Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

ZirgesZürgesZirgis, Hortensia, verh. Schletterer

* 19. März 1829 in Leipzig, † 26. Febr. 1904 in Augsburg, Violinistin. Vermutlich einer polnischen Adelsfamilie entstammend, war sie die älteste Tochter des Leipziger Buchhändlers Wilhelm Zirges. Zu ihrer näheren Verwandtschaft gehörte der erste Befehlshaber der deutschen Flotte, Admiral Karl Rudolf Brommy. Nach ersten Anfängen auf dem Klavier erlernte Hortensia Zirges – angeblich inspiriert durch ein Konzert des Violinvirtuosen François Prume – schon in frühem Alter das Violinspiel. Der Name ihres ersten Geigenlehrers ist unbekannt, später erhielt sie Unterricht bei einem Lehrer namens Hartung. Möglicherweise wurde sie danach Schülerin des Gewandhaus-Concertmeisters und Violinlehrers des Leipziger Konservatoriums Ferdinand David (1810–1873). Trotz anders lautender Angaben (Becker, Mendel, van der Straeten, Meyers Konversationslex.) fand dieser Unterricht nicht im Rahmen einer Konservatoriumsausbildung statt. Vielmehr unternahm Hortensia Zirges nach ihrer Konfirmation und dem Abschluss ihrer regulären Schulausbildung in Begleitung ihres Vaters Konzertreisen. Weitere künstlerische Ausbildung erhielt die Geigerin schließlich von Paul Guérin (1799–1872) am Pariser Konservatorium.

 

 

Hortensia Zirges’ Repertoire umfasste offenbar insbesondere die Virtuosen-Werke der damaligen Zeit. So spielte sie in ihren Konzerten Musik von David, Dancla, Prume, Vieuxtemps, Bériot (Tremolo, aber auch ein Violinkonzert), Artôt (Souvenir de Bellini) und Ernst (Elegie). In ihrer Heimatstadt Leipzig debütierte sie im Nov. 1842. Im Folgejahr spielte sie dort erneut, danach in Dresden vor dem sächsischen Königshaus und im dortigen Hof-Theater, noch im selben Jahr auch in Hamburg. In den Jahren 1844 und 1845 war Hortensia Zirges im Rahmen ausgedehnter Konzertreisen aktiv. So spielte sie in Leipzig, Dresden, Frankfurt a. M., Heidelberg, Stuttgart, Rastatt und Karlsruhe. Zudem musizierte sie am Mannheimer Hof der Großherzogin Stephanie von Baden. Von Straßburg aus fuhr sie für einen längeren Aufenthalt nach Paris. Dort spielte sie in einem eigenen Konzert in der Salle Pleyel und trat ferner in einem Konzert des Athénée Royal auf, wo sie eine Ehrenmedaille erhielt. In Paris spielte sie auch in mehreren Privat-Soireen, so etwa beim berühmten Sänger und Gesangslehrer Gilbert Louis Duprez und bei Friedrich Kalkbrenner. Nach ihrem Aufenthalt in Paris musizierte sie 1846 wieder in ihrer Heimatstadt Leipzig, im selben Jahr auch in Bernburg (gemeinsam mit Jenny Lind). 1847 spielte sie u. a. in Schleitz und Bayreuth, Ende des Jahres in Köln. Erst 1850 können weitere Konzerte nachgewiesen werden: Sie unternahm eine Konzertreise durch Mecklenburg, spielte u. a. in Stralsund, dann in Strelitz, Ludwigslust, schließlich in Charlottenburg, wo sie vom preußischen Königspaar „mit schmeichelhaftem Wohlwollen beehrt“ wurde (Illustrirte Zeitung 1850 I, S. 286). Ebenfalls 1850 war sie in Kassel zu hören. Um den Jahreswechsel 1850/51 bereiste die Geigerin – wiederum gemeinsam mit ihrem Vater – für ein halbes Jahr die Niederlande, konzertierte zunächst in Amsterdam (u. a. in einem Orchesterkonzert in Felix meritis mit dem Dirigenten Johannes Bernardus van Bree), danach in kleineren Städten.

Die Urteile der Musikrezensenten über die Geigerin fielen in ihren Jugendjahren sehr unterschiedlich aus. Dies begann bereits bei der Einschätzung ihrer spieltechnischen Fähigkeiten. So würdigte die „Kölnische Zeitung“ 1847 insbesondere die „perlende Reinheit ihres Trillers und die Eleganz und Gleichmäßigkeit ihres Staccato’s“ (Kölnische Zeitung 7. Dez. 1847). Auch die „Allgemeine Wiener Musikzeitung“ urteilte 1848 positiv über die Leistungen Hortensia Zirges’ und zitierte zum Beleg einen Krefelder Kritiker: „Sie vereinigt in ihrem Spiele Vorzüge, welche man nur bei gereiften Meistern anzutreffen gewohnt ist; schönen, Ton, geschmackvollen Vortrag, die reinste Intonation und eine Fertigkeit, für welche es, wie es scheint, keinerlei Hindernisse gibt. Ihr frisches, jugendliches Spiel wird in seiner Wirkung erhöht durch Eleganz der Bogenführung und durch Ruhe und Anmuth in ihrer ganzen Haltung, selbst bei Ausführung der größten Schwierigkeiten“ (AWM 1848, S. 219). Dieselbe Musikzeitschrift hatte noch 1844 angesichts eines Dresdner Konzertes aus der dortigen „Abendzeitung“ zitiert und damit ein vollkommen anderes Urteil veröffentlicht: „Ihr Ton ist matt und hölzern, die Intonation ohrzerreißend, die Doppelgriffe höchst unrein, die Bogenführung ganz ungeregelt, ihre Läufe und Passagen, wenn auch geläufig, doch unsauber und unsicher, das Staccato sehr wenig ausgebildet und vom Vortrag ist gar keine Rede“ (AWM 1844, S. 276). Mit Blick auf die Diskussionen über Kindervirtuosen resümierte die zitierte „Abendzeitung“ schließlich: „Hier liegt die aller Kunst Hohn sprechende Dressur recht klar am Tage“ (ebd.). Dem Vorwurf der Wunderkind-Dressur hatte die „Neue Zeitschrift für Musik“ indes schon ein Jahr zuvor widersprochen. Sie konstatierte, „daß sie [Zirges] nicht zu den Wunderkindern gehört, denen Kunststücke zum mechanischen Ableiern eingelernt werden“. Stattdessen verfüge sie über „Talent, eigne Auffassungskraft und musikalische Poesie“ (NZfM 1843 I, S. 210). Doch auch die Rezensenten der „Neuen Zeitschrift für Musik“ waren sich über die geigerischen Fähigkeiten Hortensia Zirges’ nicht einig. So äußerte sich 1846 ein Kritiker angesichts eines Leipziger Konzertes äußerst abschätzig, forderte „fleißiges Tonleiterüben“, um „vielleicht […] dadurch noch einige Resultate“ zu erzielen, und fällte schließlich ein vernichtendes Urteil: „Doch noch eifriger wünschen wir zum Besten des jungen Mädchens, sie möge nie daran denken, Virtuosin auf der Violine zu werden“ (NZfM 1846 I, S. 164).

Trotz solch boshafter Kritik blieb Hortensia Zirges zumindest kurzzeitig auch über das Alter der Kindervirtuosin hinaus auf den Konzertpodien präsent. Dabei dürfte sich ein Empfehlungsschreiben als förderlich für die Karriere ausgewirkt haben, das ihr Louis Spohr im Sept. 1847 anlässlich eines Vorspiels der Geigerin in seinem Kasseler Haus ausstellte. Spohr begründete sein freundliches, in der zeitgenössischen Berichterstattung über Hortensia Zirges oft erwähntes Zeugnis allerdings weniger mit etwaigen herausragenden geigerischen Fähigkeiten, sondern vor allem mit der Verbindung von „Frau und Violine“: „Es überrascht und interessirt, das schwere Instrument von den zarten Fingern eines jungen Mädchens so gewandt und kräftig behandeln zu hören“ (zit. nach AWM 1848, S. 219). Auswirkungen auf die professionellen Entwicklungsmöglichkeiten von Hortensia Zirges hatten jedoch auch die Auftritte der Schwestern Milanollo. Einerseits mögen Schlagworte wie „die deutsche Milanollo“ (AWM 1845, S. 216) oder die „würdige Nebenbuhlerin der Therese Milanollo“ (Bock 1850, S. 135) die Bekanntheit Hortensia Zirges’ erhöht haben, zudem dürften die immensen Erfolge der Milanollos das Publikum für junge Geigerinnen sensibilisiert haben. Andererseits stellten die Schwestern Milanollo eine hemmende, weil übermächtige Konkurrenz dar. So urteilte der Frankfurter Korrespondent der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“: „Hätten wir die Milanollo’s nicht gehört, so würde Fräul. Zirges vielleicht bewundert worden sein“ (AmZ 1845, Sp. 143).

In seinen Lebenserinnerungen zitiert Wilhelm Zirges Episoden aus dem Tagebuch seiner Tochter (aus den Jahren 1844 und 1845). Diese Aufzeichnungen der Geigerin enthalten nicht nur detaillierte Schilderungen der Pariser musikalischen Salons. Sie zeigen auch, dass sich Hortensia Zirges auf ein Netzwerk von Musikinteressierten und MusikerInnen verlassen konnte, welche die Geigerin auf den Stationen ihrer Konzertreisen unterstützten (so etwa die berühmte Schauspielerin Amalie Haizinger-Neumann in Karlsruhe). Darüber hinaus ist aus diesen Tagebuch-Exzerpten auch die Reiselust der jungen Frau zu erkennen.

1851 heiratete Hortensia Zirges in Leipzig den Komponisten, Dirigenten und Musikschriftsteller Hans Michael Schletterer (1824–1893). Für die Geigerin bedeutete die Heirat nicht das Ende ihrer Konzerttätigkeit, aber eine spürbare Einschränkung. Hans Michael Schletterer war zu dieser Zeit Musikdirektor im südpfälzischen Zweibrücken, Hortensia Schletterer spielte 1852 vermutlich nur im nahe gelegenen Landau. In den folgenden Jahren ließen die öffentlichen Auftritte der Geigerin deutlich nach, sie musizierte nun fast ausschließlich in Konzerten, die von ihrem Mann veranstaltet wurden. 1853 siedelte die Familie nach Heidelberg über, wo Hans Michael Schletterer eine Stelle als Universitätsmusikdirektor antrat. Hortensia Schletterer spielte in den Jahren 1854 bis 1856 mehrmals in Heidelberg. 1858 übernahm ihr Mann die Stelle als Kapellmeister an der protestantischen Kirche in Augsburg. Auch hier ließ sich die Geigerin hören. Über ein Augsburger Konzert 1859 schreibt die „Neue Berliner Musik-Zeitung“: „Wie steigerte sich aber dieser Applaus und das Interesse an diesem Concert, als man in Frau Hortensia Schletterer eine Violinspielerin kennen lernte, welche unseren musikalischen Kräften zur Zierde gereicht. Wärme des Ausdrucks, Reinheit der Töne, elegante Bogenführung und eine immense Fertigkeit finden wir in dieser Künstlerin vereinigt. Fr. Schletterer wurde nach jeder Nummer stürmisch hervorgerufen“ (1859, S. 45). Ein letzter Auftritt ist am 4. Apr. 1860 nachgewiesen, bei dem sie in einem Konzert ihres Mannes „Variationen über ein Thema von Schubert [...] mit technischer Vollendung" vortrug (Augsburger Tagblatt 9. Apr. 1860).

Die langsame Rückzug Hortensia Schletterers als konzertierende Künstlerin mag auch mit der Geburt von vier Kindern zwischen 1852 und 1859 im Zusammenhang gestanden haben (Klara * 1852, Rudolf * 1853, Anna * 1856 und Frida * 1859). Ein weiterer Grund könnte eine – allerdings nicht näher beschriebene und datierte – Lähmung gewesen sein (ADB). Ihre Töchter Anna und Frida Schletterer wurden jeweils an der von Hans Michael Schletterer gegründeten Augsburger Musikschule zu Sängerinnen ausgebildet. Nach dem Tod ihres Mannes blieb Hortensia Schletterer in Augsburg und wohnte von 1896 an bei ihrer verwitweten Tochter Klara Lautenberg.

 

Grabstätte der Familie Schletterer, Protestantischer Friedhof Augsburg.

 

Für Informationen zur Biographie Hortensia Zirges' bedanken wir uns bei Andreas G. Ratz, Augsburg.

 

LITERATUR

Hortensia Zirges, Tagebuch (Exzerpte), in: Wilhelm Zirges, 17931851. Skizzen aus einem vielbewegten Leben, Leipzig 1859, S. 98–115.

Schletterer: Familien-Bogen des Stadtarchivs Augsburg

Bittschreiben von Oscar Moor zur Unterstützung von Hortensia Schletterer, 18. Juli 1893

AmZ 1843, Sp. 725; 1844, Sp. 257; 1845, Sp. 143, 320; 1846, Sp. 96

Augsburger Tagblatt 9. Apr. 1860

AWM 1844, S. 276; 1845, S. 216; 1848, S. 127, 219

GaillardBMZ 1844, Nr. 15

Cäcilia 1847, S. 240

Illustrirte Zeitung [Leipzig] 1844 I, S. 13f.; 1850 I, S. 286; 1851 I, S. 43

Kölnische Zeitung 1847, 7. Dez., 12., 22. Dez.

Bock 1850, S. 134f., S. 302; 1859, S. 45

NZfM 1843 I, S. 210; 1844 II, S. 172; 1846 I, S. 164; 1847 I, S. 214; 1851 II, S. 147; 1854 II, S. 256; 1856 I, S. 31

Signale 1845, S. 31, S. 158, S. 253; 1846, S. 124; 1851, S. 324; 1853, S. 408; 1856, S. 51

Süddeutsche Musik-Zeitung 1852, S. 100

Vossische Zeitung 1850, 21. Apr. Nr. 92

Becker, Schla/Bern, Mendel, Paul, ADB, Fétis, Sartori Enci

Volker Timmermann, „Hortensia Zirges in Süddeutschland, Straßburg und Paris, in: Reiseberichte von Musikerinnen des 19. Jahrhunderts. Quellentexte, Biographien, Kommentare, hrsg. von Freia Hoffmann, Hildesheim [u. a.] 2011, S. 123–147.

 

Bildnachweis

Illustrierte Zeitung [Leipzig] 1844 I, S. 13

Grabstätte der Familie Schletterer, Protestantischer Friedhof Augsburg, Grab 2EM 043/044. Dank für die Abbildungsgenehmigung an Erwin Stier und für die Übermittlung an Andreas G. Ratz.

 

Volker Timmermann

 

© 2008/2024 Freia Hoffmann