Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Haas, Alma, geb. Hollaender, Holländer

* 31. Jan. 1847 in Ratibor (Oberschlesien, heute Racibórz, Polen), …† 12. Dez. 1932 in London, Pianistin und Klavierlehrerin. Die Tochter des Musiklehrers Isaac Rachel genannt Hollaender (1809–1898) und der Pianistin Rosalie geb. Pappenheim (1814–1882) war das mittlere von neun Geschwistern. Ab ihrem zehnten Lebensjahr besuchte sie die Musikschule von Louis und Margarethe Wandelt in Breslau. 1861 trat sie mit dem 1. Klavierkonzert g-Moll op. 25 von Felix Mendelssohn Bartholdy zum ersten Mal öffentlich auf. Im Jahr darauf folgte sie ihrem ältesten Bruder, dem Komponisten, Pianisten, Dirigenten, Lehrer und Musikdirektor Alexis Hollaender (1840–1924), nach Berlin, wo dieser seit 1858 studiert und ab 1861 die Chor- und Klavierklasse an Theodor Kullaks 1855 gegründeter „Neuen Akademie der Tonkunst“ übernommen hatte. An Kullaks renommierter Ausbildungsstätte lernte auch Alma Hollaender und machte dort außerdem ihre ersten Unterrichtserfahrungen: 1868 heißt es, sie sei „bereits Lehrerin des Instituts“ (Bock 1868, S. 102).

Ihre Karriere als Solistin begann im Winter desselben Jahres 1868 mit einem Auftritt im Leipziger Gewandhaus und wieder mit einem anspruchsvollen, großbesetzten Werk: Neben einer Ungarischen Rhapsodie von Franz Liszt spielte die 21-Jährige Beethovens 3. Klavierkonzert c-Moll op. 37. Im Rahmen des Programms wich sie von der im 19. Jahrhundert üblichen Tradition ab, zwischen den Stücken eine umfangreichere Modulation zu improvisieren – was in der „Neuen Zeitschrift für Musik“ sehr positiv vermerkt wurde: „Noch sei einer [sic] Kleinigkeit erwähnt, durch deren Beachtung Frl. H. sich sogleich bei allen Sachverständigen günstig einführte und welche allen concertirenden Pianisten anzuempfehlen ist, vor Beginn der Liszt’schen Rhapsodie griff nämlich Frl. H. nur einen Accord, um die Tonart des folgenden Stückes festzustellen. Das macht einen viel besseren Eindruck als alles nichtssagende Präludieren, welches man bei solchen Gelegenheiten zu hören gewöhnt ist“ (NZfM 1868, S. 442f.).

Darüber hinaus gefiel in ihrem Debütkonzert bereits das, was auch künftig in der Berichterstattung gelobt werden sollte – zum Beispiel 1869 anlässlich eines Auftritts in Posen: „In dem Vortrage sämmtlicher Piècen documentirte die Dame eine klare, durchgebildete Technik und was noch mehr sagen will – musikalisches Verständniss“ (Bock 1869, S. 431). In demselben Sinn heißt es nach einem Auftritt in Berlin 1871, ihre Vorträge „kennzeichneten die Dame als eine technisch gewandte und ihrer Aufgabe gewachsene Künstlerin, die sich unbedenklich den besten Pianistinnen unserer Zeit an die Seite stellen kann“ (NZfM 1871, S. 85), und die „Elberfelder Zeitung“ wird zitiert: „Wir gestehen offen, dass uns dieses Spiel überrascht hat, denn wir hatten uns nur auf eine ungewöhnliche Fingerfertigkeit und auf einen recht hübschen Vortrag gefasst gemacht. Wir wurden aber bald gewahr, dass Fräulein Holländer nicht in die Kategorie Derjenigen gehört, die sich auf dem Clavier nur produciren können, sondern die das Clavier wirklich so zu behandeln wissen, wie z. B. der echte Sänger seine Stimme. Das Instrument hört auf, eine Maschine zu sein, es wird lebendig“ (Bock 1870, S. 23).

Das gelang der Künstlerin offenbar auch unter erschwerten Bedingungen, wie zwei Besprechungen eines Auftritts im Rahmen der Leipziger Euterpe-Konzerte unabhängig voneinander bezeugen: „Die Berliner Dame hörten wir in Beethovens Gdur-Concert und Chopins Esdur-Polonaise mit Vergnügen wieder ihr behendes, klares und verständiges Spiel entfalten und bedauerten sie nur ob der ungünstigen klimatischen und atmosphärischen Einflüsse, gegen die sie zu kämpfen hatte; denn bei der gestrigen schneidenden Kälte mag sich’s auf der zugigen Bühne unseres alten Theaters nicht gerade behaglich am Flügel gesessen haben, besonders nicht für eine concertmäßig angezogene Dame“ (Signale 1870, S. 165). Und die „Neue Zeitschrift für Musik“ präzisiert: „Frl. Holländer aus Berlin [...] documentirte durch ihre plastische Ruhe und zuverlässige Sicherheit selbst in den schwierigsten Passagen einen hohen Grad wahrhaft virtuoser Technik. Daß einige Stellen nicht so vollendet hervorperlten, schreiben wir nur der kalten, Glieder und Tasten lähmenden Temperatur des Hauses zu. Hinsichtlich der geistigen Auffassung wäre etwas mehr beseelende Wärme wünschenswerth gewesen, doch es ist keinesfalls leicht, bei so kühler Temperatur ins Feuer zu gerathen“ (NZfM 1870, S. 86).

Auf das Leipziger Debüt folgten Konzerte in Deutschland sowie 1870 und 1871 erste Auftritte in England und Schottland und schließlich der Umzug nach London. Am 1. Jan. 1872 heiratete die Pianistin den aus Coburg stammenden Dr. Ernst (in England auch Ernest) Anton M. Haas (1835–1882), der – nach Promotion in Tübingen und Stationen in Berlin, Paris und Schottland — 1866 ans British Museum gegangen war und 1875 eine Professur für Sanskrit am University College London erhielt. Eheschließung und Geburt der Kinder, Elsa (1876–1921) und Paul (1878– nach 1932), brachten zunächst eine Einstellung der Konzerttätigkeit mit sich. 1876 begann Alma Haas, wie sie sich fortan nannte, Klavierunterricht am Bedford College zu erteilen, einer Abteilung der University of London. An diesem ersten Britischen Frauencollege wirkte sie bis 1886, vielleicht sogar bis in die 1890er Jahre hinein. 1887 wechselte sie ans Royal College of Music, das sie aber bald zugunsten ihrer bereits 1886 angenommenen und offenbar parallel ausgeübten Stellung als Leiterin des Music Department am Londoner King’s College verließ.

 

 

Alma Haas, Kniestück, eigenhändig signiert 1903.

 

Nach dem Tod ihres Ehemannes — dessen über 300 Bände umfassende „valuable collection of Oriental works“ (The Times 18. Nov. 1919) sie 37 Jahre später der London School of Oriental Studies vermachte — erhielt sie ab 1883 „in recognition of the position of her late husband, Dr. Haas, as an Oriental scholar, and of his important services in the British Museum“ (The Times 27. Juli 1883) vom Parlament eine Pension von 80 Pfund (vermutlich jährlich) zugebilligt. Außerdem nahm sie ihre Konzerttätigkeit wieder auf — jedoch fast ausschließlich in England, mit zwei in der Presse dokumentierten Ausflügen nach Köln (1888) und Düsseldorf (1889).

Während die deutschsprachigen Musikzeitschriften sich für diese zweite Phase ihrer Laufbahn auf die Erwähnung ihres Namens beschränken und nur zuweilen auch ihr sehr reiches Programm auflisten, lässt sich englischen Publikationen entnehmen, dass die Künstlerin ihre musikalischen Qualitäten offenbar bewahrt hatte: „The quiet, artistic pianoforte-playing of Mme. Alma Haas may not have the power to draw together a large audience in an busy season like the present, but every listener must feel that he is all the better for the music he has heard. The player is never content with the stereotyped programme that critics know so well and dislike so intensely; her choice of pieces is always interesting, and she presents them always in a fresh light and as if she were enjoying them as much as anyone“ (The Times 10. Juni 1911).

Die Aufzeichnungen von Agathe Backer-Grøndahl dürften weitere Rückschlüsse auf das Spiel der Künstlerin zulassen, doch scheinen diese bislang nicht publiziert zu sein.

Das breite Repertoire der Künstlerin und die weitgehende Vermeidung von Virtuosenmusik und Salonpiecen sprechen allerdings für sich. In den frühen Jahren standen die großen klassischen und romantischen Klavierkonzerte und anspruchsvolles Solorepertoire des 19. Jahrhundert im Zentrum der Programmplanung. Auch als Partnerin im Klavierduo war die Künstlerin aktiv — unter anderem 1865, noch als Schülerin von Kullak, gemeinsam mit ihrer Kommilitonin Erika Lie (Impromptu op. 66 von Carl Reinecke über ein Motiv aus Manfred von Robert Schumann) und 1890 mit der ebenfalls bei Kullak ausgebildeten norwegischen Pianistin Agathe Backer-Grøndahl (Griegs Bearbeitung von Mozarts Fantasie c-Moll KV 475). In der Londoner Zeit rückte dann das gemeinsame Musizieren mit Kolleginnen und Kollegen stark in den Vordergrund. Vor allem lag Alma Haas offenbar Kammermusik mit Streichern am Herzen: Violoncellosonaten von Beethoven, Brahms, Chopin, Grieg, Raff und Rubinstein, Klaviertrios von Mendelssohn und Robert Schumann, Brahmsʼ Klavierquartett sowie die Klavierquintette von Brahms, César Franck, Anton Rubinstein und Robert Schumann deckten in ihren Londoner Konzerten ein reiches Spektrum an Besetzungen und Stilen ab. Auch das Tripelkonzert op. 56 für Klavier, Violine, Violoncello und Orchester von Beethoven (London 1887) zählte zu ihrem Repertoire. Seit dem Leipziger Debüt spielte die Musik von Beethoven eine wichtige Rolle, und auch in London schätzte George Bernhard Shaw Alma Haas „vor allem als herausragende Beethoven-Interpretin“ (Wenzel).

Der lebenslange Verzicht auf vordergründige Virtuosität zugunsten einer reichen musikalischen Ausdifferenzierung erklärt vielleicht auch die Widmung an „Frau Alma Haas“, die der Berliner Kommilitone und Klaviervirtuose Xaver Scharwenka (1850–1924) seinen 1879 komponierten, 1882 bei Peters in Leipzig erschienenen Variationen op. 48 beigab: Diese 12 Variationen eines Andante-Themas erweisen sich zwar als technisch durchaus anspruchsvoll, sind aber vor allem musikalisch vielseitig.

1914 scheint Alma Haas ihre Konzertlaufbahn endgültig eingestellt zu haben, während sie ihre musikpädagogische Arbeit „bis mindestens in die 1920er Jahre“ (Wenzel) beibehielt und u. a. für das spanische Königshaus „the pianoforte lessons of the Infanta Dona Beatriz and the Infanta Dona Maria Christina“ (The Times 30. Mai 1922) übernahm. Außerdem engagierte sie sich für die 1911 in London gegründete „Society of Women Musicians“, deren dritte Präsidentin sie 1914 wurde, im Anschluss an ihre Schülerin, die Sängerin, Pianistin und Komponistin Liza Lehmann (1862–1918), und die Komponistin und Pianistin Cécile Chaminade (1857–1944).

 

LITERATUR

Brief von Alma Haas an Theodor Kullak vom 30. März 1880, Staatsbibliothek zu Berlin, Signatur Mus. ep. Haas, Alma 1

Bock 1865, S. 108; 1866, S. 133; 1868, S. 69, 102, 413; 1869, S. 51, 94, 424, 431; 1870, S. 15, 23, 55, 87; 1871, S. 20, 94; 1873, S. 38

NZfM 1865, S. 174, 226; 1866, S. 116; 1867, S. 70, 132, 168; 1868, S. 75, 108, 442f.; 1869, S. 7, 59, 79, 84f., 87, 442; 1870, S. 50, 71, 86, 90, 118, 145; 1871, S. 49, 84f., 86, 137, 301; 1883, S. 43; 1888, S. 373, 458; 1889, S. 54

Signale 1868, S. 1102; 1869, S. 11, 14, 30, 419; 1870, S. 165, 206, 278; 1871, S. 375; 1882, S. 292; 1885, S. 311, 487; 1887, S. 52; 1888, S. 902; 1889, S. 41, 151, 166, 1045, 1124; 1890, S. 503; 1891, S. 69, 1077; 1894, S. 612, 1045; 1896, S. 23; 1898, S. 439

The Times [London] 1883, 27. Juli; 1894, 10. Febr.; 1895, 6. Dez.; 1905, 7., 26. Okt.; 1908, 29. Febr.; 1911, 10. Juni; 1912, 19. Nov.; 1914, 4. Mai; 1919, 18. Nov.; 1922, 30. Mai; 1932, 14. Dez.

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Bildnachweis

Bill Ecker, Harmonie Autographs and Music Inc., http://www.harmonieautographs.com, Zugriff am 30. Jan. 2015, mit freundlicher Genehmigung.

 

Kadja Grönke

 

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