Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Finger-Bailetti, Ella, Elly, Helene, geb. Bailetti

* 25. Sept. 1866 in Scharka bei Prag, † 1945 in Wien, Violinistin. Sie war die Tochter von Margarethe Auguste geb. Ziegelmayer (um 1835–1889) und Biaggio Bailetti (?–1866) und hatte eine Schwester – Lilli, später verh. Michalek-Bailetti (1865–1936) – , die als Pianistin bekannt wurde. Ihr Vater war Oberstleutnant des Graf Haugwitz Infanterie-Regiments und wurde in den Wiener Blättern im Jahr 1866 in der Liste der Verwundeten der Schlacht bei Königgrätz geführt. Die Mutter führte in Wien eine Mädchenpension. Dass sie hier auch Musikunterricht anbot, lässt auf die eigene musikalische Ausbildung schließen. Laut Inserat in der Wiener „Gemeinde-Zeitung“ nahm sie, „Mädchen von verschiedenem Alter in mütterliche Pflege […]. Dieselben erhalten eine vollständige Ausbildung, indem ihnen Gelegenheit geboten ist am Unterrichte sowohl in der Musik, französischen, italienischen und englischen Sprache, wie im Nähen Theil zu nehmen“ (Gemeinde-Zeitung 19. Okt. 1872).

Über die erste musikalische Ausbildung Ella Bailettis ist nur wenig bekannt. In Wien erhielt sie zunächst privaten Klavierunterricht. Von 1875 bis 1887 studierte sie am dortigen Konservatorium als Stiftling von Fürst Lichtenstein und der Kaiserin Elisabeth von Österreich-Ungarn. Nach Klavier bei Guido (von) Rabenau (um 1835–1886) und Alfons Antoine (um 1844–1883) belegte sie von 1877 bis 1882 Violine im Hauptfach bei Carl Heißler (1823–1878), Sigmund Bachrich (1841–1913) und Jakob Moritz Grün (1837–1916), anschließend wiederum Klavier bei Joseph Weidner (?–1891) und Josef Dachs (1825–1896) sowie im Nebenfach Harmonielehre bei Hermann Grädener (1844–1929). Dazu war sie in den letzten beiden Studienjahren zum Besuch der Orchester- und Kammermusikübungen zugelassen. Anschließend ging sie nach Berlin und setzte ihr Studium bei Joseph Joachim (1831–1907) und dessen ehemaligem Schüler Heinrich Jacobsen (1851–1901) an der Königlichen Hochschule für Musik fort.

Ende der 1880er Jahre befand sie sich wiederum in Wien. Am 28. Jan. 1889 veranstaltete sie zusammen mit ihrer Schwester Lilli ein Konzert im Bösendorfer Saal. Das Programm enthielt neben der neuen Violinsonate von Grieg (Nr. 1 f-Moll op. 8) Kompositionen für Geige von Joh. Seb. Bach, Heinrich Wilhelm Ernst und Ferdinand Ries. Auch in den nächsten Jahren folgten Auftritte mit der Schwester, v. a. in Wien. Am 17. Okt. 1893 heiratete Ella Bailetti den Violinisten und Bratschisten Alfred Finger (1855–1936), ebenfalls Absolvent des Wiener Konservatoriums sowie der Berliner Hochschule. Mit ihm hatte sie einen Sohn, Alfred (* 22. Jan. 1898). In der Wiener Presse sind gemeinsame Auftritte des Ehepaares dokumentiert.

Neben einigen anfänglichen Soloauftritten war Ella Finger-Bailetti vorrangig als Kammermusikerin in Erscheinung getreten. Neben ihrem Ehemann und der Schwester zählen auch die PianistInnen Marie Baumayer, Anna Schulzen von Asten und Josef Labor sowie der Hornist und Sänger Louis Savart zu den KonzertpartnerInnen. Seit 1895 war sie zweite Violinistin im Frauen-Streichquartett der Joachim-Schülerin Marie Soldat-Roeger. Zu ihren Mitstreiterinnen zählten neben der Namensgeberin des Ensembles (1. Violine) die Bratschistin Natalie Bauer-Lechner sowie die Violoncellistin Lucy Campbell, die 1903 durch Leontine Gärtner ersetzt wurde.

Das Soldat-Roeger-Quartett: (v. l. n. r.) Marie Soldat-Roeger,
Lucy Campbell, Natalie Bauer-Lechner und Ella Finger-Bailetti.

Das Quartett, so formuliert es Barbara Kühnen, „gehörte in der Zeit seines Bestehens (18951913) zu den besten der etablierten Streichquartette in Wien. Es wurde hinsichtlich seines technischen Spielvermögens und der Programmauswahl im gleichen Atemzug mit dem Rosé- und dem Hellmesberger-Quartett genannt und von den Kritikern als ebenbürtig beurteilt. Ein solcher Rang unter den Streichquartetten erscheint ungleich erstaunlicher, wenn man bedenkt, daß es ausschließlich mit Musikerinnen besetzt war“ (Kühnen, S. 58). Am 11. März 1895 debütierte das Ensemble in einem Kammermusikkonzert im Wiener Bösendorfer-Saal. Als eines der ersten ausschließlich mit Frauen besetzten Streichquartette erregte es großes Interesse. Die „Neue musikalische Presse" schreibt: „Ueber die Befähigung der Frauen sind eigentlich der Worte genug gewechselt. Es ist erfreulich wenn garstiges Wortgeklimper durch sprechende Thaten zum Schweigen gebracht wird. In aller Stille hat ein energischer und hochbegabter Frauengeist drei [sic] seiner Geschlechtsgenossinnen wieder auf ein Gebiet geführt, welches bisher von Damen noch nicht betreten worden ist. Frau Soldat-Roeger, die ausgezeichnete Schülerin Joseph Joachim's, welche nach längerer Pause ihre Kunst wieder öffentlich ausübt, hat mit ihren Genossinnen den Beweis erbracht, dass die spirituellste Form der Kammermusik, das Streichquartett der Ausführung von Frauen sehr wohl zugänglich ist. Das Zugeständnis, dass das Quartett der Frau Soldat-Roeger in der Ausführung seiner schwierigen Aufgaben eine hohe Vollkommenheit zeigt und sich mit vorzüglich geschulten Männervereinigungen dieser Art ohne Weiteres messen kann, muss ohne jede Zuhilfenahme von Galanterie gemacht werden. Es ist nun schon die zweite Saison in der die Damen mit ihren Leistungen das Urtheil des Publicums herausfordern und dass sie von Abend zu Abend unwiederleglicher [sic] beweisen, dass sie ihren schweren Aufgaben gewachsen sind. Immer höher sind die Anforderungen, die sie an sich selbst stellen, immer schwieriger die Stücke, die sie ihren Programmen einverleiben und stets ist das schönste Gelingen immer auf ihrer Seite“ (Neue musikalische Presse 1. März 1896, S. 1).

Bis 1897 gehörte Ella Finger-Bailetti dem Soldat-Roeger-Quartett an und konzertierte mit dem Ensemble in dieser Zeit vor allem in Österreich und Deutschland. Offenbar wurde sie von ihrem Mann begleitet, der in einigen Konzerten des Quartetts mitwirkte. Am 21. Jan. 1897 konzertierte das Ensemble erneut im Bösendorfer-Saal. Die „Neue musikalische Presse“ berichtet: „Das Damen-Quartett Soldat-Röger […] hat, seitdem wir es zum letztenmal gehört, an Gleichmässigkeit der Kunstleistung bedeutend gewonnen. Frau Soldat-Röger ist zwar an künstlerischer Eigenart ihren Colleginnen noch immer um Beträchtliches überlegen, allein sie versteht es, ihre Intentionen auf ihre Genossinnen zu übertragen und die Fortschritte des Quartetts zeigen sich am augenfälligsten im Vortrag der langsamen Sätze. Von den drei Quartetten von Haydn, Cherubini und Beethoven gelangte das Erstgenannte Es-dur op. 64 zur gelungensten Wiedergabe. Das D-moll-Quartett von Cherubini zeigt in allen vier Sätzen interessante Meistermache, doch hätten wir bei demselben ‚mehr Inhalt, weniger Kunst‘ gewünscht. In Beethoven’s Quartett op. 18 Nr. 6 entfalteten die Damen männliche Energie in den Ecksätzen und im Scherzo und zarte Empfindung, tiefe Auffassung in der Wiedergabe des Adagio und der Malincona“ (Neue musikalische Presse 31. Jan. 1897, S. 15).

Vor der Geburt ihres Sohnes verließ Ella Finger-Bailetti das Quartett. 1898 bemerkt die Zeitschrift „Signale für die musikalische Welt“: „Die Vereinigung hat seit vorigem Jahre eine Veränderung erfahren, an Stelle Frau Finger’s ist Fräulein Elsa von Plank als zweite Geige eingetreten“ (Signale 1898, S. 180).

 

Das Soldat-Roeger-Quartett 1896. 

 

Ella Finger-Bailetti trat nach 1900 gelegentlich in kammermusikalischer Besetzung auf, häufig auch gemeinsam mit Alfred Bailetti. Das Ehepaar wirkte unter anderem im Jan. 1903 in einer Veranstaltung der Pianistin Berta von Gasteiger in Graz mit und ließ sich wiederholt in Gmunden sowie vor allem in Wien hören. 1921 trat Ella Finger-Bailetti als Geigerin dem neugegründeten Wiener Frauen-Symphonieorchester bei. Zu den Kolleginnen zählten unter anderem Gabriele Gröber-Neusser, Anna von Baumgarten, Helene Schlenk-Lechner und Elsa von Plank.

 

LITERATUR

Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde Wien, Konservatorium Matrikeln 1872/73–1908/09 Ba–Bei, Archiv der Gesellschaft der Musikfreunde, ohne Signatur.

The Athenæum 1901 I, S. 474

Deutsche Musik-Zeitung [Wien] 1880, S. 147; 1886, S. 467; 1888, S. 342; 1889, S. 20

Deutsches Volksblatt [Wien] 1889, 27. Jan.; 1897, 20. Okt.

FritzschMW 1897, S. 276

Gemeinde-Zeitung. Unabhängiges politisches Journal [Wien] 1872, 19., 20. Okt.; 1873, 12., 15., 19., 20., 21., 27. Juni, 9., 12., 19., 25. Juli, 5., 10., 11., 12., 13., 16., 26., 28., 30. Sept., 1. Okt.

Gmunder Kurliste 22. Juli 1896

Grazer Tagblatt 1896, 13., 17. März

Grazer Volksblatt 1903, 20., 21. Jan.

Kärntner Zeitung [Klagenfurt] 30. März 1897

Klagenfurter Zeitung 28. März 1897

Mährisches Tagblatt [Olmütz] 1896, 2., 4., 7. Jan.

Montags-Zeitung [Wien] 24. Jan. 1898

Morgen-Post [Wien] 23. Juni 1881

Musical Standard 1895 I, S. 257

Musikbuch aus Österreich. Ein Jahrbuch der Musikpflege in Österreich und den bedeutendsten Musikstädten des Auslandes 1910, S. 153

Neue Freie Presse [Wien] 1866, 24. Juli; 1880, 20. Juni; 1881, 23. Juni, 20. Aug.; 1886, 19. Dez.; 1889, 7. Aug.; 1892, 14. Juni; 1893, 1. Apr.; 1895, 10., 17. Febr., 3. März; 1896, 11. März; 1901, 29. Juni

Neue musikalische Presse 1896, 1. März, S. 1; 1897, 31. Jan., S. 15

NZfM 1897, S. 76f.; 1903, S. 484

Neues Wiener Journal 14. Apr. 1916

Neues Wiener Tagblatt 1888, 10. Apr.; 1889, 22., 27. Jan.; 1893, 13. Apr.; 1896, 14. März; 1904, 3. Sept.; 1921, 4. März; 1936, 10. Aug.

Österreichische Kunst-Chronik 1. Febr. 1889

Österreichische Musik- und Theaterzeitung 1888, S. 6; 1889, S. 6; 1893, S. 9; 1894, S. 15; 1898, S. 4

Prager Abendblatt 1895, 22. März; 1897, 28. Febr., 6. März

Prager Tagblatt 1895, 21., 23. März

Die Presse [Wien] 1881, 23. Juni; 1883, 18. Febr.; 1888, 11. Apr.; 1889, 20., 28. Jan.; 1893, 21. März

Die Redenden Künste 1896, S. 591

Salzkammergut-Zeitung [Gmunden] 26. Juli 1896

Signale 1895, S. 153; 1898, S. 180

Tagespost [Linz] 1896, 28. Juli; 1904, 3. Sept.; 1905, 6. Sept.; 1907, 27. Aug.; 1908, 20. Aug.; 1909, 12., 20., 23. Aug.

Tagespost [Wien] 30. Juli 1889

Das Vaterland [Wien] 1889, 26. Febr.; 1893, 20. März, 11. Apr.; 1905, 19. Febr.

Wiener Allgemeine Zeitung 1881, 13. Juli; 1883, 20. Febr.; 1888, 10., 17. Apr.; 1889, 22. Jan.

Wiener Salonblatt 30. Sept. 1905

Wiener Zeitung 1866, 24. Juli; 1867, 11., 13., 16. Jan.

Die Zeit [Wien] 16. Aug. 1907

ÖBL (Art. Finger, Alfred), DBE, OeML (Art. Finger, Alfred)

Ludwig Eisenberg u. Richard Groner (Hrsg.), Das geistige Wien. Mittheilungen über die in Wien lebenden Architekten, Bildhauer, Bühnenkünstler, Graphiker, Journalisten, Maler, Musiker und Schriftsteller, Wien 1889.

Herbert Killian, Gustav Mahler in den Erinnerungen von Natalie Bauer-Lechner, Hamburg 1984.

Barbara Kühnen, Ist die kleine Soldat nicht ein ganzer Kerl? Die Geigerin Marie Soldat-Roeger (1863–1955)", in: Ich fahre in mein liebes Wien. Clara Schumann: Fakten, Bilder, Projektionen, hrsg. von Elena Ostleitner u. Ursula Simek (= Frauentöne 3), Wien 1996.

Inka Prante, Die Schülerinnen Joseph Joachims, Wissenschaftliche Hausarbeit zur Ersten Staatsprüfung, unveröffentlicht, Universität der Künste Berlin 1999.

Martin Alber (Hrsg.), Wittgenstein und die Musik. Ludwig Wittgenstein – Rudolf Koder. Briefwechsel (= Brenner Studien 17), Innsbruck 2000.

Barbara Kühnen, „Marie Soldat-Roeger (18631955)“, in: Die Geige war ihr Leben. Drei Geigerinnen im Portrait (= Frauentöne 4), hrsg. von Kay Dreyfus [u. a.], Strasshof 2000, S. 13–98.

Philipp Albrecht, „‚Eine Amazonengruppe mit ästhetischem Programm‘“, in: Der „männliche“ und der „weibliche“ Beethoven. Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress 31. Okt. bis 4. Nov. 2001 an der UdK Berlin, hrsg. von Cornelia Bartsch [u. a.], Bonn 2003, S. 415–428.

Inka Prante, „‚Warum sollten nicht auch Frauen in der Tonkunst excellieren können?‘. Joachim-Schülerinnen im Streichquartett“, in: Der „männliche“ und der „weibliche“ Beethoven. Bericht über den Internationalen musikwissenschaftlichen Kongress 31. Okt. bis 4. Nov. 2001 an der UdK Berlin, hrsg. von Cornelia Bartsch [u. a.], Bonn 2003, S. 399–414.

Harry Peter Clive, Brahms and his World. A Biographical Dictionary, Lanham 2006.

Maren Goltz, Der Brahms-Klarinettist Richard Mühlfeld. Einleitung, Übertragung und Kommentar der Dokumentation von Christian Mühlfeld, Balve 2007.

Friedrich Frick, Kleines biographisches Lexikon der Violinisten. Vom Anfang des Violinspiels bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Norderstedt 2009.

Clive Brown, The Decline of the 19th-century German School of Violin Playing, http://chase.leeds.ac.uk/article/the-decline-of-the-19th-century-german-school-of-violin-playing-clive-brown/, Zugriff am 29. Mai 2013.

Annkatrin Babbe, ‚Wiener Schule‘ – Geigenausbildung bei Josef Hellmesberger d. Ä., Wien 2023, i. V.

 

Bildnachweis

Brown

Neue musikalische Presse 1. März 1896, S. 1.

 

Annkatrin Babbe

 

© 2013/2022 Freia Hoffmann