, S. 240

Bock 1894, S. 255; 1895, S. 205

Gazette Artistique de Nantes 1885, 19. Nov., S. 2f., 6; 26. Nov., S. 4; 3. Dez., S. 2, 5; 1886, 22. Apr., S. 7; 6. Mai, S. 6; 1890, 13. Febr., S. 3f., 5; 20. Febr., S. 2f., 5; 17. Mai, S. 3; 2. Okt., S. 4; 9. Okt., S. 4; 16. Okt., S. 4; 30. Okt., S. 4; 6. Nov., S. 3; 13. Nov., S. 3f.; 20. Nov., S. 3ff., 6; 1891, 15. Jan., S. [9]; 22. Jan., S. 6; 9. Mai, S. 2; 12. Sept., S. 6

La Grande dame. Revue de l’élégance et des arts 1895, S. 2, 7, 45ff.

Le Guide musical 1912, S. 374

The Lute 1889, S. 79; 1892, S. 194

Lyon artistique, théâtral, littéraire, musical 1900, 4. Febr., S. 5, 8; 11. Febr., S. 7

Lyrica 1923, S. 94; 1925, S. 657; 1926, S. 756; 1927, S. 978, 1064; 1929, S. 1477; 1930, S. 1605, 1624, 1894; 1931, S. 1984, 2018; 1932, S. 2164, 2214; 1933, S. 2465; 1935, S. 2672; 1937, S. 2784, 2790; 1938, S. 3059

Magazine of Music 1889, S. 186, 223; 1893, S. 150

Le Ménestrel 1926, S. 244

Monthly Musical Record 1890, S. 161; 1892, S. 63; 1897, S. 162

Musical News 1891, S. 177; 1892 I, S. 173; 1893 I, S. 568; 1894 I, S. 280, 437, 496, 558; 1895 II, S. 505

Musical Opinion and Music Trade Review 1892, S. 246; 1893, S. 650; 1894, S. 622, 697

The Musical Standard 1885 II, S. 38; 1889 II, S. 338; 1890 I, S. 187, 207, 543; 1890 II, S. 311; 1891 I, S. 319, 421; 1891 II, S. 503; 1892 I, S. 143, 146; 1893 I, S. 468, 479488; 1894 I, S. 400, 459; 1895 I, S. 157; 1895 II, S. 372, 388; 1903 II, S. 6; 1904 II, S. 4; 1905 I, S. 59

MusT 1882, S. 682; 1889, S. 662; 1890, S. 408; 1892, S. 148; 1894, S. 392, 462; 1896, S. 22, 263; 1897, S. 260, 476; 1898, S. 406; 1903, S. 188

MusW 1889, S. 590617630748; 1890, S. 476

NZfM 1882, S. 521; 1883, S. 125; 1886, S. 300; 1887, S. 579; 1888, S. 96; 1896, S. 333; 1897, S. 65, 67, 259, 412; 1899, S. 441; 1900, S. 494

Le Passe-Temps 19. März 1893, S. 3

La Renaissance musicale 1882, S. 405; 1883, S. 24, 55, 86

Revue Musicale S. I. M. 1910, S. 285; 1911, S. 100; 1912, S. 58; 1913, S. 22; 1914, S. 55, 58

La Revue Musicale Ste. Cécile 1897, 19. März, S. 93; 6. Aug., S. 19; 17. Dez., S. 36, 38; 1898, 7. Jan., S. 42, 45; 4. Febr., S. 59; 1. Apr., S. 95; 1. Juli., S. 141; 18. Nov., S. 19; 2. Dez. S. 26; 1899, 17. März., S. 87; 1900, 21. Dez., S. 43

Saturday Review of Politics, Literature, Science, and Art 1889, S. 495; 1890, S. 738

Signale 1879, S. 549, 581, 852f.; 1881, S. 23, 263, 629; 1882, S. 87, 950; 1883, S. 232; 1884, S. 1027; 1885, S. 118; 1887, S. 149, 213, 487, 534, 1144; 1888, S. 216; 1889, S. 151, 772, 787, 1014; 1890, S. 149, 355, 1141; 1891, S. 169, 422, 951, 998; 1892, S.132, 311, 1077; 1893, S. 613; 1894, S. 378, 531; 1895, S. 212251292f., 901; 1896, S. 342; 1897, S. 117, 121, 294, 321f.,; 1898, S. 36, 981, 1014; 1899, S. 182; 1900, S. 501, 757, 1110; 1902, S. 130

La Soirée Normande 7. Jan. 1892, S. 6

Ernst Pauer, A Dictionary of Pianists and Composers for the Pianoforte, London [1895].

Paul Vibert, Silhouettes contemporaines. Les hommes de mon temps, Paris u. Nancy 1900.

Cinquante ans de musique française (1874–1925), 2 Bde., Bd. 2, Paris 1925.

Richard Aldrich, Concert Life in New York 1902–1923, New York 1941, 21971.

George Kehler, The Piano in Concert, 2 Bde., Metuchen/N. J. 1982.

James Methuen-Campbell, Catalogue of Recordings by Classical Pianists, Bd. 1: Pianists born to 1872, Chipping Norton/Oxfordshire 1984.

Irène Minder-Jeanneret, Femmes musiciennes en Suisse romande. La musicienne professionelle au tournant du siècle dans le miroir de la presse (18941914), Yens s./Morges 1995.

 

Bildnachweis

Stich von Robert-Kiss: gallica.bnf.fr.

La Grande dame 1895, S. 47.

 

Freia Hoffmann

 

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