Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Ramann, Lina

* 24. Juni 1833 in Mainstockheim bei Würzburg, † 30. März 1912 in München, Pianistin, Klavierlehrerin, Musikschriftstellerin und Komponistin. Als Tochter eines musikinteressierten Weinhändlers erhielt sie erste Unterweisungen in der Musik durch den Dorfschullehrer, erwarb sich ihre Fähigkeiten am Klavier jedoch größtenteils autodidaktisch. Erst mit der Umsiedlung der Eltern nach Leipzig – Ramann war zu diesem Zeitpunkt 17 Jahre alt – nahm sie regelmäßigen Unterricht bei der Field-Schülerin Lysinka Brendel, Ehefrau von Franz Brendel, dem Förderer der Neudeutschen Schule und Herausgeber der Neuen Zeitschrift für Musik“. Dieser Haushalt und die dort vermittelten kunstphilosophischen Werte prägten die junge Frau nachhaltig; durch Brendels Vermittlung wurde sie in den Liszt-Kreis in Weimar eingeführt. Fortan verfocht Ramann selbst die neudeutsche Richtung und deren Fortschrittsoptimismus. Großen Einfluss hatten dabei Liszts soziale Ideen, auf denen Ramann ihre Pädagogik aufbaute.

Nachdem sie 1853 nach Gera umgezogen war, wo sie kurzzeitig als Pianistin wirkte, heiratete eine ihrer Freundinnen in die USA, und Ramann beschloss, sie nach Amerika zu begleiten. Mehrere Jahre arbeitete sie in Chambersburg/PA, wo sie für die Farmen der Umgebung Musikunterricht anbot. Wie Louise Otto überliefert, konzertierte Ramann mitunter auch dort. Krankheitsbedingt kehrte sie Amerika 1858 den Rücken und gründete im holsteinischen Glückstadt, wo ihre Eltern inzwischen lebten, ein Musikinstitut für Mädchen, welches sie etwas später zu einer allgemeinen Erziehungsanstalt erweiterte. In Folge des preußisch-dänischen Krieges 1864 musste die Schule geschlossen werden. Zusammen mit ihrer Lebensgefährtin Ida Volkmann gründete Lina Ramann 1865 in Nürnberg die „Ramann-Volkmann’sche Musikschule“. Mittlerweile nahm das Institut auch Schüler männlichen Geschlechts auf. In späteren Jahren wirkte Ramann ausschließlich als Musikschriftstellerin, nachdem die Lehranstalt 1890 an den Liszt-Schüler August Göllerich übergeben worden war.

Offenbar aus Liszts frühen Pariser Schriften der 1830er Jahre abgeleitet, forderte Ramann, musikalische Bildung dem ganzen Volk, also auch den unteren Schichten zu ermöglichen; tatsächlich rekrutierte sich die Nürnberger Schülerschaft aus den führenden Familien der alten Reichsstadt. In der Praxis unterstrich sie ihren Anspruch zumindest dadurch, dass sie besonders begabte SchülerInnen kostenlos unterrichtete. Dabei ging sie davon aus, Musik übe auf die moralische Ausbildung des Seelenlebens einen entscheidenden Einfluss aus – einen Einfluss, den sie dem werdenden Nationalstaat Deutschland immer wieder ans Herz legte. In Fortführung der Ideen Franz Brendels drängte sie auf eine Neuordnung des deutschen Musiklebens im Sinne einer staatlichen Förderung, die mit ähnlichen Appellen des Allgemeinen Deutschen Musikvereins konform ging. Eine nationale Orientierung ist dabei unverkennbar.

In Nürnberg bereitete Ramanns Institut sowohl auf die Konzert- als auch auf die Lehrpraxis vor. Unter der Prämisse, ErzieherInnen hätten zwischen Kunst und Volk zu vermitteln, erlebte hier die Ausbildung von Musiklehrerinnen einen Professionalisierungsschub. Doch Ramann unterrichtete auch im Elementarbereich. Auf dieser Ebene baute ihre Lehrmethode insbesondere auf drei Grundpfeilern auf: dem Gemeinschaftsunterricht in Klassen, der Integration der Musikgeschichte in die Ausbildung und der Förderung der zeitgenössischen Musik. Mit der Idee des Gemeinschaftsunterrichts nahm sie Abschied von der üblichen instrumentalen Einzeledukation; mit dem Fach Musikgeschichte versuchte sie dem Umstand zu begegnen, dass bisherige Lehrmethoden zwar mechanische Fähigkeiten schulten, nicht jedoch das Verständnis für die Stile verschiedener Zeiten förderten. Die Musik der eigenen Gegenwart bliebe damit genauso unverständlich wie die Musik der Vergangenheit. Um dem vorzubeugen, nahmen in den halböffentlichen Konzerten des Instituts zeitgenössische Komponisten (z. B. Louis Köhler, Stephen Heller, aber auch Carl Reinecke und Robert Volkmann, also Tonkünstler eher konservativerer Ausrichtung) eine wichtige Stellung ein. Darüber hinaus wurden die Werke Franz Liszts intensiv gepflegt und seine Symphonischen Dichtungen in Arrangements für zwei Klaviere zu vier und mehr Händen aufgeführt. Die regelmäßigen Berichte in der Presse (z. B. der NZfM) legen nahe, dass Ramann durch periodisch wiederkehrende Aufführung gerade der Symphonischen Dichtungen versuchte, das Publikum systematisch mit diesen lange kontrovers diskutierten Werken vertraut zu machen. Diesem Zweck dienten auch Spezial-Soireen, die jährlich zu Liszts Geburtstag stattfanden.

Es ist durchaus diskussionswürdig, in Lina Ramanns Wirken einen Vorgriff auf die Kestenbergschen Reformen zu sehen, da es auf eine musikalische Betreuung von den ersten Anfängen bis zum Konservatorium setzte, dabei alle Funktionen in einer musikalischen Bildungsanstalt bündelnd. Mit ihren schon in Glückstadt gehaltenen musikhistorischen Vorträgen arbeitete Ramann darüber hinaus an einer Frühform der Erwachsenenbildung.

 

WERKE FÜR KLAVIER

Vier Sonatinen zum Gebrauch beim Unterricht für Klavier op. 9, Leipzig, o. J.; zusammen mit Ida Volkmann: Kindermuse. Kleine Clavierstücke, 2 Hefte, Leipzig 1867.

 

MUSIKPÄDAGOGISCHE SCHRIFTEN

Die Musik als Gegenstand des Unterrichtes und der Erziehung. Vorträge zur Begründung einer allgemein-musikalischen Pädagogik. Für Künstler, Pädagogen und Musikfreunde, Leipzig 1868.

Allgemeine musikalische Erzieh- und Unterrichtslehre der Jugend. Nebst einer speciellen Lehrmethode der Elementarstufen des Klavierspiels für Musikschulen und Musiklehrer überhaupt, Leipzig 1870.

 

LEHRWERKE FÜR KLAVIER

Technische Studien – Dr. Franz Liszt, dem Begründer einer neuen Ära des Klavierspiels, Hamburg 1860.

[mit Ida Volkmann,] Kindermuse. Kleine Clavierstücke, 2 Hefte, Leipzig u. Winterthur 1867.

[mit Ida Volkmann,] Erste Elementarstufe des Clavierspiels. Stückchen im Umfang von 8 Tönen für jede Hand, Nürnberg u. München 1868.

[mit Ida Volkmann,] Zweite Elementarlehre des Clavierspiels I u. II, 2. Aufl. Nürnberg 1876.

Grundriß der Technik des Klavierspiels, 3 Bde., Leipzig 1885ff.

Liszt-Pädagogium, 5 Bde., Leipzig 1902.

 

LITERATUR

Bock 1867, S. 335; 1871, S. 225ff.; 1883, S. 150

NZfM 1858 I, S. 166, 281; 1859 I, S. 142, 195; 1860 I, S. 216; 1860 II, S. 42f., S. 183; 1861 I, S. 135; 1861 II, S. 159; 1862 I, S. 158; 1862 II, S. 26, 64, 142; 1863 I, S. 1447; 1863 II, S. 143; 1864 I, S. 43; 1864 II, S. 387f.; 1865, S. 139, 350, 395; 1866, S. 7, 74, 178, 365; 1867, S. 107, 371; 1868, S. 51, S. 161f., 220, 238, 406; 1869, S. 155, 173f., 229, 443

Signale 1862, S. 172, 294; 1863, S. 289, 679; 1864, S. 794; 1865, S. 668, 752

MGG 1, MGG 2000, New Grove 2001

Louise Otto, „Lina Ramann. Auch eine Bahnbrecherin“, in: Neue Bahnen. Organ des allgemeinen deutschen Frauenvereins 19 (1884), H. 10, S. 73–77.

Louise Otto, „Lina Ramann. Pädagogin, Musiklehrerin, Schriftstellerin“, in: Die Lehrerin in Schule und Haus 2 (1885/86), H. 21, S. 641–645.

Ina Löhner, Bericht über die 25-jährige Thätigkeit der Ramann-Volkmann’schen Schule zu Nürnberg, Albrecht-Dürerplatz Nr. 513, Nürnberg 1890.

Arthur Seidl, „Zum Capitel der musikalischen Erziehung: L. Ramann’sche Unterrichtsmethode“, in: Musikalisches Wochenblatt 21 (1890), S. 169–170 und S. 181f.

Anna Morsch, Deutschlands Tonkünstlerinnen. Biographische Skizzen aus der Gegenwart , Berlin 1894.

Arthur Seidl, „Zur Musiklitteratur“, in: Blätter für litterarische Unterhaltung 37 (1898), S. 581–583.

Arthur Seidl, „Neues von der Linn. Ein Gedenkblatt zur Vollendung ihres 70. Lebensjahres“, in: AmZ 30 (1903), S. 411f.

Karl Pottgießer, „Lina Ramann (Zur Feier der Vollendung ihres siebzigsten Lebensjahres)“, in: NZfM 70 (1903), S. 365–368.

Karl Grunsky, Zu Lina Ramanns 70. Geburtstag“, in: NMZ 1903, S. 190.

Anonym, „Anmerkungen zu unseren Beilagen“ [Brief Karl Pottgießers an die Redaktion anlässlich des Todes von Lina Ramann], in: Die Musik 11 (1912), S. 191f.

Erika von Binzer, „Lina Ramann“, in: Signale für die musikalische Welt 70 (1912), S. 682.

Ina Löhner, „Lina Ramann †“ , in: Musikpädagogische Blätter 35 (1912), Nr. 9, S. 181f.

Arthur Seidl, „Lina Ramann. Ein Denkmal der Verehrung und Liebe“, in: AmZ 39 (1912), S. 415–417 und S. 439–j441.

August Stradal, „Lina Ramann †“, in : NZfM 79 (1912), S. 206–207.

August Stradal, „Zu Lina Ramanns Tode“ , in: NMZ 33 (1912), Nr. 15, S. 317.

Marie Ille-Beeg, Lina Ramann. Lebensbild einer bedeutenden Frau auf dem Gebiet der Musik, Nürnberg 1914.

Erika von Binzer, „Lina Ramann“, in: ZfM 100 (1933), S. 738–740.

Erika von Binzer, „Lina Ramann, eine Altmeisterin der Musikpädagogik“, in: Die Musikpflege 5 (1933/34), Beiheft März, S. 25–29.

Carl Christian Asmussen, „Lina Ramann – eine bedeutende Frau. Aus den Gründungsjahren der Höheren Töchterschule in Glückstadt“, in: Glückstädter Fortuna vom 27. 8. 1964, S. 3 und S. 7.

Michael Roske, „Der private Klavierlehrer im 19. Jahrhundert. Professionalisierung und Deprofessionalisierung“, in: Musica 35 (1981), S. 137–141.

Michael Roske, Sozialgeschichte des privaten Musiklehrers vom 17. zum 19. Jahrhundert, Mainz 1985.

Michael Roske, „Der Aspekt des Human-Erziehlichen im musikpädagogischen Denken von Adolf Bernhard Marx und Lina Ramann. Ein Vergleich“, in: Historische Ursprünge der These vom erzieherischen Auftrag des Musikunterrichts, hrsg. von Eckhard Nolte, Mainz 1986, S. 72–79.

Eva Rieger, „So schlecht wie ihr Ruf? Die Liszt-Biographin Lina Ramann“, in: NZfM 147 (1986), S. 16–20.

Doris Spindler, Lina Ramann als Musikpädagogin, unveröff. Magisterarbeit Ludwig-Maximilians-Universität München 1995.

James Deaville, „Lina Ramann und La Mara. Zwei Frauen, ein Schicksal“, in: Frauen in der Musikwissenschaft. Dokumentation des internationalen Workshops Wien 1998, hrsg. von Markus Grassl u. Cornelia Szabo-Knotik, Wien 1999, S. 239–252.

Sigrid Nieberle, Frauen. Musik. Literatur. Deutschsprachige Schriftstellerinnen im 19. Jahrhundert, Stuttgart 1999.

James Deaville, „Writing Liszt: Lina Ramann, Marie Lipsius and Early Musicology“, in: Journal of Musicological Research 21 (2002), S. 73–97.

Alexander J. Cvetko, „‚Die Vorstellung … ist der Anknüpfungspunkt für die musikalische Bildung'. Musikalische Bilder in Lina Ramanns musikalischer Erziehungs- und Unterrichtslehre", in: Dietrich Helms u. Stefan Hanheide (Hrsg.), Ich sehe was, was du nicht hörst – Etüden und Paraphasen zur musikalischen Analyse. Festschrift für Hartmuth Kinzler zum 65. Geburtstag, Osnabrück 2014, S. 17–28.

 

Bildnachweis

Brustbild, Photographie von Franz Hanfstaengl, München 1887. http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2003/7809593/, Zugriff am 28. Nov. 2008.

Kniestück, Photographie von Elvira. http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2003/7809594, Zugriff am 07. Nov. 2008.

 

Markus Gärtner

 

© 2008 Freia Hoffmann