Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

FriedenthalFriedenthalowna, Flora, Florentine, Florentyna,verh. Scherres, Scherres-Friedenthal

* 1. Apr. 1859 (oder 1862) in Warschau, Sterbedaten unbekannt, Pianistin und Klavierlehrerin. Flora Friedenthal wuchs in Warschau auf, wo ihr Vater als Kaufmann tätig war. Ihre Mutter war Barbara geb. Goldberg. Das Klavierspiel erlernte sie zunächst bei Ignacy Krzyżanowski (1826–1905) und Alexander Zarzycki (1834–1895) in Warschau. Zwischen 1875 und 1879 studierte Flora Friedenthal am Moskauer Konservatorium bei Nikolai Rubinstein (1835–1881) und Pawel Schlözer (1841–1898) Klavier und erhielt zudem Unterricht bei Peter Tschaikowsky (1840–1893) und Nikolai Hubert (1840–1888) in Harmonielehre und Kontrapunkt. Das Studium beendete sie 1879 mit dem Vortrag der Hammerklaviersonate op. 106 von Beethoven und erhielt für ihre Leistungen die silberne Medaille des Konservatoriums. In den 1880er Jahren war Flora Friedenthal Schülerin von Moritz Moszkowski (1854–1925) in Berlin. Zudem erhielt sie mindestens zweimal Unterricht von Franz Liszt: Am 1. und 3. Aug. 1885 spielte sie ihm in Weimar die Kreisleriana von Schumann vor. Im Jahr 1887 heiratete sie den Portrait- und Landschaftsmaler Carl Scherres (1833–1923). Die Ehe blieb kinderlos.

Erste Auftritte absolvierte Flora Friedenthal 1871 in Warschau. Die Zeitschrift „Kurier Warszawski“ berichtet am 30. März 1871 von einem Konzert der offenbar irrtümlich als 14-jährig angekündigten Pianistin, bei dem sie unter anderem die Polonaise op. 22 von Chopin spielte und bei der Präsentation eines Septetts von Hummel mitwirkte. Bis 1874 sind in der Warschauer Presse regelmäßig Konzerte der Pianistin dokumentiert, die gelegentlich auch in deutschsprachigen Zeitschriften, wie den „Signalen für die musikalische Welt“, Niederschlag fanden. Ein vorerst letzter Auftritt in Warschau erfolgte am 19. Nov. 1874 beim 35. Musikabend der Warschauer Musikgesellschaft mit Kompositionen von Chopin. Anschließend reiste Flora Friedenthal auf Einladung von Rubinstein zum Studium nach Moskau. Von dort berichten die „Signale“ im folgenden Jahr: „Den 13. April gab eine Pianistin aus Warschau, Fräulein F. Friedenthal, ein Concert unter Mitwirkung der Herren [Adolph] Brodsky und [Wilhelm] Fitzenhagen. Von der jungen Virtuosin hörten wir eine Fuge und die chromatische Fantasie von Bach, Stücke von Chopin (Berceuse, Etude, Mazurka), Schumann´s ‚Carneval‘ und mehrere Sachen von Scarlatti, Hiller, Silas, Liszt und Tausig. Fräulein Friedenthal spielte Alles auswendig und recht geläufig, sie ist jedenfalls kein unbedeutendes Talent“ (Signale 1875, S. 472). Nach Beendigung des Studiums unternahm die „Laureatin des Moskauer Conservatoriums“ (Signale 1879, S. 1050) Konzertreisen durch „ganz Rußland, Deutschland, Holland, die Schweiz u. s. w.“ (Morsch, S. 171). Ihr Debüt in Deutschland erfolgte unter Mitwirkung des russischen Violinisten Josef Kotek in der Berliner Singakademie am 24. Jan. 1880. Hier präsentierte sie dem Publikum auch das bis dahin unbekannte Konzert von Hans Bronsart in fis-Moll, mit Begleitung der Neuen Berliner Symphonie-Capelle unter Leitung von Franz Mannstädt. „Aber Frl. Friedenthal war auch eine der Trefflichkeit des Konzertes entsprechende Interpretin. Feuer und Kraft sind die hervortretenden Eigenschaften der jungen Künstlerin, welche zu grossen Hoffnungen berechtigt; eine vorzügliche Technik, vor Allem ein wundervolles Stakkato, durch welches über ihr ganzes Spiel ein blendender Schimmer gegossen wird, treten dazu. Etwas fehlt noch, und wir entnehmen den Beweis dafür aus ihrem Vortrag der Stücke von Chopin und Schumann: Den Ausdruck tiefen, innigen Gefühls, welches uns mit unwiderstehlicher Gewalt packt, sei es im höchsten Entzücken, sei es im tiefsten Schmerz, vermögen ihre Finger noch nicht den Tasten zu entlocken“ (Der Klavier-Lehrer 1880, S. 31). Auf einem Programmzettel zu diesem Konzert findet sich die handschriftliche Notiz Flora Friedenthals, dass sie dieses Programm schon zuvor, nämlich am 13. Jan. 1880, in einem Privatkonzert der deutschen Kaiserin Augusta im Charlottenburger Schloss vorgetragen habe.

Es folgten weitere Konzerte in Köln, Brüssel, Berlin, St. Petersburg, Königsberg und Breslau sowie unter Mitwirkung des Geigers Josef Kotek in Moskau, Kiew und Odessa. Am 10. Jan. 1881 gab sie mit ihrem Klavierlehrer Moritz Moszkowski und dem Violoncellisten Robert Hausmann ein „gutbesuchtes Concert im Saale der Singakademie“ (FritzschMW 1881, S. 68) in Berlin, bei dem die Pianistin neben Beethovens Klaviersonate op. 111, Robert Schumanns Symphonischen Etüden, Anton Rubinsteins Violoncellosonate D-Dur op. 18 auch zusammen mit Moszkowski dessen vierhändige Deutsche Reigen op. 25 vortrug.

In der Ankündigung zu einem Konzert im Odeon am 29. Nov. 1882 in München, wird sie als „Friedenthal a. Wien“ (Signale 1882, S. 1035) angekündigt. Wenig später vermeldet das „Musikalische Centralblatt“ jedoch, dass die „Pianistin Fräul. Flora Friedenthal […] ihren Aufenthalt dauernd in Berlin genommen“ (ebd., S. 173) habe. Der Wechsel des Wohnsitzes nach Berlin ging einher mit umfangreichen Konzertreisen, insbesondere durch Deutschland, aber auch durch Holland und die Schweiz: In den Jahren 1882 bis 1884 konzertierte sie in München, Erfurt, Hamburg, Hannover, Nürnberg, Berlin, Bonn, Moskau, Altenburg, Wiesbaden und Rotterdam. In Amsterdam spielte sie am 21. Nov. 1884 im Konzertsaal Felix Meritis das Klavierkonzert Nr. 2 g-Moll op. 22 von Camille Saint-Saëns sowie Werke von Scarlatti, Mendelssohn, Chopin und die Etüde La Campanella von Liszt. 1885 resümieren die „Signale“, dass die Pianistin „auf einer großen Tour“ (Signale 1885, S. 226) neben holländischen Städten auch Stuttgart, Wiesbaden und Frankfurt a. M besucht habe. Weitere Stationen waren Darmstadt, Mainz und Königsberg sowie 1886 Frankfurt a. M. und Antwerpen. In Berlin konzertierte sie mit großer Regelmäßigkeit: „Im Januar 1905 waren es 25 Jahre, daß sie vor dem berliner [sic] Publikum alljährlich auftritt“ (Neubert, S. 1257). Diese Serie setzte sie vermutlich bis 1914, meist mit Klavierabenden in der Singakademie, fort. Zwischen 1892 und 1896 sind, abgesehen von den Berliner Konzerten, noch Auftritte in Königsberg, Danzig und Stuttgart belegt.

Flora Friedenthal, Photographie von F. C. Schaarwächter, Berlin 1882.

Während ihrer aktivsten Zeit als Konzertpianistin arbeitete sie mit verschiedenen Konzertagenturen zusammen. Neben den Agenturen Mäurer, Ignatz Kugel und Gneykow wurde sie 1883 und 1887 auch durch die renommierte Agentur Hermann Wolf vertreten. „Seit ihrer Verheiratung [1887] konzertiert sie seltener und widmet sich vor allem dem Unterrichten begabter Schüler“ (Neubert, S. 1257). Seit den 1890er Jahren war sie am Berliner Konservatorium von Alexis Holländer tätig und unterrichtete dort die fortgeschrittenen SchülerInnen. Von 1910 bis 1939 wird sie in den Adressbüchern Berlins mit dem Wohnort Martin-Luther-Straße 17 und teilweise mit der Berufsbezeichnung Professorin geführt, so dass anzunehmen ist, dass sie trotz der Bedrohung durch die Nationalsozialisten versuchte, als Lehrerin tätig zu sein. Über ihren anschließenden Lebensweg sind keine Informationen überliefert. Dass sie sich während der nationalsozialistischen Herrschaft tatsächlich in Berlin aufgehalten hat, wird durch einen Programmzettel belegt, welchen sie am 1. Nov. 1935 an den Schriftsteller Paul Dobranicki „zur höf. Erinnerung an Flora Scherres-Friedenthal“ (Programmzettel – HS016339423) mit der Ortsangabe Berlin verschickte. In mehreren antisemitischen Lexika ist sie bis 1940 mit Wohnort in Berlin aufgeführt.

Ihr Spiel wird in einer Vielzahl an Rezensionen überschwänglich gelobt. Zu ihrem Debüt in Berlin zitieren die „Signale“ einen Beitrag Otto Gumprechts aus der Nationalzeitung: „Sie gab sich gleich mit den ersten Griffen als eine Vollblutvirtuosin zu erkennen. Modulationsreicher Anschlag, außerordentliche Fertigkeit, kräftigste Bestimmtheit des Ausdrucks sind ihr nachzurühmen. Wie wagelustig die Hände sich auch auf den Tasten tummelten, stets blieb die Schärfe und Klarheit der Gestaltung sorgfältig gewahrt. Die kühnsten Sprünge, verwickeltsten Passagen, raschsten und wuchtigsten Accordfolgen wurden mit tadelloser Bravour ausgeführt. Fräulein Friedenthal gemahnt in manchem Betracht an ihre Landsmännin Annette Essipoff. Weder der einen noch der anderen sitzt die Virtuosität nur in den Fingerspitzen, vielmehr schöpft sie ihren Inhalt aus einem ungemein rührigen Temperament“ (Signale 1880, S. 185). Auch das „Musikalische Centralblatt“ äußert sich geradezu euphorisch und betitelt Flora Friedenthal „nicht allein als vollendete Virtuosin, sondern auch als gottbegnadigte Musikerin“ (Musikalisches Centralblatt 1884, S. 119). Denn, so heißt es weiter, „wer Liszt´s ‚Robertfantasie‘ [Réminiscences de ‚Robert le Diable‘, nach Meyerbeers gleichnamiger Oper] oder dessen zweite Rhapsodie, wer Scarlatti´s Allegrissimo oder Rubinstein´s ‚Etude auf falsche Noten‘ so unfehlbar sicher mit grösster Beherrschung aller dynamischen Ausdrucksweisen zum Vortrag bringt wie Fräul. Friedenthal, dem gebührt die vollste Anerkennung tadellosester Virtuosität; und wer auf der anderen Seite gleich dieser Künstlerin sich in den Geist der Beethoven´schen Sonate Op. 111 so vertiefen und dieses düstere Seelengemälde so eigenartig beleuchten kann, oder wer in dem zauberhaften Gebiet des Chopin´schen Emoll-Concerts sich so künstlerisch ergehen kann, dass der Zuhörer unwillkürlich in diesen Zauber mit verstrickt wird, dem muss unwidersprechlich zuerkannt werden, die höchsten Sprossen in der interpretirenden musikalischen Kunst erstiegen zu haben“ (ebd.). Demgegenüber äußert sich Hanslick gewohnt kritisch: „Nicht so befriedigend wie ihre technische Ausbildung erschien uns ihr Vortrag. Dieser gefällt sich in lärmendem Forte und Fortissimo, das, überdies verwildert und durch passionirten Pedalgebrauch, in ihrem Spiele vorherrscht. Leider sogar in Chopins E-moll Concert, dessen zartes Seelchen sich vor den stürmischen Angriffen Fräulein Friedenthals erschrocken verkroch“ (Hanslick, S. 320).

Zu ihrem Repertoire gehörten unter anderem die Beethoven-Sonaten op. 81, op. 106, op. 110 und op. 111 und Beethovens Diabelli-Variationen op. 120. Zudem enthielten ihre Programme Werke von Joh. Seb. Bach, Domenico Scarlatti, Ferdinand Hiller, Adolf Henselt, Robert Schumann, Felix Mendelssohn, Erwin Schulhoff, Moritz Moszkowski, Eduard Silas, Franz Liszt, Joachim Raff, Alexander Zarzycki und Bearbeitungen von Otto Tausig. Weiterhin spielte sie die Klavierkonzerte Nr. 4 G-Dur op. 58 von Beethoven, fis-Moll op. 10 von Bronsart, Saint-Saëns' Konzerte Nr. 1 in D-Dur op. 17 und Nr. 2 in g-Moll op. 22 sowie das Klavierkonzert Nr. 1 in e-Moll op. 11 von Chopin.

 

LITERATUR

Programmzettel. Flora Friedenthal an Paul Dobranicki, 1. Nov. 1935 – Mediennr.:  HS016339423, Zentral- und Landesbibliothek Berlin.

Algemeen Handelsblad 24. Nov. 1884

AmZ 1882, Sp. 250, 281f., 299f.

Bock 1880, S. 7, 15, 37f., 63; 1881, S. 20f., 29; 1882, S. 38, 79, 133; 1883, S. 38, 46, 119; 1884, S. 334, 381; 1887, S. 96, 110; 1888, S. 88, 342, 412, 430; 1892, S. 112; 1896, S. 35

Dwutygodnik dla Kobiet: pismo belletrystyczne i naukowe 30. Apr. 1881

Echo [Warschau] 26. Apr. 1884

FritzschMW 1881, S. 68; 1882, S. 7, 316, 398; 1883, S. 200f., 509, 545; 1884, S. 302, 572; 1890, S. 659

Goniec Wielkopolski 4. Nov. 1881

Der Klavier-Lehrer 1880, S. 31f., 34

Kłosy. Czasopismo ilustrowane, tygodniowe, poświęcone literaturze, nauce i sztuce 13. Apr. 1871

Kurier Warszawski 1871, 30. März; 1873, 30. Apr.; 1874, 20. Apr., 3. Sept.

Musical Standard 1881 I, S. 70f.

Die Musik 1904/05 II, S. 204; 1913/14 II, S. 372

Musikalisches Centralblatt 1882, S.70, 80, 96, 159, 166f., 232, 254; 1883, S. 125188; 1884, S. 119, 254, 134, 224, 244

MusT 1885, S. 220

MusW 1885 I, S. 6

NZfM 1880, S. 18, 50; 1881, S. 54, 110; 1882, S. 64, 83; 1883, S. 55, 81, 200, 240, 308, 505; 1884, S. 156, 454, 514; 1885, S. 31, 33, 180, 192, 198, 260; 1886, S. 59, 133, 409; 1887, S. 292

Signale 1874, S.88; 1875, S. 472; 1879, S.1032, 1050; 1880, S. 130, 185, 598; 1881, S. 1064, 1123; 1882, S. 194, 212, 267, 442, 470, 475, 1035; 1883, S. 117, 126, 149, 322, 455, 715, 950, 1068; 1884, S. 76f., 193, 683, 1006, 1049; 1885, S. 122, 226, 277, 309, 906f., 1065; 1886, S. 130, 277f., 315, 839; 1887, S. 471, 602, 703, 808; 1888, S. 131, 761, 793, 982; 1892, S. 391; 1894, S. 1016; 1895, S. 137, 762; 1896, S. 136; 1897, S. 218; 1899, S. 281; 1900, S. 216

Franz Neubert, Deutsches Zeitgenossen Lexikon – Biographisches Handbuch deutscher Männer und Frauen der Gegenwart, Leipzig 1905.

August Ludwig Degener und Walter Habel, Wer ist wer? Das deutsche Who´s who, Berlin 1912.

Eduard Hanslick, Concerte, Componisten und Virtuosen der letzten fünfzehn Jahre. 1870–1885. Kritiken, Berlin ²1886.

Anna Morsch, Deutschlands Tonkünstlerinnen. Biographische Skizzen aus der Gegenwart, Berlin 1893.

[Alexander Wilhelm Gottschalg,] Franz Liszt in Weimar und seine letzten Lebensjahre – Erinnerungen und Tagebuchnotizen von A. W. Gottschalg, hrsg. von Carl Alfred René, Berlin 1910.

Berliner Adressbücher 1896–1943: unter Benutzung amtlicher Quellen, Berlin 1896–1943.

Peter Muck, Einhundert Jahre Berliner Philharmonisches Orchester, 3 Bde., Bd 3: Die Mitglieder des Orchesters, die Programme, die Konzertreisen, Erst- und Uraufführungen, Tutzing 1982.

Bojan Assenov, Moritz Moszkowski  Eine Werkmonographie, 2009, http://opus.kobv.de/tuberlin/volltexte/2009/2195/pdf/assenov_bojan.pdf, Zugriff am 19. Sept. 2012.

Silke Wenzel, „Flora Scherres-Friedenthal”, in: MUGI. Musik und Gender im Internet, http://mugi.hfmt-hamburg.de/A_lexartikel/lexartikel.php?id=sche1862, Zugriff am 19. Sept. 2012.

 

Bildnachweis

Sammlung Manskopf der Universitätsbibliothek Frankfurt/M., http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2003/7808603/original/Bild.jpg, Zugriff am 19. Sept. 2012.

 

Jannis Wichmann

 

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