Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Reichardt, (Caroline) Louise, Luise

* 11. Apr. 1779 in Berlin, † 17. Nov. 1826 in Hamburg, Sängerin, Pianistin, Organistin, Gesangs- und Klavier­lehrerin sowie Komponistin. Ihr Vater war der Kapellmeister, Komponist und Musikschriftsteller Johann Friedrich Reichardt (1752–1814), ihre Mutter Juliane geb. Benda, Sängerin, Pianistin und Komponistin. Louises Mutter starb, als sie vier Jahre alt war, und der Vater ging mit seiner zweiten Frau viel auf Reisen. Louise wurde daher zunächst bei einer Tante untergebracht. 1791 zog die Familie auf das Gut Giebichenstein bei Halle, das sich zu einem Treffpunkt romantischer SchriftstellerInnen und für Louise somit zu einem anregenden geistigen und musikalischen Umfeld entwickelte.  Im Alter von 14 Jahren war sie bereits für die Führung des Haushaltes und die Erziehung der jüngeren Halbgeschwister zuständig. Louise Reichardt brachte sich das Klavierspiel neben dem Lauten-,  Gitarren- und Harfenspiel überwiegend selbst bei. Auch im Gesang bildete sie sich weitgehend autodidaktisch. Nach der Biographie von M. G. W.  Brandt aus dem Jahr 1858 ließ sie der Vater als Sängerin nie im öffentlichen Konzert auftreten, ihr Wirkungskreis beschränkte sich daher auf die Kirche sowie zahlreiche Privatzirkel. Sie verlobte sich zweimal, aber beide Partner kamen ums Leben. Im deutsch-französischen Krieg verarmte die Familie Reichardt. Um sie finanziell zu unterstützen, zog Louise Reichardt gegen den Widerstand ihres Vaters 1809 nach Hamburg, gab dort Gesangsunterricht und baute sich damit eine eigenständige Existenz auf. Sehr schnell fand sie als Lehrerin Zulauf. Während der Belagerung Hamburgs bildete sie sich auf dem Klavier weiter und gab ab etwa 1814 (nach der Befreiung Hamburgs) auch Klavierunterricht. Mit einigen Hamburger Musikern traf sie sich zur gemeinsamen Kammermusik, bei der sie ebenfalls Klavier spielte. Um 1814 gründete sie eine der ersten Musikschulen Hamburgs, von ihr selbst „Singschule“ genannt, in der sie aber auch Klavierunterricht erteilte. Ob der Musiker und Komponist Johann Heinrich Clasing (1779–1829) Louise Reichardt zeitweise unterrichtete, ist unklar (vgl. Boffo-Stetter, S. 76). Zusammen mit Clasing gründete Reichardt 1816 einen Musikverein, wobei sie die Leitung des Chores übernahm. 1818 organisierten sie gemeinsam ein gut besuchtes Musikfest in der Hamburger St. Michaelis Kirche, bei dem Händels Messias und Mozarts Requiem zur Aufführung kamen. Auf­grund ihrer Religiosität hegte Louise Reichardt ein großes Interesse für geistliche Musik.

1819 reiste sie nach England, in der Absicht, ihre Unterrichtstätigkeit in London fortzusetzen. Gesundheitliche Probleme hinderten sie jedoch an der Umsetzung dieses Planes, und sie kehrte fünf Monate später wieder nach Hamburg zurück. Zum Zwecke der Begleitung ihres Chores lernte Reichardt auch das Orgelspiel. 1823 nahmen ihre gesundheitlichen Probleme zu, und sie konnte daher nicht mehr im früheren Umfang unterrichten. Ihre Lehrtätigkeit hielt sie jedoch bis kurz vor ihrem Tode im Jahr 1826 aufrecht.

Louise Reichardt hat mehr als 75 Lieder, darunter Gesänge mit Klavier- und Gitarrenbegleitung komponiert, die zwischen 1800 und 1827 veröffentlicht wurden. Über öffentliche Auftritte Louise Reichardts als Pianistin oder Organistin ist nichts bekannt.

 

LITERATUR

AmZ 1818, Sp. 713 ff.; 1822 Sp. 212 f.; 1827 Sp. 165 ff.; 1840, Sp. 83f.Intelligenzblatt der Zeitung für die elegante Welt 1818, Sp. 1914f.

Gerber 2, Gathy, Schilling, Ledebur, Mendel, ADB, Fétis, MGG 1, Baker 5, New Grove 1, Cohen, MGG 2000, New Grove 2001

Neuer Nekrolog der Deutschen, Ilmenau 1828.

Martin Gottlieb Wilhelm Brandt, Leben der Luise Reichardt: nach Quellen dargestellt, Karlsruhe 1858.

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Franz Lorenz, Die Musikerfamilie Benda. Franz Benda und seine Nachkommen, Berlin 1967.

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Michael Roske, Sozialgeschichte des privaten Musiklehrers vom 17. zum 19. Jahrhundert, Mainz [u. a.] 1985.

Helene M. Kastinger Riley, Die weibliche Muse. Sechs Essays über künstlerisch schaffende Frauen der Goethezeit, Columbia 1986.

Martina Helmig, „Biographische Notiz“, in: Komponistinnen in Berlin, hrsg. von Bettina Brand u. a., Berlin 1987, S. 16–25.

Renate Moering, „Arnims künstlerische Zusammenarbeit mit Johann Friedrich Reichardt und Louise Reichardt. Mit unbekannten Vertonungen und Briefen“, in: Neue Tendenzen der Arnimforschung. Edition, Biographie, Interpretation, mit unbekannten Dokumenten, hrsg. von Roswitha Burwick [ u. a.], Bern [u. a.] 1990, S. 198–288.

Iris Boffo-Stetter, Luise Reichardt als Musikpädagogin und Komponistin. Untersuchungen zu den Bedingungen beruflicher Musikausübung durch Frauen im frühen 19. Jahrhundert, Frankfurt a. M. [u. a.] 1996.

Gisela Licht, „Weiblicher Lebensanspruch in der Zeit der Romantik – die Liedkomponistin und Tochter Johann Friedrich Reichardts (1779–1826)“, in: Weiblicher Lebensanspruch, hrsg. von Courage e. V., Halle/Saale 1996, S. 6–17.

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Anja Herold/CB

 

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