Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Neruda, Olga

* 29. Aug. 1858 in Brünn, † 9. Dez. 1945 in Stockholm, Pianistin und Klavierlehrerin. Olga Neruda wuchs als jüngstes von mindestens sieben Kindern einer mährischen Musikerfamilie in Brünn auf. Zu ihren Geschwistern gehören die Pianistin Amalie, verh. Wickenhauser (1834–1890), Viktor Neruda (1836 – 1852), Alois (1837–1899), die später als Geigerin hochrenommierte Schwester Wilhelmine, verh. Norman-Neruda (1838–1911), außerdem die Violinistin Maria Anna Rudolfina, verh. Arlberg (1840–1920), der Violoncellist Franz Xaver (1843–1915) und Eugenie verh. Lindblad (1846–?). Ihr Vater Josef Neruda (1807−1875) − Brünner Domorganist und Musiklehrer − übernahm, wie schon bei den älteren Geschwistern, die erste musikalische Ausbildung von Olga Neruda. Möglicherweise erteilte auch die Mutter, die Pianistin Francisca Neruda geb. Merta (1817−1881), Anfangsunterricht. Außerdem wird Charles Hallé (1819−1895) als einer der ersten Klavierlehrer Olga Nerudas genannt. Im Gegensatz zu ihren Geschwistern, die schon früh konzertierten und im Familienensemble − dem Neruda-Quartett, das bis 1864 Bestand hatte − mit dem Vater Europa bereisten, blieb eine Karriere von Olga Neruda als Kindervirtuosin aus. Einer ihrer ersten Auftritte erfolgte am 18. Okt. 1874. Mit ihrer Schwester Wilma Norman-Neruda wirkte sie bei einem Wohltätigkeitskonzert im Brünner Redoutensaal mit und begleitete sie bei einer Violinsonate von Friedrich Wilhelm Rust, einem Adagio von Louis Spohr und einigen Ungarischen Tänzen von Brahms-Joachim. Am 2. Febr. 1880 trat die Musikerin zusammen mit ihrem Bruder Franz (1843−1915) sowie weiteren Künstlern in einem Konzert des Wischauer Musik- und Gesangvereins im dortigen Schützensaal auf. Mit dem Bruder und einem Violinisten namens Effenberger trug sie Beethovens Klaviertrio c-Moll op. 1 Nr. 3 vor und erntete „hierfür sowie für die beiden Solopiecen: ‚Barcarole‘ von Rubinstein und Walzer von Chopin […] den lebhaftesten Beifall“ (Brünner Tagesbote 8. Febr. 1880). Der „Brünner Tagesbote“ konstatiert außerdem: „Namentlich fand Frln. Olga Neruda Gelegenheit, ihr künstlerisch geklärtes und abgerundetes Clavierspiel und ihren schönen Anschlag zur Geltung zu bringen“ (ebd.).

 

Konzertankündigung 18. Okt. 1874, Debüt Olga Nerudas.

 

Seit 1881, dem Todesjahr der Mutter, lebte Olga Neruda bei ihrer Schwester Wilma verh. Norman-Neruda in London. Diese bemühte sich erfolgreich um einen Studienplatz für ihre jüngere Schwester bei Clara Schumann am Hoch’schen Konservatorium in Frankfurt a. M.: Zum Studienjahr 1883/1884 wurde Olga Neruda in deren Klavierklasse aufgenommen. Dass ihr Studium nicht auf eine Karriere als Solokünstlerin hinauslaufen sollte, geht aus einem Brief Wilma Norman-Nerudas an Clara Schumann hervor – die Antwort auf ein Schreiben der Hochschullehrerin, die darin offenbar mangelnde Fortschritte ihrer Studentin bei der Überwindung technischer Schwierigkeiten beklagt hatte: „Aber da sie nicht Künstlerin werden soll − da es ja leider! viel zu spät ist − so wünscht sie und ich es möge eine tüchtige Lehrerin aus ihr werden die so gut wie es für sie nur möglich ist, spielen kann. Darf ich Sie nun bitten, verehrte Frau Schumann mir zu sagen ob sie nicht noch glauben es wäre von größtem Nutzen für Olga noch ein Jahr von Ihnen unterrichtet zu werden − oder ob Sie denken sie solle nun anfangen mit Unterricht zu geben [sic] (Wilma Norman-Neruda an Clara Schumann, Brief vom 14. Aug. 1884, zit. nach Heise, S. 68f.). Clara Schumann behielt Olga Neruda weitere drei Semester in ihrer Klasse. Erst zu Ostern des Jahres 1886 verließ die Pianistin das Hoch’sche Konservatorium. Im Anschluss hieran reiste sie mit ihrer Schwester Wilma „in die skandinavischen Länder“ (Jahresbericht des Dr. Hoch’schen Conservatoriums 1885/1886, S. 33). Die Musikerinnen konzertierten vor der dänischen Königsfamilie und ließen sich im Apr. 1886 mehrmals in Stockholm hören. Anschließend kehrten sie nach England zurück und traten am 1. Nov. 1886 mit einigen Volksliedern für Violine und Klavier von Joachim Raff in einem der Monday Popular Concerts in der Londoner St. James’s Hall auf. Bis 1891 musizierte Olga Neruda wiederholt mit der älteren Schwester in Arthur Chappells Popular Concerts. Das gemeinsame Repertoire umfasste u. a. Tomaso Antonio Vitalis Chaconne g-Moll, Beethovens Romanze Nr. 2 F-Dur op. 50, Brahms’ Violinsonate Nr. 1 G-Dur op. 78 und Dvořáks Romantische Stücke op. 75. Als Begleiterin Wilma Norman-Nerudas fand die Pianistin in den Konzertbesprechungen kaum Beachtung. Anders war die Wahrnehmung bei Auftritten ohne die berühmte Schwester. Über die Mitwirkung in einem Konzert der Cheltenham Quartet Society am 11. Apr. 1888 schreibt die „Musical Times“: „Schumann’s Quintet [Es-Dur op. 44] was also included in the programme, Miss Olga Neruda’s exceptionally brilliant performance at the pianoforte evoking the greatest enthusiasm“ (MusT 1888, S. 293). Seit den 1890er Jahren konzertierte Olga Neruda häufiger ohne ihre Schwester. Dabei trat sie vornehmlich in kammermusikalischen Besetzungen auf, u. a. mit den Violoncellisten William Edward Whitehouse und Jules-Joseph-Ernest Vieuxtemps (Bruder des berühmten Geigers Henri Vieuxtemps), den Violinisten Josef Ludwig und Willy Hess, der ehemaligen Kommilitonin Annie Lea (Pianistin) sowie dem Shinner und dem Brodsky Quartet.

1891 war Olga Neruda erstmals in Konzerten von Charles Hallé in Manchester zu hören, der seit 1888 mit ihrer Schwester Wilma verheiratet war. Hier trug sie Anfang des Jahres zusammen mit ihrem Schwager Mozarts Konzert Nr. 10 für zwei Klaviere Es-Dur KV 365 sowie wenige Zeit darauf, ebenfalls mit Hallé, Chopins Rondo in C-Dur für zwei Klaviere op. 73 und mit ihm und seinem Schüler Frederick Dawson ein Konzert von Joh. Seb. Bach für drei Klaviere vor. Zu dieser Zeit lebte die Pianistin im Haus von Wilma Norman-Neruda und Charles Hallé in Manchester.

Anfang der 1890er Jahre gastierte die Pianistin u. a. in Liverpool und Cheltenham. Nebenher trat sie weiterhin als Begleiterin ihrer Schwester auf. Viel Beachtung fand sie nach einem gemeinsamen Auftritt am 15. Dez. 1892 in Birmingham: „Miss Olga Neruda showed herself not only an able, but most sympathetic colleague, and the unity of feeling throughout the performance was one of its most striking features“ (Birmingham Daily Post 16. Dez. 1892). Weiter heißt es über den Vortrag von Beethovens Klaviersonate Nr. 17 op. 31 Nr. 2: „The performance was a triumph for Miss Neruda, who showed a perfect mastery over every difficulty. Not the least charm of her playing is her graceful pose and action. There is no thumping, and no ‚conservatoire stoop.‘ Her touch is delicate, yet firm; and her execution as clear as it is unforced. Indeed, last night we were in the presence of artists in the highest sense of the word“ (ebd.). Im Frühjahr 1897 reisten die Schwestern nach Italien und ließen sich am 9. und 11. Apr. in der Sala del Regio Conservatorio di Musica in Mailand hören.

Gegen Ende der 1880er bzw. Anfang der 1890er Jahre unterrichtete Olga Neruda die Töchter von König Edward VII. und seiner Ehefrau Königin Alexandra, die Prinzessinnen Louise, Victoria und Maud.

Seit 1893 gehörte die Pianistin dem Lehrerkollegium des in diesem Jahr von ihrem Schwager Charles Hallé gegründeten Royal Manchester College of Music an. Miss E. Boughey, Helen Brown, Amy Dobson, Mabel Forty, Edward Isaacs und George Whitaker zählten zu ihren SchülerInnen. Mehrfach trat Olga Neruda in Konzerten der Hochschule auf. Zwischen 1896 und 1907 wirkte sie außerdem häufig in Kammerkonzerten von Adolph Brodsky (der nach Charles Hallés Tod die Leitung des Royal Manchester College of Music übernommen hatte) bzw. dem Brodsky Quartet mit. Für den Vortrag von Brahms’ Klavierquartett Nr. 1 g-Moll op. 25 in einem dieser Konzerte Anfang 1898 attestiert die „Musical Times“ Olga Neruda „beautiful crisp touch, legitimate style, and artistic adaptation of the tone to the force of the stringed instruments“ (MusT 1898, S. 116).

1908 beendete die Pianistin aufgrund ihres schlechten gesundheitlichen Zustandes die Arbeit am College. Einige Jahre später übersiedelte sie nach Skandinavien. Hier ist ihr kammer­mu­sika­li­sches Wirken dokumentiert. Mit Kollegen wie Ernst Törnqvist (Violine), Sven Blomquist (Viola) und Carl Christiansen (Violoncello) spielte die Pianistin um 1930 Werke wie Johannes Brahms’ Klavierquartett g-Moll op. 25 und Dvořaks Quintett Nr. 2 A-Dur op. 81 für den Rundfunk ein. 1945 starb die Musikerin im Alter von 87 Jahren in Stockholm.

 

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Bildnachweis

Brünner Tagesbote 15. Okt. 1874

 

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