Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Anderson, Lucy, geb. Philpot

* 12. Dez. 1797 (1786, 1790?) in Bath, † 24. Dez. 1878 in London, Pianistin. Nach anfänglichen Versuchen auf der Harfe machte sie bald auf dem Klavier so schnelle Fortschritte, dass sie bereits in frühem Alter öffentlich auftrat. Neben ihrem Vater, Musiklehrer, Musikalienhändler und Bassist im Orchester von Bath, und ihrem Cousin James W. Windsor scheint sie keine weiteren Lehrer gehabt zu haben, fand allerdings im mondänen Kurbad im Westen Englands, der Geburtsstadt von John Field, wohl Gelegenheit, sich an hier gastierenden Pianisten zu schulen. Aus gesundheitlichen Gründen siedelte sie um 1818 nach London über. Im Juli 1820 heiratete sie George Frederick Anderson (1793–1876), Violinist und Leiter der Royal Private Band in London. Als erste Frau konzertierte sie am 29. Apr. 1822 in der 1813 gegründeten Philharmonic Society und zwar mit einem Klavierkonzert von Johann Nepomuk Hummel. Sie sei, so das „Musical Magazine„to be esteemed a very fine performer“ (zit. nach MT 1894, S. 442), ihre Verdienste seien aber zu wenig gewürdigt, denn „she suffered for having the misfortune to be an Englishwoman“ (zit. nach Ellsworth, S. 29). Tatsächlich wurde sie nach ihrem Tod gelobt als „an accomplished native pianist at a time when foreign players predominated“ (Ellsworth, S. 31) und als „pioneer of lady pianoforte playing in classical music“ (The Times 3. Jan. 1879, zit. nach Ellsworth, S. 31). In ihrer über 40 Jahre dauernden Karriere gehörten zu ihrem Repertoire Werke von Mozart, Beethoven, Hummel, Ferdinand Ries, Weber, Carl Czerny, Henri Herz und Mendelssohn. Besondere Verdienste erwarb sie sich um Beethovens Klavierkonzerte Nr. 4 in G-Dur und Nr. 5 in Es-Dur, die sie in London häufiger aufführte als alle anderen PianistInnen vor 1850. Sie war 1830 die erste, die das Es-Dur-Konzert in der Philharmonic Society spielte, und sie war die Solistin bei der Londoner Erstaufführung von Mendelssohns 2. Klavierkonzert d-Moll im Jahre 1838. Auch den Klavierpart in Beethovens Chorfantasie op. 80 übernahm sie zwischen 1819 und ihrem Abschiedskonzert 1862 bei zahlreichen Konzerten. Neben Auftritten in der Philharmonic Society und bei Veranstaltungen der Royal Academy of Music waren die großangelegten Wohltätigkeitskonzerte, die sie jährlich organisierte, für das Musikleben Londons von Bedeutung. 1829 konzertierte sie beim Birmingham Festival. Außerhalb Englands ist zumindest ein Konzert in Paris belegbar, bei dem sie im Okt. 1834 unter der Leitung von Pierre Baillot ein Klavierkonzert von Beethoven spielte. Mitte der 1840er Jahre wurden ihre Auftritte wegen gesundheitlicher Probleme seltener, ihre Unterrichtstätigkeit behielt sie aber bei, unter anderem an der Royal Academy of Music. Neben Arabella Goddard war eine ihrer prominenten Schülerinnen Kate Loder„unstreitig jetzt die beste englische Pianoforte-Virtuosin“, die 1848 in London mit großem Erfolg Mendelssohns 1. Klavierkonzert aufführte (AmZ 1848, Sp. 409). Seit 1834 unterrichtete Lucy Anderson im Kensington Palast auch die Prinzessin Victoria und später deren Kinder. Seit 1832 war sie Hofpianistin der Königin Adelaide und nach 1837 Hofpianistin der Königin Victoria, die ihr 1840/41 eine Pension von 100£ gewährte.

Dass auch eine so anerkannte und verdienstvolle Pianistin mit einer geschlechtsspezifischen Wahrnehmung und Abwertung rechnen musste, belegt der Londoner Korrespondent der Allgemeinen musikalischen Zeitung, der sie „eine Klavier spielende Amazone nennen möchte, weil sie mit ihren nervigten Armen recht derb dreinschlägt“ (AmZ 1835, Sp. 640), während in der „Neuen Zeitschrift für Musik" zu lesen war, Mrs. Anderson fehle beim Vortrag des Es-Dur-Konzertes von Beethoven „die physische Kraft zur Ausführung“ (NZfM 1848 II, S. 70). Nach zeitgenössischer Auffassung verlangten, so der Hinweis von Therese Ellsworth, Beethovens Werke„powers ‚not usually accorded to lady-pianists’“. In der Regel wurde ihr aber „great classical feeling“„brilliant mechanical dexterity“ und ein „unaffected style“ bescheinigt (Ellsworth, S. 30).


LITERATUR

AmZ 1835, Sp. 640; 1848, Sp. 409

Athenæum 1879, S. 26

Gentleman's Magazine 1842, S. 418

MT 1894, S. 442–444

Musical Standard 1893, S. 199: 1912, S. 288

MusW 1845, S. 58

NZfM 1835 II, S. 4; 1837 II, S. 8; 1846 II, S. 113: 1848 II, S.  70

Orchestra 1879, S. 200

Le pianiste 1834/35, S. 193

Sainsbury, Ward, Grove 1, Riemann 1, Brown Bio, Brown Brit, Baker 1, Stephen/Lee, Grove 5, Thompson, Baker 7, Lyle, New Grove, Jacobs, New Grove 2001, Oxford DNB

Therese Ellsworth, „Women Soloists and the Piano Concerto in Nineteenth-Century London, in: Ad Parnassum. A Journal of Eighteenth- and Nineteenth-Century Instrumental Music II/1, Okt. 2003, S. 21–49.

 

Bildnachweis

NYPL Digital Library, http://digitalgallery.nypl.org/nypldigital/id?1100791, Zugriff am 15. Okt. 2009.

 

Freia Hoffmann

 

© 2009 Freia Hoffmann