Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Paggi, Anita (Josephine)

* um 1866 vermutl. in Cardiff, Sterbedaten unbekannt, Flötistin. Anita Paggis Vater, der Flötist Luciano Francesco Paggi, war italienischer Herkunft und lebte mit seiner Frau, der englischen Pianistin Sara Rebecca geb. Hales, und den gemeinsamen Kindern in Cardiff. Letizia Sara verh. Silas (1859–?, Pianistin) wurde in Odessa geboren. In Cardiff kamen Josephine Italia (um 1868–?, Violinistin), Luciano Garibaldi (um 1870–?, Violoncellist) und Linda (Lebensdaten unbekannt, Vortragskünstlerin) zur Welt.

Zwischen 1876 und 1899 sind Konzerte der Familie dokumentiert, wobei das Familien-Ensemble mit der Zeit durch individuelle (Solo-)Karrieren und kleinere Zusammenschlüsse der Schwestern (meist Josephine, Anita und Linda), teilweise ergänzt um den Vater, abgelöst wurde. Konzerte der großen „celebrated Paggi concert party“ (Musical Standard 1888 I, S. 157) fanden u. a. in Bristol (1876), Nottingham (1876), London (1876, 1879, 1882, 1883, 1887, 1888, 1899), Cardiff (1876, 1878, 1884), Liverpool (1880, 1882) und Scarborough (1888) statt. Große Resonanz erhielten die teils mehrmals am Tag stattfindenden Auftritte von Luciano, Josephine, Linda und Anita Paggi während der Fine Art Exhibition in Cardiff von Apr. bis Mai 1884. Einige Auftritte von Anita Paggi und dem Familien-Ensemble fanden im Grenzbereich zwischen Konzert, Theater und Varieté statt. Die Programme enthielten somit neben klassischer und romantischer Musik, vorgetragen von der Paggi-Familie, auch Beiträge von TänzerInnen, SchauspielerInnen usw.

Das Repertoire des Familien-Ensembles umfasste Kammermusik (vor allem Trios) von Mendelssohn, Haydn und Beethoven, die vermutlich von Luciano Paggi für die Instrumente der Familie eingerichtet wurde. Außerdem fertigte er Bearbeitungen populärer Opern-Ouvertüren und Arien an, u. a. zu Rossinis Guillaume Tell und Bellinis Norma. Anita Paggi trat meist solistisch, teilweise aber auch im Duo mit ihrem Vater in Erscheinung und interpretierte Werke für Flöte von Theobald Boehm, Adolf Terschak und einem Komponisten namens Furstmann. In Rezensionen werden mehrfach Anita Paggis Flötenspiel und das überzeugende Zusammenspiel der Geschwister hervorgehoben („The ensemble playing of these clever children was uniformly meritorious, furnishing ample proof of careful study and assiduous practice“, The Theatre 1883 I, S. 357). Zum Auftreten der Familie bei der Annual Matinee Musicale im Hydepark am 15. Juni 1882 heißt es im „Musical Standard“: „The united efforts of the youthful performers elicited warm applause, but especial mention should be made of the artistic flute playing of Mdlle. Anita Paggi, who distinguished herself, not only by her rendering of the solo by Terschak, but also by her admirable obbligato accompaniment to the song ,Ye little birds‘ (Bishop), sung by Miss Bessie Holt“ (Musical Standard 1882 II, S. 30).

Trotz des durchweg positiven Eindrucks der Rezensenten konzertierte Anita Paggi außerhalb der Familienkonzerte kaum als Solistin: 1880 trat sie in Liverpool auf, im Okt. 1884 und Apr. 1886 spielte sie im Rahmen von Wohltätigkeitskonzerten in Eastbourne und Haverstock Hill. Im Mai 1889 musizierte sie im Konzert der Pianistin Lipscombe in Exeter. Daneben sind einige Konzerte mit ihren Schwestern Josephine und Linda Paggi vor allem 1884 in Aberdeen, Cardiff und London überliefert. Als Mitglied der nur aus Frauen bestehenden „Adamless Eden Company“ (Aberdeen Weekly Journal 18. Jan. 1884) sind Auftritte der Flötistin im Jan. 1884 in der Music Hall Aberdeen und im März 1884 im Queens Theatre dokumentiert. In diesem Rahmen finden sich auch Auftritte ihrer Schwestern Josephine und Linda Paggi sowie der Posaunistin Annie Whiting.

1889 war Anita Paggi Flötistin im sechzigköpfigen Ipswich Ladies Orchestra, welches am 2. Mai 1889 das vierte jährliche Konzert in der Public Hall von Ipswich veranstaltete. Von 1895 bis (mindestens) 1900 war sie Mitglied von Marie Levantes Ladies Orchestra (auch unter dem Namen Bohemian Band of Ladies). Konzerte fanden u. a. 1895 in Norwich, Halifax, Bradford, Yarmouth, Stockport, Wigan, Penrith, Appleby, Kirkby, Thirsk, Stockport, Leeds, Newcastle-on-Tyne sowie 1896 in Morecambe, 1899 in Darlington (zehn Auftritte während der Darlington Exhibition) und 1900 in Plymouth statt. Neben Anita Paggi traten im Rahmen dieser Konzerte als Solistinnen auch die Kornettistin Johnson, die Posaunistin Francis Goft (auch: Toft), die Cellistin Edith Stevens, die Violinistinnen Lilian Oates, Minnie Horsfield und Ethel Mouland sowie die Flageolett-Spielerin Florence Mouland auf. 1898 vertrat Anita Paggi die erkrankte Dirigentin.

Mit der Multiinstrumentalistin Rosabel Watson (Violine) und den Schwestern Lilian Mukle (Violine), May Mukle (Violoncello) und A. V. Mukle (Klavier) bildete Anita Paggi im Jahr 1893 das Ensemble Les Cigales. Bei den jährlichen Horse Show Weeks in Dublin spielte das Ensemble zweimal täglich je zwei bis drei Stunden. Eine weitere Erwähnung von Les Cigales findet sich mit dem Zusatz „Miss Winkles Ladies Orchestra“ (The Non-Conformist Musical Journal 1894 I, S. 93) im Programm des Organisten C. W. Pearce am 24. Apr. 1894 in der Congregational Church von Gospel Oak. Während die Mukle-Schwestern als Musikerinnen namentlich erwähnt sind, ist eine Teilnahme der Flötistin nicht gesichert.

Der Flötist und Komponist Leonardo de Lorenzo bezeichnet Anita Paggi in seinem Buch „My Complete Story of the Flute“ von 1951 als „contemporary“ (de Lorenzo, S. 264) und „member of the London Flute Society“ (ebd.), was vermuten lässt, dass ihre Karriere als Flötistin mit den in der Literatur zuletzt dokumentierten Konzerten des Orchesters Marie Levantes um 1900 noch nicht beendet war.

 

LITERATUR

Aberdeen Weekly Journal 18. Jan. 1884

Bristol Mercury 16. Dez. 1876

The Era [London] 1876, 7. Mai; 1879, 14. Sept.; 1884, 8. März; 1887, 1. Okt.; 1889, 29. Juni; 1896, 26. Sept.; 1898, 10. Sept.; 1900, 21. Juli

Freemans Journal and Daily Commercial Advertiser [Dublin] 1893, 21. Aug.; 1895, 24. Aug.

The Illustrated London News 1879, S. 263

The Ipswich Journal 1889, 3., 10. Mai

Liverpool Mercury 1880, 26. Apr., 13., 15., 16. Sept.; 1882, 12., 14., 16. Okt.

Musical Standard 1882 II, S. 30; 1887 II, S. 338; 1888 I, S. 157; 1889 II, S. 366

MusT 1876, S. 343, 506; 1884, S. 594

MusW 1879 I, S. 215f.; 1886 I, S. 238f.; 1888 I, S. 37

The Non-Conformist Musical Journal 1894 I, S. 93

Northern Echo [Darlington] 1895, 29. Nov.; 1899, 12., 14., 18., 21. Okt., 27. Dez.

The Theatre [London] 1883 I, S. 357

The Times [London] 3. Okt. 1879

Trewmans Exeter Flying Post or Plymouth and Cornish Advertiser 1889, 13. Apr., 4., 10., 14. Mai

Western Mail [Wales] 1876, 9., 11. Dez.; 1878, 20. Apr.; 1884, 22., 24., 26. Apr., 14., 16., 19. Mai, 1. Nov.; 1891, 9. Nov.; 1894, 13., 15. Nov.

Leonardo de Lorenzo, My Complete Story of The Flute. The Instrument. The Performer. The Music, New York 1951.

 

Jannis Wichmann  

 

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