Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

1. DelepierreDelépierre, Dellepierre, Dellepier, Delpierre, Juliette, Julietta

* ca. 1852 in Douai (Nordfrankreich), Sterbedaten unbekannt, Violinistin. 

2. DelepierreDelépierre, Dellepierre, Dellepier, Delpierre, Julia, Julie, Julia

* ca. 1854 oder 1855 (Ort unbekannt), Sterbedaten unbekannt, Violinistin, Xylophonistin.

 

Sie waren die Töchter des Musikers und Komponisten Jules-Louis Delepierre (1820–?), ihr Ausbildungsgang ist nicht bekannt. Als musizierendes Schwesternpaar bereisten sie im Kindes- und Jugendalter Europa, wobei Juliette Delepierre zu Beginn ihrer Konzerte 1858 in Paris zunächst noch allein auf der Bühne stand. Im folgenden Jahr, als die Familie in London weilte, musizierte neben ihr nicht nur ihre Schwester Julia, sondern auch ihr Bruder Jules, der anscheinend ca. zwei Jahre älter war als Juliette. Das Londoner „Theatrical Journal“ schreibt von den „Delepierre Children, three in number, Julie, Julietta and Jules, aged respectively four, six, and eight“ (Theatrical Journal 1859, S. 163). Jenseits des Ärmelkanals waren die Geschwister zumindest von Mai bis Aug. 1859, jeweils in London in mehreren Konzerten und an verschiedenen Orten, gemeinsam tätig. Rund ein Jahrzehnt später ist in der Lyoner Zeitung „L’Avant-Garde“ noch von einer weiteren Schwester zu lesen:  „Mlle Delepierre débute seulement cette année dans la carrière de ses sœurs. Elle à 4 ans!“ (Mlle. Delepierre trat in diesem Jahr im Rahmen der Auftritte ihrer Schwestern erstmals auf. Sie ist 4 Jahre alt!“, L’Avant-Garde, 22. Jan. 1870).

1862 spielten Juliette und Julia Delepierre, nun ohne den Bruder, erstmals im deutschsprachigen Raum. Sie begannen ihre Auftritte in Köln, spielten in Hannover und begaben sich zu einer Reihe von Konzerten nach Berlin. Über Stettin und Hamburg führte ihr Weg nach Altona. Auch in Bremen und ebenso in Potsdam spielten die Beiden 1862/63. 1863 waren sie in Brüssel, Anfang 1864 in mindestens neun Konzerten in Lyon zu hören, musizierten danach in der Schweiz (Bern, Genf). Im Folgejahr konzertierten die Schwestern in ihrer französischen Heimat, u. a. in Angers, Montpellier und Rochefort. Im Jan. und Febr. 1866, später nochmals im Dez. desselben und im Jan. des folgenden Jahres, waren die Schwestern in den Niederlanden unterwegs. Zwischen diesen Reisen tourten sie in Frankreich, spielten in Paris, aber etwa auch in der Loire-Stadt Saumur. 1867 reisten sie über den deutschen Sprachraum, wo sie in Baden-Baden und Berlin konzertierten, nach Russland, um in St. Petersburg und Moskau aufzutreten.

Ab 1868 werden die Meldungen über sie spärlich. Die Schwestern trennten sich nun und konzertierten jeweils allein. Im Frühjahr 1869 war Julia Delepierre in Toulon und in Marseille zu hören, im Sommer desselben Jahres spielte sie in Genf. 1876 war sie im Thêatre des Folies-Bordelaises in Bordeaux zu Gast. 1889 erwähnt das „Tunis-Journal“ „Mme Julia Delepierre Douay, violoniste particulière de S. M. l’Impératrice de Russie, nous a tenu sous le charme de son violon magique“ („Mad. Julia Delepierre [aus] Douay, Violinistin I. M. der Zarin von Russland, hat uns mit dem Charme ihrer Violine in ihren Bann gezogen“, Tunis-Journal, 21. Mai 1889). 1872 ist aus „L’Europe Artiste“ zu erfahren, dass eine Mlle. Delepierre nun in Rio de Janeiro weile. Da die Künstlerin dort auch Xylophon spielte, dürfte es sich um Julia Delepierre gehandelt haben. Julia Delepierre musizierte in ihren Konzerten gelegentlich auf diesem Instrument, so auch – noch im Verbund mit ihrer Schwester – 1866 in Oxford. 1891 schließlich nennt „Le Ménestrel“ (S. 72) ihren Namen im Zusammenhang mit einem Konzert, das wohl in Paris stattfand.

Zu Juliette Delepierres späterem Lebensweg ist die Quellenlage noch knapper. 1868 spielte sie an unbekanntem Ort  wohl ein Violinkonzert Emilien Faurés. 1869 konzertierte sie in St. Petersburg. „Le Monde Artiste“ berichtet 1878 aus Bukarest über sie. Nicht immer ist nachvollziehbar, welche der beiden Delepierre-Schwestern in Presseerwähnungen gemeint ist. Unklar ist dies etwa bei einem Auftritt in Monaco im Jahr 1869 oder bei den Konzerten im irischen Cork, bei denen eine der Schwestern 1875 mitwirkte.

Die weitaus größte Presseresonanz erhielten die Schwestern Delepierre indes in ihrer kindlichen Wirkungszeit. Wie etwa auch bei Bertha Brousil provozierte ihr Auftreten allgemeinere Diskussionen über KindervirtuosInnen. So schreibt die „Niederrheinische Musik-Zeitung“ 1862 angesichts der Auftritte in Köln: „Trotz der Vorurtheile, welche gegen die musicalischen Wunderkinder gäng [sic] und gebe sind und besonders gern durch Musiker von [sic] Fach verbreitet werden […], bleibt ihre Erscheinung doch immer ein Phänomen, das von einer ausnahmsweisen Organisation der menschlichen Natur für die Entwicklung der musicalischen Anlage Zeugniss gibt, indem für keine andere Kunst oder Wissenschaft das Genie so früh durchbricht und der damit eng verbundene Fleiss so bald zu Resultaten führt, die in Erstaunen setzen. Denn darin liegt eben das Genie, dass der beharrliche Fleiss und die Kraft der Ausdauer durch nie rastenden Trieb mit der Kraft der geistigen Anlage zugleich von der Natur gegeben ist, und es ist nichts alberner, als dass wirklich künstlerische Leistungen solcher Kinder, wie die Milanollo’s und diese Delépierre’s sind, durch strenge Zucht, Abrichtung oder gar Straf-Pädagogik erzielt werden könnten. Am unvernünftigsten erscheinen dergleichen Aeusserungen im Munde von Musikern, die dadurch das Privilegium von Gottes Gnaden, welches sie für die Kunst und folglich für sich selbst in Anspruch nehmen, für abgestandenen Aberglauben erklären“ (Niederrheinische Musik-Zeitung 1862, S. 216). Eine ganz andere Haltung nimmt, ebenfalls am Beispiel der Schwestern Delepierre erörtert, die „Neue Berliner Musikzeitung“ ein. Ihrem Rezensenten „thut es fast weh, die lieben unschuldigen Geschöpfe mit ihren kleinen Gesichtchen und den grossen dunkeln  [sic] tiefliegenden Augen, aus denen sie ernst und träumerisch blicken, vor sich zu sehen. Man hört solche Kinder mehr mit dem Herzen als mit dem Ohre; aus jedem Ton klingt ein Stückchen von dem Himmel, den jeder Mensch in der Kinderzeit in seiner Brust trägt und der ihm nur auf unnatürlichem Wege verkümmert und geraubt werden kann. Wer wollte uns einreden, dass Kinder – und seien sie noch so talentbegabt – auf dem vorgeschriebenen naturgemässen Einwickelungsgange in den Kinderjahren Virtuosen werden könnten? wie sollten Künstlerleistungen entstehen in den Zeiten der ungetrübtesten Heiterkeit und Unbefangenheit, wenn nicht durch Entziehung und Unterdrückung des kindlichen Wesens? Wer vermag da zu beurtheilen, wo die Dressur aufhört und das Talent anfängt?“ (Bock 1862, S. 244). Nachdenklich beschließt der Berliner Kritiker seinen Text: „Ernst und still blickten die vier grossen Augen in die entzückte und gerührte Menge, und wohl Niemand vermochte in seinem Innern die Frage zurückzuweisen: Was mögen die Kinder wohl gelitten haben, ehe sie mit solcher Virtuosität vor ein Publikum treten konnten?“ (ebd., S. 245).

Jenseits solcher Überlegungen werden die Schwestern Delepierre von der Musikkritik sehr gelobt. Derselbe Kritiker aus Berlin schreibt, es würde „scheinen, als hätten wir bei Kindern niemals eine so fabelhafte Technik gehört. Die ältere […] beherrscht mit grösster Leichtigkeit alle Applicaturen, so dass der Fingersatz bei den kleinen zarten Fingerchen gar nicht zu verfolgen ist, ihre Scalen sind rein, ihr Staccato – freilich fast stets mit springendem Bogen [und damit nicht in der technisch anspruchsvolleren Staccato-Technik ausgeführt] – ausserordentlich gleichmässig und correct. Arpeggien, Pizzicato-Stellen lassen nichts zu wünschen übrig, der Ton ist so voll als man ihn von einem neunjährigen Mädchen irgend verlangen kann, die Cantilene hat Fluss und zeigt unverkennbar von Empfindung“ (Bock 1862, S. 244f.). Auch der jüngeren Schwester Julia bescheinigt der Rezensent „Fertigkeit“ und notiert: „Dabei entwickelt die Kleine eine Keckheit und einen natürlichen Humor, die uns unwillkürlich die Augen mit Thränen füllen“ (ebd., S. 245). Das Berner „Intelligenzblatt“ beobachtet „den schalkhaften Seitenblick […], mit der die ältere Juliette ihre viel kleinere Schwestern Julia anspornt, die ihrerseits in tadellos sicherer Haltung und mit unschuldigem, naivem Ausdruck in dem allerliebsten Gesichtchen sich sofort anschickt, der Aufforderung […] nachzukommen“  (Intelligenzblatt für die Stadt Bern 12. Juni 1864). Diese spezifische Art, das jüngere Mädchen als die kindlich Unbeschwerte zu erfassen, während die Ältere über die Handlungen wacht, erinnert an die Wahrnehmung der Schwestern Milanollo, mit denen Juliette und Julie Delepierre denn auch regelmäßig verglichen wurden.

Für ihre Darbietungen nutzten die Geigerinnen typisches Virtuosenrepertoire leichtgängiger Prägung, wie etwa die in dieser Zeit häufig gespielte Fantasie über Bellini’sche Themen Alexandre-Joseph Artóts oder Heinrich Wilhelm Ernsts „unvermeidlichen ‚Carneval von Venedig‘“ (Bock 1862, S. 245), wohl in einer Fassung für zwei Violinen von Paganini.

 

 

LITERATUR

AmZ 1863, Sp. 393

L’Avant-Garde 22. Jan. 1870

Berner Taschenbuch auf das Jahr 1868, S. 396

Bock 1862, S. 236, 244f., 251, 261, 301, 302, 326; 1863, S. 4f.; 1866, S. 136

La Comédie 24. Jan. 1864, S. 3; 14. Febr. 1864, S. 5, 28. Febr. 1864, S. 6, 7f.; 13. März 1864, S. 5, 6; 23. Okt. 1864, S. 7; 29. Jan. 1865, S. 6, 7; 17. Dez. 1865, S. 7; 19. Febr. 1865, S. 5; 21. März 1869, S. 5; 5. Mai 1869, S. 7; 12. Sept. 1869, S. 7; 12. März 1876, S. 6; 12. März 1876, S. 6; 8. Mai 1876, S. 8;7. Apr. 1876, S. 3

Critic (London) 1859, S. 64, 521

Deutscher Bühnen-Almanach 1864, S. 20, 21, 36, 47, 135, 237

Dwight’s Journal of Music 1859, S. 78

The Era 1. Mai, 3. Juli, 7. Aug.  1859; 15. Juli, 5. Aug. , 12. Aug. 1866

L’Europe Artiste, 3. Jan. 1864, S. 3, 4; 1. Jan. 1865, S. 4; 5. Jan. 1868; 26. Apr. 1868; 7. Jan. 1872

Le Foyer 1866, 14. Nov. S. 5f, 22. Nov. S. 5, 6. Dez. S. 5, 13. Dez. S. 4, 20. Dez. S. 4

Le Guide musical 5. Apr. 1866

Le Guignol. Journal-Programme du Théatre de Saumur 12. Apr. 1866

Intelligenzblatt für die Stadt Bern 6. Juni, 7. Juni, 9. Juni, 10. Juni, 12. Juni, 13. Juni 1864

Journal de Genève 8. Mai, 11. Mai, 12. Mai, 15. Mai, 18. Mai 1864; 20. Aug. , 21. Aug ., 27.Aug. 1869; 7. Aug. 1870

Mémoires de l’Académie de Nîmes 1882, S. 226

Le Ménestrel 1862, S. 294; 1865, S. 22; 1866, S. 239; 1869, S. 109, 168; 1891, S. 72

The Morning Chronicle 21. Mai 1859

MusW 1859, S. 492, 576; 1862, S. 515, 547

Nature and Art 1866, S. 190

New York Weekly Review, 1862, S. 10

Niederrheinische Musik-Zeitung 1862, S. 216

NZfM 1862 II, S.44, 63, 98, 107; 1867 , S.70, 178, 213

The Orchestra 1866, S. 342

Le Parterre (Angers) 2. Dez. 1865, S. 3

Revue des deux Mondes 1858, S. 736

RGM 1858, S. 132; 1864, S. 71; 1867, S. 260

Le Rideau. Journal Illustré des Théatres (Marseille) 3. Apr. 1869, S. 4, 6

Signale 1866, S. 575; 1867, S. 182, S. 498

Theatrical Journal 1859, S. 163

Tunis-Journal 21. Mai 1889

Hyppolyte Verly, Essai de Biographie Lilloise Contemporaine. 1800–1869, Lille 1869.

 

Bildnachweis

Intelligenzblatt für die Stadt Bern 6. Juni 1864

 

Volker Timmermann

 

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