Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

SeydelSeidl, Theresine, Theresina, Theresia, Therese, verh.Schuster-Seydel

* 1. Nov. 1853 in Wien, † 18. Juli 1934 ebd., Violinistin, Violinlehrerin und Komponistin. Ihr Vater war Dominik Seydel (?–1876), General-Buchhalter der k. k. Südbahn und Mitglied der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, ihre Mutter Anna Seydel geb. Gruber. Ihre beiden Schwestern Marie, verh. Furlani (1845–1930), und Caroline Seydel (1859–?) wurden zu Konzertpianistinnen ausgebildet. Theresine Seydel war von 1866 bis 1869 Schülerin in der Klasse Georg Hellmesbergers (d. Ä., 1800–1873) am Konservatorium der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien. Im Juli 1868 wird ihr Auftritt im Rahmen der Konservatoriumsprüfungen von der Presse überschwänglich gelobt: „Vorzugsweise erregte der Vortrag des Stückes ‚l’orage‘ von Vieuxtemps […] das freudige Staunen aller Hörer, als Fräulein Theresine Seydel, eine junge Dame, diese Riesenaufgabe mit solcher Kraft und Sicherheit löste, dass man ihrem Meister zu solcher würdigen Schülerin Glück wünschen kann“ (Berliner Musikzeitung 29. Juli 1868). Schon im Jahr darauf konzertierte sie an der Seite von Joseph Hellmesberger (d. J.) im Saal Bösendorfer. Ihr erstes eigenes öffentliches Konzert fand am 23. April 1870 statt, am Flügel begleitet von ihrem Lehrer G. Hellmesberger. Theresine Seydel trat in den folgenden Jahren vor allem in Wien auf; in der Presse sind zahlreiche Konzerte belegt, sowohl in Kirchen, im Saal des Musikvereins als auch im Saal Bösendorfer. In der Wintersaison 1874 gab sie einen „Cyclus von Konzerten im Musikvereins-Saale“ (Illustriertes Österreichisches Journal 21. April 1875). Beim letzten Konzert der Saison des Hellmesberger Quartetts am 27. März 1874, bei dem das Doppelquartett von Spohr auf dem Programm stand, führte Theresine Seydel das zweite Quartett an. Sie „figurirte als Lieutenant Hellmesberger’s an der Spitze der zweiten Quartettgruppe“, wie die „Neue Freie Presse“ berichtet (28. März 1874). Einen weiteren Quartettabend im folgenden Jahr, auf dem Programm das Mendelssohn-Oktett, ergänzte J. Hellmesberger mit einem reinen Frauenquartett, nach Ansicht der „Neuen Zeitschrift für Musik“ eine „pikante Idee“ (4. Mai 1877). Neben Theresine Seydel spielten Eugenie (2. Violine) und Rudolphine Epstein (Violoncello) sowie Helene Lechner (Viola). Am 29. Juni 1874 war sie für ein Hofkonzert auf Schloss Schönbrunn engagiert. Auf dem Programm stand ein Adagio von Spohr für zwei Violinen, gemeinsam gespielt mit J. Hellmesberger jun.  In den 70er Jahren trat Theresine Seydel häufig mit ihrer Schwester Marie auf, sowohl in Wien als auch auf Konzertreisen. Diese führten die Violinistin u. a. nach Innsbruck, Salzburg, Dresden, Leipzig, München, Landshut, Wiesbaden, Meran, Graz und Triest. Das „Illustrierte Wiener Extrablatt“ weiß von einer Tournee gemeinsam mit der Pianistin Vera Timanoff zu berichten; angekündigt werden 40 Konzerte in Ungarn und Siebenbürgen im Januar und Februar 1878. Ihre darauf folgende, bis Herbst 1879 dauernde Konzertpause wird von der „Neuen Zeitschrift für Musik“ mit ihrem „starken rheumatischen Leiden“ begründet (11. Juli 1879). Ab 1879/80 wurde Theresine Seydel häufig von ihrer jüngeren Schwester Caroline begleitet, ebenfalls ausgebildet am Konservatorium der Musikfreunde in Wien (1872 bis 1877). Grund war vermutlich die Heirat von Marie im Jahr 1880 und ihr Umzug nach Triest. Eine weitere längere Konzertpause wird in der musikalischen Presse in den Jahren von 1882 bis 1884 sichtbar. In dieser Zeit (Juni 1882) heiratete Theresine Seydel den Bankbeamten Maximilian Schuster (1854–1905) und bekam kurz hintereinander drei Kinder (1884, 1886 und 1887). Trotzdem setzte sie ihre Konzerttätigkeit fort, nun unter dem Namen Seydel-Schuster oder meist Schuster-Seydel. In den 80er Jahren sind wieder zahlreiche Konzerte in Wien belegt. Die Mitwirkung von drei Instrumentalistinnen, der Geigerin Adele Kohn (einer Schülerin Theresine Schuster-Seydels), der Bratscherin Johanna Benda sowie der Violoncellistin Josefine Donat, im Konzert am 13. Jan. 1890 im Bösendorfer Saal in Wien, in Haydns Kaiserquartett op. 76, 3 war sehr wahrscheinlich ein einmaliges Zusammentreffen; weitere Konzerte in dieser Quartettformation sind nicht nachweisbar. Der Österreichischen Musik- und Theaterzeitung war es nur einen Nebensatz wert: „unter Mitwirkung der drei oben genannten Damen führte uns Frau Schuster-Seydel auch Haydn’s Kaiser-Quartett vor" (1. Febr. 1890). Bis zum Jahr 1905 finden sich noch vereinzelt Ankündigungen für Konzerte in Wien, München, Lemberg und Salzburg.
Neben ihrer Konzerttätigkeit war Theresine Seydel-Schuster auch als Violinlehrerin aktiv, so ab 1898 in einer privat betriebenen Violinschule, die lt. der österreichischen Statistik angemeldet, aber nicht in Betrieb war (Oesterreichische Statistik , hrsg. von den k. u. k. statistischen Central-Commision, Wien 1898 bis 1909). Ab 1899 unterrichtete sie außerdem in der Lehrerinnenbildungsanstalt des k. u. k. Offizierstöchter-Erziehungsinstituts, wo sie „für den gesamten Vl.-Unterricht verantwortlich“ war (Marx/Haas 2001, S. 527).

Ihr Konzertrepertoire war breit gefächert; darin finden sich  Salonstücke von Vieuxtemps, die Teufelstriller-Sonate von Tartini, Mozarts Haffner-Serenade (hier vermutlich das von ViolinistInnen gern gespielte Rondo), Schumanns Violinsonate a-Moll op. 105, Violinsonaten von Beethoven, Spohrs Violinkonzert G-Dur op. 70, Mendelssohns Violinkonzert e-Moll op. 64 und Joh. Seb. Bachs Violinkonzert a-Moll BWV 1041. Die „Österreichische Musik- und Theaterzeitung“ attestiert ihr eine „grosse Vertrautheit mit modernen Compositionen“ (1. Febr. 1890). Auf dem Programm im Konzert am 13. Jan. 1890 standen Werke von Wieniawski, Brahms-Joachim und Saint-Saëns. Auch Werke der Komponistin Ernestine de Bauduin (Capriccio für Violine solo, Adagio religioso für Violine, Violoncello und Harfe) gehörten zu ihrem Repertoire.

Die folgenden drei Kritiken aus verschiedenen Zeiten skizzieren die Qualitäten der Geigerin; ebenso deutlich zeigen sie die Vorbehalte gegenüber einer mit diesem Instrument konzertierenden Frau.

„Frl. Therese Seydel unternahm es, Vieuxtemps’s ‚l’Orage‘ auf der Violine vorzutragen. Die Leistung war mit Rücksicht auf die außerordentliche Jugend der Virtuosin eine überraschende, dennoch ließ sie, wie begreiflich, an Kraft und Reinheit so Manches zu wünschen übrig, wie es denn überhaupt nur äußerst selten vorkommt, dass sich eine Dame bei diesem schwierigen Instrumente zur Vollkommenheit aufschwingt“ (Wiener Sonn- und Montags-Zeitung 25. Apr. 1870).

„Violinistinnen werden heutzutage immer rarer; Fräul. Theresine Seydel, eine Schülerin Hellmesberger’s, ist jedoch eine in der That seltene Geigerin. Sie besitzt vor Allem einen vollen Ton von aussergewöhnlicher Innigkeit, Lieblichkeit und Wärme, welcher namentlich in einem Salonstück ihres Lehrers und einem Andante von Gluck den Saiten herrlich entströmte. Die höchst schwierige Sonate mit dem Teufelstriller von Tartini spielte sie mit grosser Reinheit, Sicherheit und Fertigkeit; allein die Sonate verlangt doch zu sehr eine ganz kraftvolle und energische Männerhand“ (AmZ 1876, Sp. 281).

„Frl. Theresine Seydel als Violinistin überraschte nicht allein durch technische Sicherheit und Reinheit, sondern auch durch ihren runden, vollen, fast männlichen Ton“ (AmZ 1881, Sp. 189).

 

 

WERKE FÜR VIOLINE UND KLAVIER

Barcarolle op. 8, Wien u. Leipzig (Robitschek) 1902; Crescence-Gavotte, Wien u. Leipzig (Albert J. Gutmann) 1899; Walzer, Wien u. Leipzig (Albert J. Gutmann) 1899

 

LITERATUR

Allgemeine Kunst-Chronik [Wien] 1890, S. 62

Allgemeine Zeitung [München] 11. Jan. 1901

AmZ 1876, Sp. 281; 1881, Sp. 189; 1881, Sp. 829f.

Bayreuther Blätter 1890, S. 71f.

Blätter für Theater, Musik und Kunst 1869, S. 136, 232; 1870, S. 107; 1873, S. 8

Bock 1868, S. 144, 247f.; 1870, S. 140; 1875, S. 158, 406; 1876, S. 46; 1878, S. 21, 86

Deutsche Kunst- und Musik-Zeitung 1880, S. 72; 1887, S. 128; 1888, S. 139

Deutsche Musik-Zeitung [Wien] 18. Juli 1874, S. 1; 1884, S. 613, 629; 1885, S. 178, 530; 1886, S. 436

Dresdner Journal 24. Febr. 1878

Figaro. Humoristisches Wochenblatt [Wien] 4. Mai 1872

Fremden-Blatt 26. Okt. 1884

FritzschMW 1876, S. 44, 446; 1878, S. 76; 1890, S. 390; 1892, S. 275f.; 1904, S. 36

Grazer Volksblatt 1879, 28., 30. Nov.

Le Guide musical 1875, 16. Dez.

Illustriertes Österreichisches Journal 21. April 1875

Illustriertes Wiener Extrablatt 1876, 22. Dez.; 1877, 29. Dez.

Innsbrucker Nachrichten 15. Nov. 1879

Innsbrucker Tagblatt 1876, 16., 25., 26., 30. Okt., 3., 27. Nov.

Landshuter Zeitung 1876, 2., 5. März

Leimeritzer Zeitung 1880, 28. Febr., 3. März

Leipziger Tageblatt 1878, 20. Febr., 24. März

Leobner Wochenblatt 2. April 1882

Marburger Zeitung 24 März 1882

Meraner Zeitung 4. Nov. 1876

Monthly Musical Record 1888, S. 105

Musical Courier, 1894, 12. Dez., S. 14; 1898, 9. Nov., S. 19

Neue Freie Presse [Wien] 1873, 3. Jan.; 1874, 28. März; 1876, 4. Febr., 14. April, 4. Sept.

Neue Musikalische Presse 19. April 1896

Neues Fremden-Blatt [Wien] 1871, 24. Juni; 1874, 30. Juni; 1875, 14., 22. April, 1876, 8. Jan.

Neueste Nachrichten [München] 1. März 1876

NZfM 1868, S. 317, 368, 397; 1870, S. 185; 1872, S. 214; 1876, S. 281, 346, 485; 1877, S. 204; 1878, S. 108, 144; 1879, S. 299

Niederösterreichischer Amts-Kalender für das Jahr 1908, S. 653

Österreichische Eisenbahn-Zeitung 20. Jan. 1905

Österreichische Musik- und Theaterzeitung 1889, 1. Jan.; 1890, 1. Febr.

Die Presse [Wien] 1871, 9. Jan.; 1875, 8., 15., 21. April, 16. Dez.; 1876, 22. Jan., 12. Febr., 21. Aug., 28. Nov., 4. Dez.; 1879, 4. Dez.; 1884, 25. Dez.; 1885, 22. April; 1892, 20. Nov.; 1893, 22. Nov.; 1894, 21. Okt.

Signale 1870, S. 437; 1876, S. 25, 37, 68, 75, 213, 234, 554; 1879, S. 195; 1880, S. 131, 533; 1882, S. 373; 1885, S. 960; 1896, S. 485; 1888, S. 467

Salzburger Volksblatt 19. Okt. 1905

Tages-Post [Linz] 2. März 1882

Das Vaterland [Wien] 1886, 5., 12. Dez.

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Wiener Signale 1880, S. 44 ff., 95, 111, 115, 295

Wiener Sonn- und Montags-Zeitung 25. Apr. 1870

Pazdírek, Marx/Haas, OeML online (Art. Seydel, Schwestern)

Rechenschaftsbericht der Direction der Gesellschaft der Musikfreunde für das Verwaltungsjahr 1875–76, Wien 1876

Jahresbericht der Wiener Singakademie über das XVIII. Vereinsjahr, Wien 1876.

Jahresbericht des Wiener akademischen Wagner-Vereines für das Jahr 1890, Wien 1891.

Rudolf Hofmann, Der Wiener Männergesangverein. Chronik der Jahre 1843 bis 1893 aus Anlass der fünfzigjährigen Jubelfeier des Vereines, Wien 1893.

Ludwig Eisenberg, Das geistige Wien. Künstler- und Schriftsteller-Lexikon, Bd.1, Wien 1893.

Fünfter Jahres-Bericht des städt. Kaiser Franz Josef-Jubiläums-Realgymnasiums in Korneuburg, Korneuburg 1903.

Oesterreichische Statistik, hrsg. von der k.u.k. statistischen Central-Commision, Wien 18981909.

Einteilungsliste des Lehr- und Erziehungspersonales an den k. u. k. Militär-Erziehungs- und Bildungsanstalten und den k. u. k. Offizierstöchter-Erziehungsinstituten im Schuljahre 1909/1910, Wien 1909.

Friedrich Frick, Kleines Biographisches Lexikon der Violinisten. Vom Anfang des Violinspiels bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts, Norderstedt 2009.

Ingrid Fuchs, „Erste Auftritte von Virtuosinnen auf Violine und Violoncello in Wiener Konzertsälen“, in: Musikblätter der Wiener Philharmoniker 65 (2011), S. 337−346.

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Studierendenliste des Konservatoriums der Gesellschaft der Musikfreunde in Wien, Sophie Drinker Institut Bremen, https://www.sophie-drinker-institut.de/sch%C3%BClerinnen-wien, Zugriff am 3. Juli 2023.

 

Bildnachweis

Wiener Signale 1880, S. 45

 

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