Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Emery, Emmy, Emma

 * 31. März 1856 in Moudon (damals Milden, Schweiz), † 1. Mai 1913 in Berlin, Pianistin und Klavierlehrerin. Nach Auskunft der „Signale für die musikalische Welt“ war sie „eine Schülerin ihrer Mutter“ (Signale 1878, S. 326), bevor sie im Okt. 1875 ein Studium am Leipziger Konservatorium aufnahm. Ihr Vater, Friedrich Emery, war zum Zeitpunkt der Inskription Französisch-Lehrer an der Ober-Realschule und am Gymnasium in Czernowitz. Ein Zwischenzeugnis von Emma Emery ist im Fach Klavier von Carl Reinecke (1824–1910) und Ernst Ferdinand Wenzel (1808–1880) ausgestellt, so dass vermutet werden kann, dass sie von ihnen unterrichtet wurde. Von Dez. 1875 bis Febr. 1877 sind zahlreiche Konzerte und öffentliche Prüfungen im Rahmen des Konservatoriums belegt, bei denen die junge Musikerin Kompositionen von Mendelssohn, Chopin, Robert Schumann, Bennett, Grieg und Saint-Saëns vortrug. Mehrfach erfolgten gemeinsame Auftritte mit Dora Schirmacher, mit vierhändigen Werken (Louis Maas) oder Kompositionen für zwei Klaviere (Chopin, Raff, George H. Vincent). Emma Emery verließ das Konservatorium Ostern 1877.

Das „entschieden vielversprechende Talent“ (Signale 1876, S. 659) hatte am 15. Febr. 1877 im Gewandhaus erstmals Gelegenheit, sich mit Chopins Konzert Nr. 1 e-Moll einer größeren Öffentlichkeit zu präsentieren. Die „Allgemeine musikalische Zeitung“ bescheinigte ihr „eine so entschiedene Berufenheit zur Concertspielerin […], dass ihre Carrière gesichert sein dürfte (AmZ 1877, Sp. 158), und auch der Kritiker der „Signale“ zeigte sich zufrieden: Die „Leistung der jungen Dame hat uns viel Freude gemacht, denn sie – die Leistung – hatte nicht nur gar nichts Schülerhaftes mehr an sich, sondern sie war gradezu vortrefflich nach Seite der Technik wie nach der der Auffassung hin“ (Signale 1877, S. 228). Weniger positiv urteilte die „Neue Zeitschrift für Musik“: „Selten waren die Meinungen über eine Leistung so getheilt, wie diesmal. Einerseits der noch etwas schülerhafte Eindruck nicht völliger Reife für die Oeffentlichkeit, andrerseits eine von nicht gewöhnlicher Begabung zeugende distinguirte Art der Wiedergabe, namentlich in Betreff sonor noblen und runden Anschlages, welche wie die Klarheit und sympathische Wärme der Darstellung nicht verfehlte, einen großen Theil der Zuhörer lebhaft zu erwärmen und zu fesseln. Muß auch Vieles noch träumerischer, ätherischer, duftiger sich verflüchtigen, so zeigte sich doch grade für Chopin eine nicht [zu] unterschätzende Befähigung der Auffassung, welche bei weiterem geistigem Eindringen im Verein mit der meist bereits recht virtuosen und perlenden Technik schöne Blüthen verspricht“ (NZfM 1877, S. 136). Hintergrund des – recht widersprüchlichen – Urteils scheint eine grundsätzliche Kritik an der Praxis des Konservatoriums zu sein, Studierende frühzeitig auf das Konzertpodium zu schicken, was der Text im Folgenden eingehend ausführt.

Die junge Pianistin behielt Leipzig für das nächste Jahrzehnt als Wohnort bei und verfolgte von dort aus eine Karriere vornehmlich als Klaviersolistin. Sie nannte sich nun nicht mehr „Emma“ wie zu ihrer Studienzeit, sondern aparter „Emmy Emery“. Eine erste Station war am 3. Jan. 1878 Erfurt, wo die „Neue Zeitschrift für Musik“ diesmal geradezu enthusiastisch reagierte: „War in Bezug auf die […] Pianistin Frl. Emery schon vor ihrem Auftreten die Aussicht auf großen Kunstgenuß gesichert, so hat das Spiel selbst doch die kühnsten Erwartungen übertroffen. Nicht allein, daß es in einer Virtuosität vor den Hörer trat, die mit höchster Bewunderung vor der technischen Abgeschlossenheit und mechanischen Abrundung erfüllte, so interessirte es uns zugleich durch die feinen geistigen Regungen, die warme seelische Bethätigung, wie sie in jedem der vorgetragenen Stücke so zahlreich zu Tage traten. Unter solchen Händen und von so klarem und poetisch-nachschaffendem Geiste vermittelt, hinterließ das Gmollconcert von Saint-Saëns, das an sich keinenfalls [sic]bedeutendste Werk des Comp., einen sehr günstigen Eindruck. Nicht minder wußte sie in kleineren Stücken von Bach, Schumann und Chopin eine so gewinnende Interpretationsgabe zu entfalten, daß das Verlangen nach einer Zugabe, dem die Künstlerin auch gern entsprach, unabweisbar wurde. Kurz, Frl. Emery erregte wahren Enthusiasmus, der sie sicher überall hin begleiten wird, wo sie in so trefflicher Disposition die Gaben ihrer Kunst ausstreut“ (NZfM 1878, S. 48). Mit demselben Konzert von Saint-Saëns wurde sie auch in Bremen „allen Anforderungen, soweit sie überhaupt durch eine Frauenhand bewältigt werden können, gerecht. Festigkeit des Tactes, feinste rhythmische Gliederung, präciser Anschlag und eine bewunderungswürdige Flüssigkeit und Leichtigkeit in der Ausführung der rapidesten Passagen charakterisiren gleichmäßig ihr Spiel“ (Signale 1878, S. 266). Am 2. März 1878 erwies sich Emmy Emery in einem Leipziger Kammermusikabend mit Mendelssohns Klaviertrio c-Moll op. 66 „als höchst beachtenswerthe Ensemblespielerin“ (NZfM 1878, S. 140). Bei der Mendelssohn-Feier am 6. Febr. 1879 war sie mit dem Konzert g-Moll op. 25 vertreten, „eine gute, beifällig aufgenommene Leistung“ (AmZ 1879, Sp. 254), die in der Presse breite, meist positive Resonanz fand. Einschränkungen formulierte wiederum die „Neue Zeitschrift für Musik“ („Das Tempo des ersten Satzes nahm sie etwas zu schnell, auch schien sie einige Stellen noch nicht hinreichend erfaßt zu haben“, NZfM 1879, S. 88); und die „Leipziger Zeitung“ konstatierte „excellente Virtuosität, welche nur durch etwas volleren, edleren Ton und durch noch seelenvolleres Erfassen der Aufgabe unterstützt werden möchte. Frl. Emery hat mehr esprit als Seele, sie wird daher sicherlich als Chopin-Spielerin ungleich größere Erfolge erringen, wie als Mendelssohn-Interpretin, wenn auch die technische Bewältigung vollste Würdigung verdient“ (Leipziger Zeitung 1879, S. 134).

1879 scheint sie eine Reise nach London unternommen zu haben: Der „Observer“ kündigt ihre Mitwirkung in einem Wohltätigkeitskonzert in der Albert Hall am 5. Mai an, und zwar als Klavierbegleiterin von Bertha Haft beim „Andante con variazioni“ aus Beethovens Kreutzer-Sonate. Die Geigerin hielt sich zu dieser Zeit nachweislich in London auf; dass Emmy Emery sie tatsächlich begleitet hätte, ist nicht belegbar, auch fehlen Hinweise auf weitere Aktivitäten in England. 1881 bis 1885 folgten Engagements in Magdeburg (12. Febr. 1881) und Elberfeld (Ende 1881) mit dem 5. Klavierkonzert Es-Dur von Beethoven, in Bremen, Nürnberg (23. Okt. 1882) und Leipzig (24. Jan. 1884) mit Anton Rubinsteins Konzert Nr. 4 d-Moll op. 70. Eduard Bernsdorf registrierte nach der Leipziger Darbietung in den „Signalen“ „bedeutende und correcte Fertigkeit, wohlgepflegten und modulationsfähigen Anschlag, geist- und geschmackvollen Vortrag“ (Signale 1884, S. 135), und auch die „Neue Zeitschrift für Musik“ fand lobende Worte: „Die Pianistin […] reproducirte Rubinstein’s Dmoll-Concert mit männlicher Kraft und weiblicher Zartheit. Ausgerüstet mit der erforderlichen Technik brachte sie den tiefernsten Geistesgehalt dieser herrlichen Tonschöpfung zu mächtiger Wirkung“ (NZfM 1884, S. 57). Auch ihre kammermusikalischen Fähigkeiten stellte die Pianistin wieder unter Beweis: Am 1. Febr. 1885 übernahm sie den Klavierpart in Schumanns Klavierquintett Es-Dur op. 44 Nr. 1 und bewältigte ihn „ganz brillant“ (Signale 1885, S. 166). Wenige Tage später, am 7. Febr. 1885, fand im alten Gewandhaus Leipzig ein Kammermusikabend statt, von dem in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ zu lesen ist: „Ganz enormen Beifall erzielte das Andante und Variationen für 2 Pianoforte (Op. 46) von R. Schumann. Das prächtige Werk wurde von Frl. Emmy Emery und Herrn [Carl] Reinecke ausgezeichnet vorgetragen“ (NZfM 1885, S. 88).

Emmy Emery ergänzte den Vortrag der genannten Klavierkonzerte, den damaligen Gepflogenheiten entsprechend, durch Kompositionen des „kleineren Genres“ und bevorzugte dabei romantische Komponisten wie Chopin (Walzer As-Dur op. 42), Robert Schumann (Romanze op. 28 Nr. 2, Novelette op. 21 Nr. 4), Vincenz Lachner (Präludium und Toccata op. 57), Raff (Rigaudon op. 204 Nr. 3), Anton Rubinstein (Valse caprice Es-Dur op. 118), Xaver Scharwenka (Mazurka-Caprice op. 69), Moszkowski (Tarantella op. 77 Nr. 6). Ältere Werke wie „Rondo“ von Joh. Seb. Bach und „Air“ von Gluck blieben die Ausnahme.

In den Jahren 1886 bis 1888 lassen sich keine musikalischen Aktivitäten von Emmy Emery nachweisen. Spätestens 1888 scheint sie ihren Wohnsitz nach Philadelphia verlegt zu haben, wo sie am 14. Febr. 1889 in einem ersten Konzert Solokompositionen von Chopin und Raff beisteuerte. Dem „Philadelphia Inquirer“ zufolge schlossen sich kleinere Engagements am 10.  März,  1. Nov. und 26.–28. Dez. 1889 und am 18. Dez. 1893 an. Ein letztes eigenes Konzert fand am 15. März 1900 mit anspruchsvollem Programm statt: Beethovens Sonate C-Dur op. 2 Nr. 3, Robert Schumanns Novelette op. 21 Nr. 7, MacDowells Witches Dance op. 17 Nr. 2 und Chopins Andante Spianato et Grande Polonaise op. 22. Der „Philadelphia Inquirer“ würdigt Emmy Emery als Künstlerin „who is said to hold a high place in the musical circles of her native Germany […]. Miss Emery has an abundance of technique, and what is more to the purpose, for technique must be presupposed, she plays with feeling and intelligence. […] There was a general expression of a desire that Miss Emery might be heard here soon again(Philadelphia Inquirer 16. März 1900).

Dieser Wunsch ist, den Befunden in der Presse zufolge, jedenfalls nicht in Form öffentlicher Konzerte in Erfüllung gegangen. Jedoch bezeugt Henry S. Drinker, prominenter Bürger Philadelphias, Jurist, Musikwissenschaftler und Ehemann von Sophie Drinker, in seinem Lebenslauf, er habe „studied piano with Emmy Emery intermittently for twenty-six years (1888–1914)“ (Mize, S. 153). Das lässt darauf schließen, dass Emmy Emery auch mit Sophie Drinker, der Namensgeberin des Sophie Drinker Instituts, bekannt oder sogar befreundet war. Der angegebene Zeitraum ist allerdings zweifelhaft: Im Inskriptionsvermerk des Leipziger Konservatoriums findet sich die Eintragung  „† am 1. Mai 1913 in Berlin“.

 

Brustbild von August Weber, undat.

 

LITERATUR

Hochschule für Musik und Theater „Felix Mendelssohn Bartholdy“ Leipzig, Bibliothek/Archiv, Inskriptionsregister A, I.1, 2418, Inskription A, I.2, 2418, Zeugnis A, I.3, 2418

AmZ 1877, Sp. 157f., 222; 1878, Sp. 174; 1879, Sp. 254

Bock 1878, S. 29

FritzschMW 1887, S. 128; 1889, S. 237

Leipziger Zeitung 1879, S. 134

Monthly Musical Record 1876, S. 108, 125; 1877, S. 60; 1878, S. 57; 1879, S. 40

Musikalisches Centralblatt 1884, S. 48

MusW 1878, S. 96

NZfM 1876, S. 18, 104, 124, 146, 253, 278, 291, 345, 354, 392, 423; 1877, S. 28, 53, 84, 96, 136; 1878, S. 27, 48,140, 234, 436, 467; 1879, S. 69, 88; 1881, S. 119, 130, 527; 1884, S. 50, 57, 74; 1885, S. 88, 356, 368; 1886, S. 455

The Observer [London] 4. Mai 1879

Philadelphia Inquirer 1889, 15. Febr., 7. März, 2. Nov., 15. Dez.; 1890, 6. Dez.; 1892, 28. Febr.; 1893, 24. Dez.; 1900, 11., 13., 14., 15., 16. März; 1909, 17. Juni

Signale 1876, S. 659, 786; 1877, S. 228, 958; 1878, S. 90, 226, 266, 326, 775; 1879, S. 194, 196f.; 1881, S. 347; 1882, S. 231, 940; 1883, S. 795; 1884, S. 135, 157, 716; 1885, S. 140, 166, 195, 226, 679; 1886, S. 829, 839

‎John Townsend Hinton Mize (Hrsg.), The International Who is Who in Music, Chicago/IL [u. a.] 1951, Art. „Drinker, Henry.

 

Bildnachweis

Sammlung Manskopf der Universitätsbibliothek Frankfurt a. M., http://sammlungen.ub.uni-frankfurt.de/manskopf/content/titleinfo/5558875, Zugriff am 26. Febr. 2016.

 

Freia Hoffmann

 

© 2014 Freia Hoffmann