Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Montgeroult, Montgeron, Hélène (-Antoinette-Maria) de, geb. de Nervo

* 2. März 1764 in Lyon, †  20. Mai 1836 in Florenz, Pianistin und Komponistin. Hélène de Nervo, Comtesse de Charnay, wurde in Lyon geboren. Kurz nach ihrer Geburt zog die Familie nach Paris, um Hélène und ihrem Bruder eine bessere Ausbildung und Erziehung zu eröffnen. Über Kindheit und Jugend der Musikerin ist wenig bekannt. Seit 1776 erhielt Hélène Clavierunterricht bei Nicolas-Joseph Hüllmandel (ca. 1756–1823), später (1784) bei Muzio Clementi (1752–1832) und 1786 bei Johann Ladislav Dussek (1761–1812). Ihr Spiel entwickelte sich rasch, und sie war häufig in Paris zu hören, beispielsweise im Hause der Familie de Rochechouart. J. L. Dussek, Johann David Hermann, Louis Emanuel Jadin, Julie Candeille, Philippe Libon und Johann Baptist Cramer widmeten ihr Kompositionen.

Im Jahr 1784 heiratete Hélène de Nervo den Offizier im Ruhestand André-Marie Gaultier, Marquis de Montgeroult (1736–1793). Sie und ihr Mann verkehrten in verschiedenen Salons, so bei Mme. de Staël oder der Malerin Elisabeth Vigée-Lebrun. Diese erinnert sich: „Zur Instrumentalmusik hatte ich als Violinspieler Viotti, dessen Spiel durch Anmut, Kraft und Ausdruck entzückte, Jarnovick, Maestrino, Prinz Heinrich von Preußen, ein ausgezeichneter Dilettant, der mir obenein seinen ersten Geiger zuführte. Salentin spielte die Oboe, Hulmandel und Cramer Klavier, Madame de Montgeron kam auch einmal, kurze Zeit, nachdem sie geheiratet hatte. Obgleich sie damals noch sehr jung war, setzte sie die ganze, wirklich recht anspruchsvolle Gesellschaft durch ihren wundervollen Vortrag und Ausdruck in Erstaunen, sie ließ die Tasten sprechen. Damals war sie schon eine Klavierspielerin ersten Ranges. Sie wissen ja, dass sich Madame de Montgeron seitdem auch als Komponistin ausgezeichnet hat“ (Vigée-Lebrun, S. 57). Hélène de Montgeroult war eng befreundet mit Jean-Baptiste Viotti, der sie auch als Künstlerin sehr schätzte. Die eindrucksvolle Schilderung einer gemeinsamen (stundenlangen) Improvisation gibt Eymar.

Im Juli 1793 wurde Hélène de Montgeroult als Mitglied der diplomatischen Delegation des französischen Botschafters in Nevale von den Österreichern gefangen genommen. Nach ihrer Freilassung flüchtete sie in die Schweiz. Ihr Mann starb am 2. Sept. 1793 im Gefängnis in Mantua.

Hélène de Montgeroult wurde als Adelige vor dem Revolutionstribunal angeklagt und zur Guillotine verurteilt, schließlich jedoch, angeblich wegen ihrer pianistischen Fähigkeiten, begnadigt: Sie sollte als Lehrkraft am neu errichteten Conservatoire National de Musique et de Déclamation ihr Talent in den Dienst der neuen Ordnung stellen. Auch mit dem Einfluss des Journalisten und Literaten Charles-Hyacinthe His, den Hélène de Montgeroult am 1. Juni 1797 heiratete, wird die Begnadigung der Musikerin manchmal begründet. Charles-Hyacinthe His war der Vater des 1795 geborenen gemeinsamen Sohnes Aimé Charles. Die Ehe wurde 1803 geschieden.

Hélène de Montgeroult nahm ihre Lehrtätigkeit am Konservatorium am 22. Nov. 1795 auf. Sie unterrichtete hier die fortgeschrittensten männlichen Schüler. Ihr Titel lautete Professeur de première classe, ihr Gehalt betrug 2500 Livres pro Jahr. Damit gehörte sie zu den bestbezahlten Lehrkräften des Instituts. Zu ihren SchülerInnen, von denen einige ihrerseits später als Lehrer am Konservatorium wirkten, zählten u. a. Louis-Barthélemy Pradher, Alexandre Pierre François Boëly, J. B. Cramer, Camille Petit und Louise de Caumont. Marmontel schreibt: „Son grand talent de musicienne, sa brillante virtuosité, sa distinction, sa position d’émigrée, tout concourut à lui aplanir les premières difficultés et à en faire un professeur très en vogue pendant une longue période de vie active“ („Ihr großes Können als Musikerin, ihre glänzende Virtuosität, ihr vornehmes Wesen, ihre Lage als Immigrantin, alles wirkte zusammen, um ihr den anfangs schwierigen Weg zu ebnen und sie zu einer Lehrerin zu machen, die in einem langen Zeitraum ihres Berufslebens sehr beliebt war“, Marmontel, S. 256f.).

Warum Hélène de Montgeroult ihre erfolgreiche Lehrtätigkeit 1798 beendete, ist nicht bekannt. Sie reiste nach Mülsen (Kreis Zwickau), wo sie vermutlich Werke Joh. Seb. Bachs kennen lernte. Nach ihrer Rückkehr gehörten häufig Kompositionen Bachs, Händels und Domenico Scarlattis zu ihren Programmen. Der bereits um 1793 in Berlin erfolgte Druck ihrer Sonate in f-Moll geht möglicherweise auf ihre Bekanntschaft mit dem dortigen Organisten Peter Schramm zurück.

Auch während ihrer Zeit als Professorin am Konservatorium war Hélène de Montgeroult eine stadtbekannte Künstlerin. So gehörte sie zum Kreis um den Violinisten Marie-François de Sales, genannt Pierre Baillot, bei dem auch Rodolphe Kreutzer, Luigi Cherubini, Anton Reicha, Ignaz Pleyel und Alexandre Boëly verkehrten. Als Pianistin wurde lediglich Marie Bigot in einem Atemzug mit ihr genannt.

Gleichzeitig dürften auch die Arbeiten an ihrer Clavierschule begonnen haben. Hélène de Montgeroults „Cours complet pour l’enseignement du forte-piano“ bildet einen ausführlichen und detailliert durchdachten Lehrgang mit 972 Übungen und 114 Etüden aus ihrer Feder. Antoine-François Marmontel, der selbst noch nach Hélène de Montgeroults Lehrbuch unterwiesen worden war, lobt es in höchsten Tönen. Noch 50 Jahre später schreibt er: „Cette date pourrait faire croire que la partie théorique et les considérations esthétiques en sont entièrement surannées. Il n’en est rien cependant“ („Ihr Erscheinungsdatum könnte glauben machen, dass der theoretische Teil und die ästhetischen Erörterungen vollkommen veraltet seien. Das ist jedoch nicht der Fall“, Marmontel, S. 258). Hélène de Montgeroults Technik war zu Beginn des 19. Jahrhunderts sehr progressiv, und ihre Beschreibungen zur Tonerzeugung und Entwicklung eines vollen und singenden Claviertones, die sie im Vorwort des 1. Bandes ihres „Cours complet“ gibt, waren zukunftsweisend.

Eine langjährige und enge Freundschaft verband Hélène de Montgeroult mit dem Musikliebhaber, Militärintendanten und Präfekten unter Napoleon Louis Girod de Vienney, Baron de Trémont, der sie in seiner „Notice inédite“ als starke, sich selbstbewusst präsentierende Frau und Künstlerin darstellt.

Im Jahr 1820 heiratete Hélène de Montgeroult ein drittes Mal, diesmal den 19 Jahre jüngeren ehemaligen General Napoleons Edouard-Sophie Dunod de Charnage, Comte d’Empire. Dieser starb 1826. Hélène de Montgeroult selbst setzte ihre Unterrichtstätigkeit bis 1830 fort. 1834 übersiedelte sie aus gesundheitlichen Gründen nach Italien. Am 20. Mai 1836 starb Hélène de Montgeroult in Florenz, wo sie im Kloster S. Croce begraben wurde.

Hélène de Montgeroult war fraglos eine der glänzendsten und höchst angesehenen Pariser Pianistinnen ihrer Zeit. Dabei war sie sich zeitlebens ihrer adeligen Herkunft bewusst: Als Jugendliche und junge Frau war sie, wie es sich für eine Frau ihres Standes gehörte, nicht in den öffentlichen Konzertreihen aufgetreten; sie verließ ihren hoch angesehenen Posten am Pariser Konservatorium nach kurzer Zeit und wirkte wieder in privaten Zirkeln. Ihr Freundes- und Bekanntenkreis setzte sich aus wohlhabenden Familien, Militärs und berühmten KünstlerInnen zusammen. Auch die äußeren Beschreibungen Hélène de Montgeroults, wie sie z. B. der Baron de Trémont liefert, zeigen eine sehr stolze, sich ihrer Herkunft bewusste Frau mit aristokratischer Erziehung.

 

Undat. Porträt von Richard Cosway (1742–1821).

 

WERKE FÜR CLAVIER

Trois Sonates pour le Forte piano, œuvre 1, Paris, ca. 1795 (Einzeldruck von Sonate Nr. 3 als Sonate für das Piano-Forte, Berlin ca. 1793)

Trois Sonates pour le forte-piano avec accompagnement de violon pour la 3me Sonate, œuvre 2, Paris, ca. 1807, ²1825

Pièce pour le forte piano, œuvre 3, Paris, ca. 1804

Trois Sonates pour le piano forté, œuvre 5, Paris, ca. 1811, Repr. Genf 1983

 

LEHRWERK

Cours complet pour l’enseignement du forte piano conduisant progressivement des premiers éléments aux plus grandes difficultés (vermutlich 1812 vollendet), 3 Bde., Paris 1820

 

LITERATUR

Journal de la Cour et de la ville, 23. Okt. 1791 (nach Johnson, S. 19)

Journal de Paris 1795, S. 866 (23. April = 4 Floreal An III); 1804, S. 2239 (24. Aug. = 7 Fructidor An XII); 1811, S. 711 (10. Aug.)

Tablettes de Polymnie. Journal consacré à tout ce qui intéresse l’art musical 1811, S. 351 (20.  Apr.)

Gerber 2, Schilling, Schla/Bern, Paul, Fétis, EitnerQ, Michel/Lesure Ency mus, RISM A I, MGG 2000, New Grove 2001

Pietro Lichtenthal, Dizionario e Bibliografia della Musica, 4 Bde., Mailand 1836, Repr. Bologna 1970, Bd. 4.

C. Schmidl, Dizionario universale dei musicisti, Milano 1926 -1937.

Barbara Garvey Jackson, „Say can you deny me“: a guide to surviving music by women from the 16th through the 18th centuries, Fayetteville 1994.

Louis-Philippe Joseph Girod de Vienney de Trémont, Notice inédite sur Mme de Montgeroult, professeur et pianiste au Conservatoire à sa création, amie de Mme de Staël, Bibliothèque Nationale de France, Fonds Français FR 12759, fol. 753, S. 749-758 (659-668).

Ange Marie Eymar, Anecdotes sur Viotti, précédées de quelques réflexions sur l’expression en musique, o. O., o. J. [um 1792].

Edouard Monnais, Esquisses de la vie d’artiste, par Paul Smith, o. O. 1844.

Antoine-François Marmontel, Les Pianistes célèbres. Silhouettes et Médaillons, Paris o. J. (datiert 31888).

Madame Carette, née Bouvet, Choix de mémoires et écrits des femmes françaises aux XVIIe, XVIIIe et XIXesiècles avec leurs biographies: Madame la Comtesse de Genlis, 9. Aufl., Paris, o. J. (um 1895).

Die Erinnerungen der Malerin Vigée-Lebrun, Bd. 1, deutsche Übersetzung von Martha Behrend, Weimar 1912.

Max Unger, Muzio Clementis Leben, Langensalza 1914, Repr. New York 1975.

Georges Favre, La musique française de piano avant 1830, Paris 1952.

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Brigitte François-Sappey, „Pierre Marie François de Sales Baillot (1771–1842) par lui-même. Étude de sociologie musicale“, in: RMFC (1978), S. 126–211.

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Bildnachweis

Hélène de Montgeroult, Proträt von Richard Cosway. Louvre Paris, Fonds des dessins et miniatures, RF 836 Recto.

 

Claudia Schweitzer

 

© 2008 Freia Hoffmann