Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Jaczynowska, Jatschinowska, Jatschinowsky, Jatchinowska, Jachimowska, Katarzyna, Katharina, Catharine, Jekateriana Iwanowna, von

Transliteration: Ekaterina Ivanovna Jačinovskaja

 

* 23. März 1872 in Szawle/Litauen, † 3. Sept. 1920 in Warschau, Pianistin und Lehrerin. Katarzyna Jaczynowska „ist Polin von Geburt, wurde infolge ihrer hervorragenden Begabung bereits von ihrem 9. Jahre an am Petersburger Conservatorium sorgfältigst ausgebildet“ (NZfM 1896, S. 172f.), und zwar „bei K.[arl] Lütschg [1839 o. 18431899] und C. Stern“ (Gabryś, S. 15) oder bei  „Prof. [Fjodor/Theodor] Stein [18191893] am Petersburger Conservatorium“ (NZfM 1896, S. 192). 1888 gelangte sie in die Klasse von Anton Rubinstein (18291894) und gehört damit zu den fünf Studierenden, die dieser während seiner zweiten Amtszeit am St. Petersburger Konservatorium unterrichtete. Dass sie ihren Abschluss, den Gabryś auf 1893 datiert, offenbar nicht bei dem renommierten Lehrer machte, erklärt sich aus den Erinnerungen von Leokadia Kaschperowa: Diese erwähnt als Mitstudierende nur Zofia Poznańska (später verh. Rabcewicz), Sophie Jakimowska und Jewgeni Gollidej, vermerkt aber, dass eine Person 1889 den Kurs verlassen musste, denn „es gelang ihr nicht, Anton Grigorewitsch zufriedenzustellen“ (Kašperova, S. 142). Das lässt vermuten, dass es sich bei dieser namentlich nicht genannten Person um Katarzyna Jaczynowska handelte. Die „Neue Zeitschrift für Musik“ kolportiert 1895 zwar, dass diese „das Glück hatte, letzten Winter in Dresden unter [Anton] Rubinstein’s Aegide zu studiren“ (NZfM 1895, S. 140); das erscheint aber auch deswegen fragwürdig, weil Rubinstein zwar seine letzten Lebensjahre tatsächlich in Dresden verbrachte, aber ein halbes Jahr vor seinem Tod, d. h. bereits im Sommer 1894 nach Russland zurückkehrte. Dennoch widmete Rubinstein der Pianistin − ebenso wie ihren Kommilitonen Kaschperowa, Poznańska und Gollidej − je ein Stück aus seiner letzten Komposition, der Klaviersammlung Souvenir de Dresde op. 118 (1894), nämlich das Nocturne op. 118/5.

Ihre Hauptaktivität als Konzertpianistin liegt in der Zeit zwischen 1895 und 1902. Im Anschluss daran scheint sie sich offenbar verstärkt dem Unterrichten zugewandt zu haben. 1902 wird sie in der Zeitung „Južnyj kraj“ [Südliche Region] anlässlich einer Konzertankündigung in Charkow für den 7. Nov. 1902 als „Die Professorin am Warschauer Konservatorium E. [Ekatarina] I. Jatschnowskaja [sic] − beste Schülerin A. Rubinsteins“ (Polianskaja S. 277) bezeichnet. Ihre Klavierklassen am Warschauer Konservatorium hatte sie offenbar seit 1897, zunächst parallel zu ihrer Konzerttätigkeit, inne und führte sie mindestens bis 1919/20 weiter (Gabryś, S. 15). 1899 wurde sie für ein Jahr beurlaubt, um selbst noch einmal Unterricht zu nehmen, und zwar bei Theodor Leschetizky (1830–1915) in Wien. Zu ihren Schülerinnen zählen die polnische Komponistin, Pianistin und Lehrerin Anna Maria Klechniowska (1888−1973, Abschluss 1905), Wanda Kononowitsch (Abschluss 1911) und Emma Tekla Altberg.

Die offenbar unverheiratete Künstlerin ist in Warschau in einem Familiengrab beigesetzt, gemeinsam mit Łucja geb. Jaczynowska (1879−1968) (anscheinend keine Schwester der Künstlerin) und deren Ehemann, dem Slawisten Stanisław Słoński (1879−1959).

 

Katarzyna Jaczynowska. Photographie von Aleksander Karoli (ca. 1900)

 

Der Wechsel von der russischen (Jatschinowska oder Jatschinowskaja) zur polnischen Namensschreibung, die Ähnlichkeit mit dem Namen ihrer Kommilitonin Sophie Jakimowska und ein in der deutschen Presse um die Jahrhundertwende generell eher sorgloser Umgang mit slawischen Namen machen die Zuordnung von Konzertberichten nicht einfach, da auch Namensvarianten wie Jaginovskaja oder Jakeinovsky vorkommen, deren Zuordnung zu einer der beiden Rubinstein-Schülerinnen nur aus dem Kontext zu erschließen ist. Tendenziell scheint es zu Jaczynowska im deutschsprachigen Raum ausführlichere Rezensionen zu geben. Da sie, anders als Jakimowska, nicht gemeinsam mit ihrem berühmten Lehrer konzertierte, ist diese größere Beachtung einerseits bemerkenswert, da sie nicht dem Ruhm Rubinsteins geschuldet ist, andererseits ist die Bandbreite der Kritik auch größer.

Die „Signale für die musikalische Welt“ berichten über ein Berliner Konzert am 11. Dez. 1895: „Wir sind der jungen Dame schon bei früherer Gelegenheit begegnet und konnten uns namentlich über ihr technisches Können im günstigsten Sinne äußern. Ihre Fertigkeit imponiert durch Glanz und Sicherheit, dazu gesellt sich ein bemerkenswerth schöner und voller Anschlag und eine geistig geweckte Vortragsweise. Ein Ueberschuß von Temperament läßt die Künstlerin wohl hin und wieder noch über die Schnur hauen, doch verschlägt das den ausgesprochenen Vorzügen gegenüber nicht allzu viel, und mit reiferem Alter dürfte auch Fräulein Jatschinowska eine größere Herrschaft über sich selbst gewinnen. Ihre mit lebhaftestem Beifall entgegengenommenen Vorträge bestanden in Chopin‘s Hmoll-Sonate [Nr. 3, op. 58], Schumann’s Faschingsschwank [op. 26] und mehreren Sachen von Mendelssohn, Glinka-Balakirew und Rubinstein“ (Signale 1895, S. 1061).

Harsche Kritik an häufigen unmotivierten Tempowechseln und einer willkürlich kontrastreichen Dynamik übt der Rezensent Eugenio von Pirani in der „Neuen Zeitschrift für Musik“: „Auch Frl. Jatschinowska, eine junge russische Pianistin, wie man sagt eine Schülerin Rubinstein’s, jedenfalls aber nicht eine von den besten, fröhnt [sic] dieser Unart“ (NZfM 1896, S. 40f.). Er moniert, dass sie „noch technisch unfertig ist und noch verschiedene andere Fehler aufzuweisen hat, z. B. das häufige Danebenschlagen und das unberechtigte Hervorheben von nebensächlichen, blos als Begleitung oder Füllung dienenden Arpeggien und das daraus entstehende Zurückdrängen der melodieführenden Hauptstimme. − An Temperament fehlt es ihr zwar nicht, haut sie doch unbarmherzig auf das Clavier, als wenn sie das unschuldige Ding züchtigen wollte − − −  ich möchte nicht mit Fräulein Jatschinowska in Streit gerathen!"(ebd.).

Ende des Jahres 1896 bezeichnet derselbe Rezensent die Künstlerin anlässlich eines weiteren Berliner Auftritts als „Amazonin des Flügels, [eine] Dame, die, wie ich schon im vergangenen Winter bemerkt, das Clavier durchaus energisch behandelt“ (NZfM 1896, S. 582), und ergänzt seine frühere Kritik an der technischen Seite ihres Spiels durch eine Verortung der Musikerin im Kontext damaliger Geschlechter- (vielleicht auch Nationalitäten‑)Stereotypen: „Ihr Spiel zeichnet sich demgemäß mehr durch männliche Kraft als durch weibliche Feinheit und Zartheit aus, doch scheinen ihr auch ausdrucksvolle Töne zu Gebote zu stehen, wie sie in der ,Aria‘ aus der Sonate Fismoll von Schumann bewies. Jedenfalls hat diese Künstlerin ,Blut‘“ (NZfM 1896, S. 582).

In klarer Opposition dazu rezensiert H. Schulz-Beuthen in derselben Zeitschrift den Auftritt der Pianistin im Febr. 1896 in Dresden rundum positiv und sehr emphatisch. Der ausführliche und auch auf die Programmfolge detailliert eingehende Text beruht offenkundig auf persönlichen Informationen: „Klavierabend von Catharine von Jatchinowska [sic] im Saale der Musenhalle. Endlich einmal wieder eine künstlerisch individuelle Erscheinung, welche aus der großen Schaar [sic] des jungen Virtuosentums bedeutsam hervortritt. Frl. v. Jachimowska [sic], wie wir hören, eine der Lieblingsschülerinnen Meister Rubinstein’s, erzielte begeisterte durchschlagende Erfolge. Die gestellten Aufgaben waren ganz verschiedenen Characters und zumeist gewichtigen Inhaltes. Sie erfordern zur vollendeten Wiedergabe einen hohen Grad künstlerischer Veranlagung und eine erschöpfend ausgebildete Technik. Mit diesen Faktoren glücklich ausgestattet, konnte Frl. v. J. das zahlreich anwesende und gewählte Publikum in sich steigernder Weise hinreißen. Die hervorstechenden, sehr werthvollen Eigenschaften der Künstlerin zeigen poetisch fesselnde Wärme selischen [sic] Ausdrucks sowohl als auch einen von Natur aus feinfühlig angelegten Geschmack für das Auscisiliren [sic] der ornamentirenden Einzelheiten, ferner eine schlagfertige Bravour eines feurigen Naturels, an richtiger Stelle eingreifend und eine erquickende technische Deutlichkeit in allen Fällen bei ökonomischer und rechtzeitiger Pedalverwendung. Es characterisirt endlich die Künstlerin eine geistvoll beherrschende Vertheilung der Stärkemittel für eine in großen Zügen sich ausgestaltende Dynamik. [...] Wir bewunderten unter Anderem auch eine sehr richtige Temponahme. [...] – Von Herzen wünschen wir der uns bisher unbekannt geblieben[en], reich begabten, vielseitigen und so vorzüglich ausgebildeten, jungen bescheidenen und originellen Künstlerin auf ihrem nicht leichten Lebenswege alles Glück und die Festigung wohlberechtigter, auf sich selbst gestützter Zuversicht, um sich mit Ruhe einer kaum ausbleibenden Mißgunst gegenüberzustellen“ (ebd. 1896, 172f.).

Ein Dreivierteljahr später betont die Berliner Presse erneut die Diskrepanz zwischen der ausgezeichneten Klaviertechnik der Künstlerin und ihrer noch unausgereiften musikalischen Ausdruckskraft: „Ihr Spiel gravirt mehr nach der technischen Seite, die manuelle Fertigkeit ist bedeutend und von virtuosem Schliff; hinsichtlich des musikalischen Erfassens ihrer Aufgaben dürfte Fräulein Jatschinowska mit dem bloß Verständigen und Wohlüberlegten eine größere Mannigfaltigkeit des Ausdrucks, mehr Gemüthswärme und feineres Emopfinden zu vereinigen haben. Sie spielte Händel’s Grobschmied-Variationen, die Adur-Sonate von Schubert und die in Gismoll von Schumann, ferner mehrere Stücke von Chopin, Tschaikowsky, Paderewski und Rubinstein, und zwar fast Alles zu lebhaftestem Beifall der Anwesenden“ (Signale 1896, S. 1048).

Auch nach ihrer Unterrichtszeit bei Theodor Leschetizky lobt die polnische Presse weiterhin vorrangig ihre technischen Fertigkeiten (Gabryś, S. 15 u. 17).

Weitere Auftritte sind für das Jahr 1895 sowie für den 26. Okt. 1896 (Mendelssohns Klaviertrio op. 49) in St. Petersburg, 1897 in Breslau, 1899 und am 25. Jan. 1902 in Warschau (Chopin, Klavierkonzert f-Moll) belegt. Zweifellos aber trat sie an diesen zentralen Orten ihrer Ausbildung häufiger auf, als es in westeuropäischen Musikzeitschriften vermerkt ist.

  

LITERATUR

Kurier Warszawski 25. Febr. 1910

NZfM 1895, S. 140; 1896, S. S. 40f., 172f., 582; 1899, S. 545f.

Russkaja muzykal’naja gazeta [Russische Musikzeitung] 1911, S. 759

Signale 1895, S. 1061; 1896, S. 1048

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Leokadija A. Kašperova, Vospominanija“ [Erinnerungen], hrsg. von N. G. Fesenkova, in: Muzykal’noe nasledstvo. Sbornik po istorii muzykal’noj kul’tury SSSR [Musikalisches Erbe. Sammelband zur Geschichte der Musikkultur der UdSSR], Moskau, 7 (1968), Band II, Teil 2, S. 135–168.

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Har’kov i gubernija na stranicah gazety ,Južnyj kraj’ (1880–1918). Čast’ 6 (1900-1902) [Charkow und sein Verwaltungsbezirk auf den Seiten der Zeitung ,Südliche Region‘], hrsg. v. N. I. Polianskaja [u. a.], Har’kov 2005.

Jarosław Domagała, Płockie środowisko muzyczne − wybitni przedstawiciele, cz. I [Plocks Musikleben − hervorragende Vertreter, Teil I], in: Notati Płockie [Plocker Notizen] 2008, Nr. 3, S. 49−53.

V. Lukina, Skripačka-virtuoz Nina Jul’evna Zubova i ee cem’ja [Die Violinvirtuosin Nina Zubova und ihre Familie], in: Vologodskie dvorjane Zubovy [Die Vologodsker Adelsfamilie Zubov], Teil II, Buch V/Bd. 1, Moskau 2012, S. 23.

Jan Sierpiński, Polscy pianiści [Polnische Pianisten], Warschau 2014.

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Bildnachweis:

Photographie von Aleksander Karoli (ca. 1900) aus dem Bestand des Warschauer Nationalmuseums (Muzeum Narodowe w Warszawie), http://cyfrowe.mnw.art.pl/dmuseion/docmetadata?id=5481&show_nav=true&full_screen=true, Zugriff am 16. März 2018.

  

Kadja Grönke

 

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