Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Czartoryska, Fürstin Marcelina, geb. Prinzessin von Radziwiłł, Radziwiłłówna

* 18. Mai 1817 in Podłużne in Polesien (heute Ukraine), † 5. Juni 1894 in Krakau, Pianistin und Mäzenin. Als Tochter von Fürst Michał Radziwiłł (1791–1846) und seiner Ehefrau, Fürstin Emilia geb. Worcellówna (um 1795–1822), stammte die Prinzessin von Radziwiłł aus einem der ältesten litauischen Adelsgeschlechter. In einem dem Russischen Reich zugeschlagenen Teil Polens geboren, lebte sie nach dem frühen Tod der Mutter bei ihrem Vater und der Großmutter Marcelina Worcellówna in Wien. 1840 heiratete sie dort den musikliebenden Fürsten Aleksander Romuald Czartoryski (1818–1886), dessen Bruder Adam (1770–1861) unter Zar Alexander I. russischer Außenminister und 1830 Vorsitzender der Polnischen Revolutionsregierung gewesen war. Die hochadelige Familie, die polnischen Wurzeln und die Liebe zu Kunst und Kultur bestimmten ihren Lebensweg insofern, als sie schon früh eine hochwertige musikalische Ausbildung erhielt und ihre vielfältigen kulturellen Interessen lebenslang ohne finanzielle Einschränkungen pflegen konnte, dies aber vorwiegend im Rahmen ihres Salons tat und ihre öffentlichen Auftritte karitativen und polnisch-patriotischen Zwecken widmete.

In Wien erhielt sie Klavierunterricht bei Carl Czerny (1791–1857) und setzte ihre Ausbildung ab 1848, als sie aus politischen Gründen aus Österreich ausgewiesen wurde, bei Frédéric Chopin (1810–1849) in Paris fort. Nachdem sie 1850 gezwungen worden war, ihre auf russischem Territorium gelegenen Güter zu verkaufen, ließ sie sich nach kurzen Aufenthalten in Nizza und Rom im Herbst 1852 langfristig in der französischen Hauptstadt nieder. Häufige Reisen an die Riviera, nach England, Belgien, Deutschland, in die Niederlande und in den Galizischen Bereich nutzte sie für Wohltätigkeitskonzerte, deren Einnahmen vorwiegend polnischen Emigranten zugute kamen. Als „ausgezeichnete Pianistin“ (Mendel) geschätzt, trat sie mit berühmten Künstlern wie Pauline Viardot Garcia, Henri Vieuxtemps, Auguste-Joseph Franchomme oder Franz Liszt auf. Dieser begleitete sie am 9. Apr. 1881 in Wien bei dem Mittelsatz aus Chopins Klavierkonzert f-Moll am zweiten Klavier und widmete ihr 1862 die zweite Fassung seiner Berceuse Searle 174/2. Auch an innovativen Projekten war die Musikerin interessiert: 1882 gestaltete sie in Krakau einen Abend mit der (damals bereits in die USA emigrierten) Schauspielerin Helena Modrzejewska, und 1877 veranstaltete sie zwei Historische Konzerte, in denen ausschließlich Werke polnischer Komponisten aus drei Jahrhunderten (Grzegorz Gerwazy Gorczycki, Stanisław Moniuszko, Ignacy Feliks Dobrzynski, Frédéric Chopin) gespielt wurden.

1867 erhielt Galizien im Zuge des sogenannten Österreichisch-Ungarischen Ausgleichs größere Freiheiten, sodass sich ein dezidiert polnisches Kulturleben entfalten konnte. In demselben Jahr kehrte Marcelina Czartoryska in den cisleithanischen Teil der k. u. k. Monarchie zurück. Nach Aufenthalten in Lemberg und Krakau bewohnte sie ab 1869 abwechselnd ein Palais in Krakau und eines in dem bei Krakau gelegenen Wola Justowska. Wie in Paris, wo ihr Salon ein beliebter Treffpunkt polnischer Emigranten, französischer Künstler und Literaten gewesen war, scharten sich auch in Krakau wieder Musiker, Literaten und Maler um sie, die den geistigen Austausch mit der vielseitig gebildeten Fürstin genossen. In ihrem Krakauer Stadtpalais (dem heutigen Grand Hotel an der Sławkowska-Straße) ließ sie sich einen Konzertsaal einrichten, in dem stets mittwochs vor geladenen Gästen musiziert wurde. Darüber hinaus war die Fürstin Zeit ihres Lebens mäzenatisch tätig – ebenso wie ihr Schwiegervater, ihr Ehemann und ihr 1841 geborener Sohn Marceli (1841–1909; er war Kunstsammler und Vorsitzender der Gesellschaft der Freunde der Schönen Künste in Krakau). Ihr Mäzenatentum zeugt von ihren breiten Interessen: So unterstützte sie neben Komponisten wie Chopin oder Gounod Maler wie Eugène Delacroix oder Jean-Auguste-Dominique Ingres, aber auch die zwischen 1854 und 1861 in Paris erscheinende polnische Zeitung „Wiadomości Polskie“ und förderte die Krakauer Musikgesellschaft sowie die 1888 eröffnete Krakauer Musikakademie. Nach dem Tod ihres Mannes 1886 trat Marcelina Czartoryska nicht mehr als Pianistin auf, verlagerte ihre Wohltätigkeit vermehrt auf den karitativen Bereich und trug u. a. zur Eröffnung eines Kinderkrankenhauses und eines Klosters bei. Sie starb als Mitglied des Karmelitinnen-Ordens.

 

Grab von Marcelina Czartoryska

und ihrem Sohn, Marceli Czartoryski

auf dem Rakowicki Friedhof in Krakau.

 

Ihrem Lehrer Chopin war Marcelina Czartoryska eng verbunden. Auch wenn sie aufgrund seines frühen Todes nur kurze Zeit seine Schülerin sein konnte, pflegte sie mit dem Künstler, den schon ihr Vater gefördert hatte, eine Freundschaft, die von gegenseitiger Wertschätzung geprägt war. Chopin widmete ihr seine Mazurka op. 67 Nr. 4 und war ein gern gesehener Gast in ihrem Salon; die Fürstin und ihr Mann trafen ihn im Herbst 1848 während seiner Reise durch England und Schottland, und ein Gemälde von Teofil Kwiatkowski aus den Jahren 1849/50 zeigt sie, historisch verbürgt, im Okt. 1849 an Chopins Sterbebett. Dass der Bezug zu Chopin über den Tod hinausreichte, demonstriert das unten abgebildete Porträt von Jan Matejko, welches die Fürstin 1874 vor einem Relief zeigt, für das der Maler Kwiatkowskis Skizzen des Verstorbenen verwendet hat.

Nach dem Tod ihres Lehrers und Freundes stellte Marcelina Czartoryska ein Gedenkalbum zusammen, das in Paris und London erschien, und sorgte für die Veröffentlichung einiger nachgelassener Werke. 1871 gab sie gemeinsam mit dem polnischen Historiker und Publizisten Stanisław Tarnowski (1837–1917) Vortragskonzerte zu Chopin, und es ist kaum erstaunlich, dass sie bei ihren Auftritten vorwiegend seine Musik auf die Programme setzte – wobei sie auch die Werke für Klavier und Orchester im Repertoire hatte. Ihre reichhaltige Sammlung an Chopiniana schenkte die Fürstin 1881 – noch zu ihren Lebzeiten – dem Czartoryski-Museum in Krakau.

 

Jan Matejko, Bildnis der Marcelina Czartoryska (Öl auf Leinwand, 1874). Mit abgebildet ist ein Marmorrelief des toten Chopin vor einer Lyra.

 

Chopin schätzte ihr Spiel sehr, und nach seinem Tod galt sie als Vertreterin der direkten Chopintradition (MGG 2000). 1845 urteilte die „Neue Berliner Musikzeitung“: „Es ist unleugbar, dass wir die Composition dieses Meisters hier [in Posen] nie besser gehört haben [...]. Unter den Händen ihrer Durchlaucht [...] trat die der Melodie zu Grunde liegende Idee, gefärbt durch die in den vollen Accorden verborgene Harmonie zur klaren Anschauung hervor, gerade wie bei einem Gemälde, dessen Idee durch die Zeichnung und die Farbe zur Anschauung kommt [...], und daher brach auch die Begeisterung der zahlreich versammelten Zuhörer [...] in einen [sic] wahren Beifallssturm hervor“ (Bock 1854, S. 355).

Ihre Chopin-Auffassung gab sie ab 1870 an PianistInnen wie Natalia Janotha, Cecylia Działyńska oder Aleksander Michałowski auch lehrend weiter, wobei sie neben der Kunst der subtilen Phrasierung und Artikulation vor allem eine klare Orientierung an Chopins Notentext forderte und allzu große agogische Freiheiten ablehnte. Ihr unmittelbar vom Komponisten  beeinflusstes Spiel erscheint damit wesentlich „moderner“ als die landläufige gefühls- und rubatogesättigte Chopin-Interpretation im ausgehenden 19. Jahrhundert.

 

LITERATUR

Bock 1854, S. 355; 1857, S. 310; 1894, S. 341

NZfM 1857 II, S. 138; 1894, S. 312

Signale 1881 S. 547; 1894, S. 615

Mendel, LexFr, Grove, MGG 2000

Polski słownik biograficzny [Polnisches biographisches Lexikon], 47 Bde. (Stand 2014), Bd. 4, Krakau 1938.

Encyklopedia Muzyczna PWM. Część biograficzna, 12 Bde., Bd. 2, Krakau 2001.

Stanisław Dybowski, Słownik pianistów polskich [Lexikon polnischer Pianisten], Warschau 2003.

Stanisław Tarnowski, Chopin i Grottger. Dwa szkice [Chopin und Grottger. Zwei Skizzen], Krakau 1892.

Stanisław Tarnowski, „Księżna Marcelina Czartoryska [Fürstin M. C.], in: Przegląd Polski [Krakau] 1895, S. 249–294.

Franz Liszts Briefe, hrsg. von La Mara, 8 Bde., Bd. 8, Leipzig 1905.

Józef Reiss, Najsławniejsza uczennica Szopena“ [Chopins berühmteste Schülerin], in: Illustrowany kurir codzienny [Illustrierter Tageskurier, Krakau] 26. Juni 1937.

Józef Reiss, Almanach muzyczny Krakowa, 2 Bde., Bd. 1, Krakau 1939.

Franz Liszt. Briefe aus ungarischen Sammlungen 1835–1886, hrsg. von Margit Prahács, Kassel 1966.

Zofia Kaluza, Chopin i Marcelina Czartoryska, in: Ruch muzyczny [Musikbetrieb] 17 (1974), S. 13f.

Korespondencja Fryderyka Chopina [Chopin, Briefwechsel], hrsg. von Bronisław Edward Sydow, 3 Bde., Paris 1953–1960, Repr. Paris 1981.

Frédéric Chopin. Briefe, hrsg. von Krystyna Kobylanska, Berlin 1983.

Konstanty Maria Górski, Ks. M. Czartoryska, Krakau 1984.

Dezső Legány, Franz Liszt: Unbekannte Presse und Briefe aus Wien 1822–1886, Wien 1984.

Chopin: Pianist and Teacher As Seen by his Pupils, hrsg. von Jean-Jacques Eigeldinger, Cambridge 1986.

Zbigniew Naliwajek, La Nécrologie de Chopin: L’album de la princesse Marcelina Czartoryska, in: La fortune de Frédéric Chopin, hrsg. von Francis Claudon, Paris 1994, S. 58–73.

John Rink, „Authentic Chopin: History, Analysis and Intuition in Performance“, in: Chopin Studies, hrsg. von John Rink u. Jim Samson, 2 Bde., Bd. 2, Cambridge 1994, S. 214–244.

Jerzy Skarbowski, Sylwetki pianistów polskich [Silhouetten polnischer Pianisten], 2 Bde., Bd. 1, Rzeszów 1996.

Jolanta Lenkiewiczowa, „Księżna Marcelina Czartoryska inicjatorka założenia ,Pokoju z pamiątkami po Chopinie‘ w Muzeum Książąt Czartoryskich w Krakowie“ [Fürstin M. C., die Initiatorin des Chopin-Zimmers im Czartoryski-Museum in Krakau], in: Rocznik Biblioteki PAN w Krakowie 43 [Jahrbuch der Bibliothek PAN in Krakau] 1998, S. 143–151.

Bożena Weber, Chopin. Kobiety jego życia [Chopin. Frauen in seinem Leben], Paris 1999.

Tadeusz Przybylski, „Księżna Marcelina Czartoryska – animatorka życia koncertowego Krakowa w II poł. XIX wieku“ [Fürstin M. C., Initiatorin des Konzertlebens in Krakau in der zweiten Hälfte des 19. Jh.], in: Musica Galiciana 5 (2000), S. 143–153.
 
Tadeusz A. Zielinski, Chopin. Sein Leben, sein Werk, seine Zeit, Mainz 2008.

Bożena Weber, Marcelina Czartoryska, http://pl.chopin.nifc.pl/chopin/persons/detail/id/6717, Zugriff am 22. Okt. 2014.

Hotel & Palace Grand w Krakowie, http://pl.wikipedia.org/wiki/Hotel_%26_Palace_Grand_w_Krakowie, Zugriff am 22. Okt. 2014.

Baza osób polskich – Polnische Personendatenbank, http://www.baza-nazwisk.de/suche.php?see=Czartoryska%2C+Marcelina, Zugriff am 22. Okt. 2014.

Biographischer Artikel, http://www.delacroix.republika.pl/pages/poland/pages/marcelina.html, Zugriff am 22. Okt. 2014.

Biographischer Artikel, http://bazawiedzy.chopin2010.pl/en/people/family-and-friends/entry/4487-czartoryska-marcelina/nocache.html, Zugriff am 24. Okt. 2014.

 

Bildnachweis

Grab von Marcelina Czartoryska und ihrem Sohn, Marceli Czartoryski, http://www.delacroix.republika.pl/pages/poland/pages/marcelina.html, Zugriff am 22. Okt. 2014.

Jan Matejko, Bildnis der Marcelina Czartoryska. Krakau, Fundacja XX. Czartoryskich, http://www.jan-matejko.org/Portrait-of-Marcelina-Czartoryska.html, Zugriff am 22. Okt. 2014.

 

Kadja Grönke

 

© 2014 Freia Hoffmann