Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

May, Florence

Get. 26. März 1845 in Deptford (Süd-London), † 26. Juni 1923, Ort unbekannt. Pianistin,  Klavierlehrerin, Komponistin und Musikschriftstellerin.

Ihre Eltern waren Mary Elizabeth May und der Organist, Klavier- und Gesangslehrer Edward Collet May (1806–1887). Florence May erlernte das Klavierspiel zunächst bei ihrem Vater und ihrem Onkel, dem Pianisten, Organisten und Klavierlehrer am Queen’s College Oliver May (1814–1894). Um 1871 erhielt sie in Baden-Baden, zeitgleich mit Natalie Janotha,  für kurze Zeit Klavierunterricht bei Clara Schumann. Im Juli 1871 reiste Clara Schumann mit ihren Kindern nach St. Moritz und „ihre beiden Schülerinnen Fräulein Janotha und Miß May übernahm für die Zeit ihrer Abwesenheit Brahms“ (Litzmann, S. 261). Der Unterricht bei Brahms erfolgte in Lichtenthal und dauerte bis Ende des Jahres an. Bis 1873 blieb Florence May in Deutschland. Anschließend konzertierte sie mehrfach in London (1873, 1875–1877), aber auch in Liverpool (1875) und Chelsea (1876). Um 1875 scheint sie sich zunehmend auf eine kompositorische Ausbildung fokussiert zu haben. Nach erneutem Unterricht bei ihrem Vater und dem Musiktheoretiker und Komponisten Sir George Alexander Macfarren (1813–1887) sowie Unterricht in Kontrapunkt bei einem Mr. Schulz, wurde sie, zurück in Berlin, von Woldemar Bargiel (1828–1897) ausgebildet. Jedoch lässt sich weiterhin eine Konzerttätigkeit nachweisen: Zwischen 1883 und 1891 sowie in den Jahren 1895, 1897 und 1908 sind Konzerte auf der britischen Insel überliefert. Abgesehen von einer kleinen Konzertserie im Jahr 1887 in Berlin und zwei Konzertreisen nach Wien 1890 und 1896 sind keine Reisen bekannt. Nach einer Vortragsreihe zu Kompositionen von Brahms im März 1908 in London fehlen weitere Belege für öffentliche Auftritte.

Ihr erster überlieferter Auftritt in London erfolgte nach ihrer Rückkehr aus Deutschland im Jan. 1873  im Rahmen eines Konzerts von W. H. Monk, Musikdirektor und Organist des King’s College, in den Assembly Rooms Stoke Newington: „The pianiste, Miss Florence May, made a powerful impression upon a highly select and critical audience by her impassioned reading of Chopins inimitable scherzo in B flat minor (Op. 31). The lady, who was twice recalled, and obliged by vociferous applause to resume her seat, played one of Bachs Gavottes. Beethovens pianoforte trio in E flat (Op. 1) was afterwards rendered by Miss May, Mr. Holmes, and Signor Pezze“ (Musical Standard 1873 I, S. 55). Auch die folgenden Berichte aus England stellen die Pianistin in überaus positivem Licht dar. Zu ihrer Mitwirkung beim Eröffnungskonzert der British Orchestral Society im März 1875 schreibt der Rezensent der „Pall Mall Gazette“: „Our first opportunity of hearing Miss May was at the opening concert […], when she produced a most favourable impression by her performance of the pianoforte part in Sterndale Bennetts concerto in F minor. This brillant and melodious work abounds in difficulties almost as much as in beauties, of which it is full indeed. [...] But great demands are also made on the performers capacity for rapid and vigorous execution; and in both styles Miss May showed herself perfect mistress of her art. The barcarolle is so charming – with a deeper sentiment than, even under the most propitious circumstances, one looks for in a boat-song – that if the concerto be played equally well throughout, it is in the barcarolle that the pianist is sure to gain the greatest amount of applause. So it happened to Miss Florence May; and, apart from the question of applause, nothing could have been more expressive than her presentation of this singularly beautiful melody by which, as Mr. Wingham has suggested in his ,Elegy, Sterndale Bennett would be remembered if by nothing else. As immediately afterwards Miss May attacked with great brilliancy the very spirited opening of the finale, she may be congratulated on having succeeded at all points“ (The Pall Mall Gazette 17. März 1875). Während die Rezensionen aus England bis zuletzt den Eindruck einer angesehenen und erstklassigen Pianistin vermitteln, zeigen sich in der deutschsprachigen Presse starke Vorbehalte. Zu einem Konzert im Hotel de Rome in Berlin am 13. Apr. 1887 schreibt die „Neue Berliner Musikzeitung“: „Miss May soll in England sich eines hervorragenden Rufes erfreuen, in Deutschland würde sie einen solchen wohl nicht erreicht haben, denn etwas Trockeneres von Clavierspiel ist nicht gut denkbar. Gegen die Technik an sich wäre ja wohl nichts auszusetzen, denn es entwickelt sich Alles glatt und rund, man hört aber nur Töne, gleichsam wie von einem mechanischen Kunstwerk: da ist auch nicht der geringste Ausdruck, ja man möchte sagen, es sind kaum verschiedene Nuancen im Spiel zu bemerken. Ein Clavierspiel, das in dieser trockenen, maschinenartigen Weise nur seltsam berühren kann und den Hörer ohne jedweden Eindruck entlässt“ (Bock 1887, S. 125). Über ein Konzert in Wien, das Florence May am 28. Jan. 1890 mit Joseph und Ferdinand Hellmesberger bestritt, schreibt die „Österreichische Musik- und Theaterzeitung", „dass wir [...] den Clavierpart des berühmten B-dur-Trios von Beethoven niemals gesangreicher und durchgeistigter vortragen hörten als hier von Florence May. Diese Leistung war in der That unvergleichlich und eine uns unvergessliche. Von ihren Solovorträgen gefielen uns die älteren Compositionen von Symond's Greene und Alberti am besten. Chopin scheint ihrem classischen Ernste fern zu liegen, wogegen die beiden Ungarischen Tänze von Brahms (in Joachim'scher Auffassung) ihr ebenfalls sehr gut gelangen" (Österreichische Musik- und Theaterzeitung 15. Febr. 1890).  Geradezu niederschmetternde Kritiken erhielt sie allerdings für dasselbe Konzert von Max Kalbeck in der „Presse" (31. Jan. 1890) und Robert Hirschfeld in der „Wiener Allgemeinen Zeitung" (8. Febr. 1890).

Auch 1896 erzielte die Pianistin bei einem Konzert in Wien keinen wirklichen Erfolg: „Nur der Curiosität halber erwähne ich das Concert der englischen Miss Florence May, da diese gute Dame offenbar keine Ahnung davon zu haben scheint, welche Anforderungen man bei uns an öffentlichen Claviervortrag stellt. So sind wohl Beethovens ‚Appassionata‘, Schuberts ‚Wanderer‘-Phantasie und Brahms Paganini-Variationen in Wien noch nicht gespielt worden. Entsetzlich! Und doch erfreute sich die Londoner Dilettantin (einen anderen Titel vermag ich Miss May nicht zu geben), als – wie es hiess – von ihren höchsten landsmännischen Kreisen protegirt (mindestens wohnte der englische Gesandte dem Concerte bei), eines ziemlich vollen Saales und ansehnlichen Beifalles selbst nach den schülerhaftesten Leistungen. Auch an verdächtig freundlichen Kritiken soll es nachher nicht gefehlt haben… so war es eben immer und wird auch immer wieder so sein“ (FritzschMW 1896, S. 395f.). „Fräulein May fehlt sowohl technische als künstlerische Reife, mithin jede Berechtigung, das Concertpodium zu betreten" (Österreichische Musik- und Theaterzeitung 1896, H. 12/13, S. 11).

Neben ihrer Karriere als Pianistin betätigte sich Florence May seit den 1880er Jahren als Komponistin, seit der Jahrhundertwende als Musikschriftstellerin und seit den 1880er Jahren auch als Klavierlehrerin. Zudem wird sie im Mai 1891 als Jurorin an der Royal Academy of Music im Rahmen des Wettbewerbs um den Louisa Hopkins Memorial Prize aufgeführt. Ein möglicher Hinweis auf den Beginn ihrer Lehrtätigkeit findet sich in einem Brief vom 8. Apr. 1882 an Joseph Joachim: „It would only be in my power to carry out my wishes [in Berlin bei Bargiel zu studieren] if I could by next autumn get pupils to help pay my expenses. […] As to the result which my being in Berlin may have in a pecuniary sense when I come home for good, I think I will not have much if any – as I have always told you, I ought to work with that end in view, but I cannot compel circumstances and the difficulties here in London seem to me quite gigantic in the way of women who have not from their childhood been put systematically into a profession with the end of making them independent“ (Brief an Joseph Joachim 8. Apr. 1882).

Zu ihrem weiteren Repertoire gehörten die Beethoven-Sonaten Nr. 14 cis-Moll op. 27 Nr. 2 und Nr. 21 C-Dur op. 53, Schuberts Wanderer-Fantasie D 760, Brahms’ Variationen über ein Thema von Paganini op. 35 und einige der Lieder ohne Worte von Mendelssohn. Darüber hinaus werden auch Werke von Joh. Seb. Bach, Chopin, Weber, Bruch und Sterndale Bennett erwähnt. Nach dem Tod Oliver Mays 1894 gingen Manuskripte von Bennett in den Besitz von Florence May über.

 

EDITIONEN

Pieces by old Masters, from Works written for the Harpsicord, selected, edited, and figured for the Pianoforte by Florence May, London um 1878.

 

SCHRIFTEN

The Life of Johannes Brahms, 2 Bde., London 1905.

The Girlhood of Clara Schumann, London 1912.

 

KOMPOSITIONEN (Auswahl)

Three Mazurkas, London 1881; Bourrée, London 1881; Waltzer [sic], 1885

 

LITERATUR

Academy 1875 I, S. 308f.

Arbeiter Zeitung [Wien] 19. Jan. 1896

Athenæum 1875 I, S. 333; 1877 I, S. 296f.; 1895 I, S. 93, 259; 1908 I, S. 235

Badener Bezirksblatt 29. Jan. 1896, S. 2

Bock 1886, nach S. 376; 1887, nach S. 96, 125

Daily News [London] 21. März 1890

Deutsches Volksblatt [Wien] 1. Febr. 1896

Era [London] 1875, 16. Mai, 10. Okt.; 1884, 23. Juni

Examiner [London] 20. März 1875

FritzschMW 1889, S. 186; 1896, S. 395f.

Graphic [London] 1875, 27. Febr., 20. März; 1880, 10. Apr.; 1885, 14. März; 1889, 16. März; 1890, 22. März

Illustrated Police News [London] 18. Apr. 1885

Der Klavier-Lehrer 1886, S. 105

Liverpool Mercury 1875, 6. Okt; 1888, 2. Aug.

Lute  1885, S. 71

Monthly Musical Record 1876, S. 45f.; 1881, S. 33, 34

Musical Standard 1873 I, S. 55; 1875 II, S. 383, 402; 1876 I, S. 64, 99, 305; 1877 I, S. 145; 1878 I, S. 297; 1883 I, S. 384; 1889 I, S. 207; 1895 I, S. 95, 113, 235f.; 1897 I, S. 221f.; 1908 I, S. 172, 203

MusT 1891, S. 281; 1895, S. 165; 1897, S. 316

MusW 1875, S. 298; 1876, S. 111, 342; 1886, S. 38f., 701; 1890, S. 529f.

Newcastle Courant 17. Mai 1878

Österreichische Musik- und Theaterzeitung 1890, 15. Febr., S. 4; 1896, 1. Febr., S. 11

Orchestra 1876, S. 334f.

Pall Mall Gazette [London] 17. März 1875

Die Presse [Wien] 31. Jan. 1890

Reichspost [Wien] 14. Jan. 1896

Signale 1887, S. 527; 1897,S. 406

Times [London] 1890, 24. März; 1893, 2. Jan.; 1895, 25. Jan.; 1908, 1. Apr.; 1923, 7. Juli

Wiener Allgemeine Zeitung 8. Febr. 1890

Brown Brit, Ebel, Frank/Altmann, Baker 3, Baker 4, New Grove 1, Cohen, Lyle

 

Jannis Wichmann

 

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