Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Kull, Anna Ludwika

* 21. Okt. 1841 in Klausenburg, † 1923 in Trient, Violoncellistin. Ihr Vater Jakob Kull (1817–1886) stammte aus Niederlenz (Schweizer Kanton Aargau), war dort zunächst als Besitzer einer Mühle tätig, studierte dann in Wien Musik und arbeitete zur Zeit der Geburt Anna Kulls in Klausenburg (Siebenbürgen) als Kapellmeister. Anna Kulls Mutter, die aus dem Hochadel stammende Emerenzia Maria Jöchlinger, Freiin von Jochenstein, spielte Klavier. Ihren ersten Unterricht bekam Anna Kull vermutlich von ihrem Vater. Danach wurde sie von einem Violoncellisten Schleich in Zürich unterrichtet. 1855 erhielt sie schließlich Unterricht von Hippolyt Müller, dem Solocellisten der Münchner Hofkapelle und Lehrer am dortigen Konservatorium.

Anna Kull erscheint als eine ausgesprochene musikalische Frühbegabung, ihre Karriere war jedoch von kurzer Dauer. Bereits ca. 1860 spielte sie – abgesehen von seltenen Ausnahmen – nicht mehr in der Öffentlichkeit. Vermutlich geschah der Rückzug auf Wunsch der Eltern, die nach dem frühen Tod der älteren Schwester um Anna Kulls Gesundheit fürchteten. Bis zu ihrem Rückzug hatte die Violoncellistin jedoch in einer Reihe von Städten konzertiert. Neben Auftritten in der Schweizer Heimat war sie etwa in München (mehrfach, z. B. 1855 in einem von Joseph Gabriel Rheinberger dirigierten Konzert), London (mehrfach, z. B. 1857 in einem Konzert mit Arabella Goddard), Baden-Baden, Frankfurt a. M. (1859/60 zwei Konzerte, dazu in Privatkreisen) und Paris zu hören. Der räumlich weite Umfang ihrer Konzerttätigkeit dürfte ursächlich auf die ausgeprägte Reisetätigkeit der Eltern – begründet durch die musikberufliche Tätigkeit ihres Vaters und die reichen verwandtschaftlichen Beziehungen ihrer Mutter – zurückzuführen sein. So lernte sie während eines Ferienaufenthalts auf der Kanalinsel Jersey Mitglieder des englischen Königshauses kennen und konzertierte daraufhin vermutlich schon als 12-Jährige in London. Anna Kull trug den Titel einer Kammervirtuosin der Königin von England (NZfM 1878, S. 58).

Anna Kull war eine der ersten Frauen, die der Pionierin Lise Cristiani als Violoncellistinnen nachfolgten. Soweit es der knappen Quellenlage zu entnehmen ist, erscheint die Wahrnehmung Anna Kulls – anders als diejenige Lise Cristianis – weniger von Fragen des visuellen Eindrucks bestimmt gewesen zu sein. So spricht die „Neue Münchener Zeitung“ angesichts eines Auftritts Kulls von einer „ungewohnten obwohl liebenswürdigen Erscheinung“ (18. Sept. 1855, zit. nach Wanger/Irmen), während die Münchener „Neuesten Nachrichten“ sie nach demselben Konzert als „eine angenehme überraschende Erscheinung“ bezeichnen (20. Sept. 1855, zit. nach Wanger/Irmen). Für die freundliche Aufnahme der Cellistin dürfte nicht nur ihre Jugend verantwortlich gewesen sein. Auch die Herkunft aus einer adligen Familie mag die Wertungskategorien der bürgerlichen Musikkritik beeinflusst haben. Inwieweit Anna Kull – etwa durch eine entsprechend modifizierte Spielhaltung (vgl. dazu den Artikel über Lise Cristiani) – etwaigen Ressentiments gegenüber Violoncellistinnen begegnen wollte, ist nicht bekannt. Zumindest spielte sie ein „kleines Instrument“ (NZfM 1860 I, S. 133) – also vermutlich ein Cello kleinerer Bauweise.

Der Tenor der Rezensionen über die musikalischen und instrumentalen Fähigkeiten Anna Kulls ist durchweg positiv. Ihr Geschlecht wird dabei zwar zu ihrer Spielweise, kaum jedoch zu ihrer Instrumentenwahl in Beziehung gesetzt. Die „Neue Zeitschrift für Musik schrieb 1860 aus Frankfurt a. M. in freundlichem Grundton: „Schöner, weicher Ton, elegante Spielweise, namentlich ein herzenswarmes Cantabile, sind die Vorzüge dieses kaum achtzehnjährigen und schönen Mädchens. Mehr musikalische Solidität, namentlich im Fiorituren- und Passagewesen, sich anzueignen hat sie jetzt in Paris charmante Gelegenheit“ (NZfM 1860 I, S. 133). Noch im Jahr zuvor jedoch konnte sich die Redaktion derselben Zeitschrift nicht recht vorstellen, dass eine Cellistin aufgrund ihrer musikalischen Qualitäten Erfolg haben könnte. Die „Neue Zeitschrift für Musikvermeldete aufgrund eines Londoner Konzert Anna Kulls: „der Beifall, den sie gefunden haben soll, bezog sich wahrscheinlich nur auf die Curiosität“ (NZfM 1859 I, S. 47). Der Berichterstatter des Berner „Intelligenzblattes“ gibt sich mit dem Blick auf Cellistinnen geradezu geläutert: „Wir waren damals etwas ungläubig und begriffen nicht, wie man auf den Einfall kommen konnte, für ein Mädchen von so zartem Alter dieses ungemein schwierig zu behandelnde und männliche Kraft erfordernde Instrument zu wählen. Nun haben wir Gelegenheit gehabt, die junge Künstlerin zu hören, und können nicht anders, als ein Talent bewundern, das in weniger als drei Jahren es zu einer Virtuosität gebracht hat, wie sie nur bei seltener Begabung möglich ist“. Schließlich hofft der Autor – für einen Musikrezensenten in dieser Zeit völlig ungewöhnlich – gar auf weitere Cellistinnen nach dem Vorbild Anna Kulls: „Es freut uns schon jetzt, eine Schweizerin […] in naher Zukunft einen Platz unter den Virtuosen erster Größe einnehmen zu sehen, und wir hoffen, daß sie trotz der großen Schwierigkeit des herrlichen Instrumentes, gleich Milanollo Nachahmerinnen finden werde“ (Intelligenzblatt für die Stadt Bern, 12. Febr. 1856, S. 6).

Für ihre Darbietungen wählte Anna Kull vorwiegend kleinformatige, damals populäre Stücke (z. B. die Hymne op. 18. Nr. 6 von Auguste Lindner, aber auch Werke von Cello-Komponisten wie Guillaume Paque, Alfredo Piatti, Adrien-François Servais, Bernhard Romberg) und Opernparaphrasen (etwa Joseph Merks Morceau de Salon aus Lucia di Lammermoor). Ungewöhnlich ist, dass sie auch in Kammermusik-Ensembles mitwirkte. In Frankfurt spielte sie mit Eduard Eliason und Julius Sachs einen Satz aus Beethovens Klaviertrio c-Moll (NZfM 1859 II, S. 139). In einem Konzert in Bern musizierte sie möglicherweise im Streichquartett (vgl. die Abb. des Programms).

Zumindest 1877 spielte Anna Kull nochmals in einem Wohltätigkeitskonzert in Graz (Grazer Zeitung 8. Dez. 1877). Anna Kull unterhielt auch im Alter ihre verwandtschaftlichen Beziehungen aufrecht. Während eines Besuchs auf Schloss Trient starb sie 1923. Ihr Cello vererbte sie der Stadt Graz.

 

 

LITERATUR

Grazer Zeitung 1877, 8. Dez., Nr. 281

Intelligenzblatt für die Stadt Bern 1855, 5. Sept. S. 8; 1856, 11. Febr. S. 4f., 12. Febr. S. 6, S. 10

MusW 1857, S. 189, S. 233, S. 427

Neue Zeitschrift für Musik 1857 II, S. 8; 1859 I, S. 47; 1859 II, S. 59, S. 111, S. 139; 1860 I, S. 133; 1877 II, S. 546; 1878 I, S. 58

Süddeutsche Musik-Zeitung 1855, S. 48

Emil Braun, Geschichte des Orchesters des Musikvereins Lenzburg. Festschrift zur Feier des 100jährigen Bestehens 1832–1932, Lenzburg 1932.

Karl Schenkel, „Niederlenzer Frauen und Männer aus dem 19. Jahrhundert“, in: Dorfchronik Niederlenz, hrsg. von der Gemeindekanzlei Niederlenz, Villmergen, 1961, S. 61–65.

Irène Minder-Jeanneret, Femmes musiciennes en Suisse romande. La musicienne professionnelle au tournant du siècle dans le mirroir de la presse (1894–1914), Yens s./Morges 1995.

Josef Gabriel Rheinberger. Briefe und Dokumente seines Lebens I, hrsg. von Harald Wanger u. Hans-Josef Irmen, Vaduz 1982.

Volker Timmermann, Das Violoncello aber, dieser halbgewachsene Mann... Violoncellistinnen in den 50er und 60er Jahren des 19. Jahrhunderts, in: Musik und Emanzipation. Festschrift für Freia Hoffmann zum 65. Geburtstag, hrsg. von Marion Gerards u. Rebecca Grotjahn, Oldenburg 2010, S. 111–118.

 

Bildnachweis

Porträt: NYPL Digital Library, http://digitalgallery.nypl.org/nypldigital/index.cfm, Zugriff am 17. Okt. 2008.

Programm: Intelligenzblatt für die Stadt Bern 12. Febr. 1856, S. 10

 

Volker Timmermann

 

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