Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Gärtner, Leontine

* um 1874 in Kronstadt/Ungarn (heute: Braşov/Rumänien), † nach 1937, vermutlich in Wien, Violoncellistin. Ihr Vater war ein österreichischer Bauingenieur, ihre Mutter eine rumänische Pianistin. Anfangsunterricht erhielt Leontine Gärtner in ihrer Heimatstadt. Seit dem 15. Lebensjahr war sie für etwa vier Jahre Schülerin von David Popper (1843–1913). Anschließend ging sie nach Leipzig und wurde in den folgenden zwei Jahren von Julius Klengel (1859–1933) unterrichtet. Die Annahme, dass sie dessen Celloklasse am Leipziger Konservatorium besucht hat, widerlegen die Inskriptionslisten des Ausbildungsinstituts, in denen ihr Name nicht enthalten ist.

Am 28. Mai 1895 debütierte die Cellistin in einem eigenen Konzert im Leipziger Hôtel de Prusse „zum Besten der hiesigen Feriencolonien“ (Signale 1895, S. 533). Am Klavier von ihrem Lehrer Julius Klengel begleitet, trug die Künstlerin David Poppers Konzert Nr. 2 e-Moll op. 24, ein Intermezzo von Klengel und Karl Davidoffs Am Springbrunnen op. 20 Nr. 2 vor. Mit Bruno Zwintscher musizierte sie außerdem Beethovens Cellosonate Nr. 3 A-Dur op. 69 und mit Klengel am Cello Poppers Suite für zwei Violoncelli op. 16. „Der Eindruck, den die junge Dame hervorgebracht hat, war ein sehr günstiger, indem ihr Spiel darthat, daß die Unterweisungen ihres Mentors vortrefflich bei ihr angeschlagen haben und daß sie auf dem besten Wege zur wahren Künstlerschaft begriffen ist. Sie verfügt nämlich über eine bereits namhafte Bogen- und Fingertechnik, und die Gewandtheit ihres Passagenspiels ist auch mit der nöthigen Correctheit verbunden; dann giebt sich ihre Intonation in nur wenig anfechtbarer Reinheit, und was endlich ihren Vortrag betrifft, so ist derselbe durchaus musikalisch, lebendig und richtig gefühlt. Das Einzige, was wir an Fräulein Gärtner’s Spiel auszusetzen haben, erschien uns in einer gewissen Rauheit und Schärfe, die dem übrigens kernigen Ton der jungen Künstlerin mitunter noch anhaftet, ein kleiner Mangel, den die Zukunft wohl beseitigen wird“ (ebd.). Ebenso wohlwollend fiel eine Rezension in der englischen Fachpresse aus: „This very promising young artist combines a highly finished technic with a singularly fine tone, such as I have not hitherto heard from female hands, very considerable musical intelligence and remarkable dynamic colour, added to which her intonation was absolutely faultless“ (Musical Standard 1895 I, S. 457).

Nach weiteren Auftritten in Deutschland und Ungarn reiste Leontine Gärtner 1896 im Alter von 22 Jahren in die USA, „where she speedly achieved a splendid reputation which time has only served to enhance“ (Lewiston Evening Journal 30. Aug. 1898). Im Apr. und Mai 1897 begab sie sich zusammen mit der Violinistin Martina Johnstone, dem Hornisten Franz Helle, dem Euphoniumspieler Simone Mantia, dem Posaunisten Arthur Pryor und einigen SängerInnen auf eine Konzertreise durch den mittleren Westen der USA sowie durch Kanada, „winning everywhere the warmest encomiums of praise“ (ebd.).

Bis 1899 lassen sich Auftritte in den USA, vor allem in New York, belegen. Wiederholt war die Cellistin in Abonnementskonzerten von Arthur Seidl sowie mit Walter Damrosch in der Carnegie Hall zu hören. Mehrfach wirkte sie als Solistin in Konzerten des New York Women’s String Orchestra unter der Leitung von Carl Lachmund (16. Mai 1897; 7., 13. Febr., 27. Apr. 1899) sowie in einem Konzert des New York Women’s String Quartet (Juli 1897) mit und trat in Privatgesellschaften von New YorkerInnen auf. Im März 1898 konzertierte sie erneut in Kanada (Toronto); begleitet wurde sie auf der Reise von dem französischen Opernsänger Pol Plançon.

Die Konzertprogramme enthielten neben Werken ihrer Lehrer Popper (Polonaise de Concert op. 14; Tarantella op. 30) und Klengel u. a. Kompositionen von Adrien-François Servais (Souvenir de Spa. Fantaisie op. 2), Alfredo Piatti (Tarantella op. 23), Anton Rubinstein (Sonate Nr. 1 D-Dur op. 18) und Karl Davidoff. Mit KonzertpartnerInnen wie den ViolinistInnen Maud Powell und Fritz Heiland und den Pianistinnen Fannie Bloomfield-Zeisler und Berta Grosse-Thomason brachte Leontine Gärtner auch Kammermusik zur Aufführung, darunter Benjamin Godards Klaviertrio Nr. 1 g-Moll op. 32 und Josef Rheinbergers Klavierquartett Es-Dur op. 38. In der Presse wurden die Auftritte nur selten besprochen. Ein Beitrag im „Lewiston Evening Journal“ lässt jedoch auf eine positive Außenwirkung der Cellistin schließen: „Her playing is remarkable for splendid richness of tone, amazing facility of technique and purity of tone. The sympathetic quality is beautiful. Under her touch, the cello alternately weeps and laughs, flexile as the delicate chords of a human voice. Considering her youngness and present development a roseate future seem to await“ (Lewiston Evening Journal 30. Aug. 1898).

Nach ihrer Rückkehr aus den USA ließ sich Leontine Gärtner in Wien nieder und schloss sich 1903 dem Soldat-Roeger-Streichquartett an, dem neben ihr Marie Soldat-Roeger (1. Violine), Elsa von Plank (2. Violine) und Nathalie Bauer-Lechner angehörten. Mit dem Ensemble konzertierte die Musikerin bis 1913 in Österreich, England, Tschechien und Deutschland und trat in diesen Konzerten wiederholt solistisch in Erscheinung. Nebenher ließ sie sich in Wien aber auch mit KollegInnen wie den PianistInnen Marie Baumayer, Oskar Dachs, Bertha Jahn-Beer und Paul Weingarten, den Geigerinnen Margarete Kolbe, Klara Nigrin und Martha Kupka sowie mit Nathalie Bauer-Lechner in Solo- sowie vor allem in Kammerkonzerten hören. Um 1927 trat sie – anfangs in der Besetzung mit Margarete Kolbe-Jüllig, Martha Wiesenthal und Lotte Hammerschlag – als Mitglied des Kolbe-Quartetts in Wien auf. Ab 1928 spielte Leontine Gärtner u. a. mit ihrer Kollegin Margarete Kolb und der Pianistin Emmy Zopf für den Rundfunk ein. Die Beiträge wurden von Radio Wien ausgestrahlt. Ab 1933 sind vor allem noch Auftritte in Veranstaltungen des Vereins der Wiener Musiklehrerinnen dokumentiert. Um 1937 verliert sich ihre Spur.

 

LITERATUR

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Bildnachweis

New York Herald 14. Febr. 1897.

Österreichische Illustrirte Zeitung 1909, S. 864

 

Annkatrin Babbe

 

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