Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

StockmarrStockmarStokmarr, Johanne Amalie

* 21. Apr. 1869 in Kopenhagen, † 2. Febr. 1944 in Kopenhagen, Pianistin und Klavierlehrerin. Johanne Stockmarr wuchs in einem musikalischen Umfeld auf. Ihre Eltern waren die Pianistin Anna Emilie geb. Raun (1842–1911) und der Kgl. Kapellmusiker und Violinist Ferdinand Nicolaj Tycho Stockmarr (1835–1884), ein Nachkomme des sächsischen, um 1700 eingewanderten Kontrabassisten Gottlob Stockmarr. Johanne Stockmarrs Geschwister schlugen keine musikalischen Laufbahnen ein: Die ältere Schwester Andrea Louise Vilhelmine Stockmarr, später verh. Schøning (1866–1918), wurde Buchhändlerin, und der erstgeborene Albert Andreas Johannes Stockmarr (1863–1929) betätigte sich als Naturwissenschaftler. Johanne Stockmarr erlernte das Klavierspiel zunächst bei ihrer Cousine, der Pianistin Anna Stockmarr, Tochter des Klarinettisten und Kapellmusikers Carl Stockmarr. Zwischen 1885 und 1888 studierte Johanne Stockmarr am Kopenhagener Konservatorium bei Edvard Helsted (1816–1900). Hier belegte sie zudem Musikgeschichte bei Niels Gade (1817–1890) und Musiktheorie bei Johann Peter Emil Hartmann (1805–1900). Später setzte sie ihre Ausbildung mittels eines einjährigen Stipendiums bei Henri Fissot (1843–1896) am Pariser Konservatorium und anschließend bei Franz Xaver Neruda (1843–1915) in Kopenhagen fort. Wahrscheinlich wurde sie auch von Carl Nielsen (1865–1931) unterrichtet. Neben einer umfangreichen Konzerttätigkeit, insbesondere in England und Dänemark, betätigte sich Johanne Stockmarr auch als Lehrerin u. a. am Kopenhagener Konservatorium. Zu ihren SchülerInnen zählt der Pianist Arne Skjold Rasmussen (1921–1980). Für ihre Leistungen als Konzertpianistin wurde sie mehrfach ausgezeichnet: Auf die Ernennung zur königlichen dänischen Hofpianistin 1909 folgte im Jahr 1918 die Auszeichnung mit der Medaille Ingenio et Arti, 1929 das Tagea Brandts Reisestipendium, 1939 die königliche Belønningsmedaille (Belohnungsmedaille) in Gold sowie die goldene Mecklenburgske Fortjenstmedalje (Mecklenburgische Verdienstmedaille). 1943 erhielt sie das Hædersstipendium des dänischen Kulturfonds.

Erste Konzerte soll sie schon im Kindesalter in Kopenhagen gegeben haben, rekonstruieren lässt sich ihre Konzerttätigkeit jedoch erst ab ca. 1896. Neben Konzerten im skandinavischen Raum, vor allem in Kopenhagen (Jan. 1896), Oslo (1899, 1900, 1905, 1907, 1908, 1914, 1915) und Kalmar (Apr. und Mai 1900) konzentrierte sich die Pianistin auf Großbritannien: Neben einer Vielzahl an Konzerten in London (1900, 1901, 1904, 1906–1914, 1920, 1929, 1936, 1937) lassen sich auch Reisen nach Glasgow (Nov. 1900), Manchester (Dez. 1900, 1910, 1912), Newcastle (Febr. 1908, 1911), Southport (1910), Birmingham (Jan. 1911), Bournemouth (Nov. und Dez. 1912, 1920, 1928–1931), Kingston upon Hull (Jan. 1930), Liverpool (Nov. 1930) und Belfast (Mai 1933, Mai 1934) nachweisen. In der Literatur werden weitere Konzertreisen nach Deutschland und Frankreich erwähnt, die aber nur bruchstückhaft nachvollziehbar sind. In Paris spielte sie im Apr. 1927, in Schwerin wirkte sie, allerdings irrtümlich als Johann Stockmarr angekündigt, am 3. oder 4. Mai 1912 beim ersten dänischen Kammermusikfest mit. Ihr erstmaliges Erscheinen in London im Dez. 1900 wurde vom „Manchester Guardian“ wohlwollend kommentiert: „The début of an unknown pianist at the Popular Concerts is a rare occurrence, but departure from the general rule was fully justified yesterday in the case of Mlle. Stockmarr, whose performance of Grieg’s Ballade in G minor proved her to be an executant and an artist of more than common powers. Admirably suited by the work, she at once created a favorable impression by the neatness and elasticity of her touch, the clearness and eloquence of her phrasing, and the thoroughly Scandinavian spirit of her interpretation. The purport of this composition has never, indeed, been made quite so palpable before. Mlle. Stockmarr, who was warmly received, was also associated with Lady Hallé [Wilma Neruda] in a refined and spirited rendering of Brahms Duet Sonata in D minor“ (Manchester Guardian 10. Dez. 1900).

Auffällig viele Konzerte bestritt die Pianistin im Rahmen von gemeinsamen Konzertreisen mit befreundeten Musikerinnen. Zusammen mit Wilma Neruda spielte Johanne Stockmarr u. a. in Oslo (Jan. u. Febr. 1900), Kalmar/Schweden (Apr. 1900), Bath (Sept. 1900), Helensburgh/Schottland (Nov. 1900), Manchester (Dez. 1900) und London (Dez. 1900, Mai 1907). Auch mit der königlichen dänischen Hofsängerin Ellen Beck lässt sich eine solche Kooperation nachweisen: Gemeinsame Auftritte fanden statt in Oslo (Apr. 1907), London (Okt., Nov. u. Dez. 1907, März 1908, Okt. 1909, Okt. 1911, Okt. u. Nov. 1912, Okt. 1913), Søndfjords/Norwegen (März 1908), Bergen/Norwegen (Apr. 1910), Stavanger/Norwegen (Apr. 1910), Schwerin (Mai 1912) und Bournemouth (Nov. 1912). Auch mit der Sängerin und Pianistin Nina Grieg liegen gemeinsame Engagements vor, in London (Okt. 1912 zusammen mit Ellen Beck), Bournemouth (Nov. 1912 erneut mit Ellen Beck), Oslo (Mai 1914) und Stavanger/Norwegen (Aug. 1915). Die Verbundenheit mit Edvard und Nina Grieg spiegelt sich auch im Konzertrepertoire der Pianistin und der Mitwirkung bei zahlreichen, dem Schaffen Griegs gewidmeten Konzerten wider. Höhepunkt war in diesem Zusammenhang sicherlich Johanne Stockmarrs Vortrag von Griegs Konzert a-Moll op. 16 unter Leitung des Komponisten am 17. Mai 1906 in der Londoner Queens’ Hall. Ihr Repertoire umfasste weiterhin Kompositionen von Domenico Scarlatti, Mozart, Beethoven, Mendelssohn, Chopin, Robert Schumann, Liszt, Brahms, Saint-Saëns, Tschaikowsky, Christian Sinding, Debussy und Carl Nielsen. Erwähnenswert sind Urauführungen von einigen Kompositionen Carl Nielsens, darunter die Sonate für Violine und Klavier Nr. 1 op. 9 mit Anton Svendsen am 15. Jan 1896 in Kopenhagen, die Humoreske Bagateller op. 11 am 2. Febr. 1898 und die Luzifer-Klaviersuite op. 45 in Kopenhagen am 14. März 1921. Im Dez. 1920 spielte Johanne Stockmarr in Bournemouth die englische Erstaufführung des Klavierkonzerts Nr. 2 d-Moll op. 23 von Wilhelm Stenhammar. „Everything that could be done for the solo part was unquestionably accomplished by the composer’s talented compatriot, Miss Johanne Stockmarr, who had not been heard here for several years. She has facile execution, a sensitive unerring touch, and the true Scandanavian feeling for poetic phrasing“ (Saturday Review of Politics, Literature, Science, and Art 1920, S. 321). Johanne Stockmarr verantwortete ebenfalls die dänische Erstaufführung von Tschaikowskys Klavierkonzert Nr. 2 G-Dur op. 44 im Jahr 1898.

Neben der Interpretation der Werke Griegs und Nielsens wird sie in Rezensionen mehrfach für den Vortrag Brahms’scher Werke gelobt. Der „Musical Standard“ schreibt über ein Konzert Ende Okt. 1912: „On Friday the chief interest was provided by Miss Johanne Stockmarr’s performance of Brahms’ B flat Concerto. Miss Stockmarr overcame with complete facility the many difficulties of the solo part. Both in the highly-exigent first movement and in the complex scherzo she was wholly adequate to all demands. In the andante the poetical feeling was fully realized and the somewhat naïve finale, in rondo form, was played with befitting gaiety and brightness“ (Musical Standard 1912, S. 278). Walter Niemann zeigt sich hingegen weniger überzeugt: „Da steht in Kopenhagen die Hofpianistin und Klavierprofessorin an der Akademie Johanne Stockmarr in der allerersten Reihe der modernen, gern wie in Schweden gleichermaßen durch dänische (Neruda), wie durch französische (Fissot) Klavierkultur gegangenen Pianistinnen. Ihrer sehr harmonischen und äußerst vornehmen Erscheinung entspricht die Art ihres Spiels: immer schönklingend, weich, anmutig, doch – leider ein gemeinsamer Charakterzug des nordischen Virtuosentyps – ohne stärkeres Temperament und innere Anteilnahme“ (Niemann 1919, S. 188).

Auch wenn die Pianistin anscheinend vorwiegend eine Solokarriere verfolgte, spielte sie auch Kammermusik, u. a. mit dem Brodsky Quartet (Manchester, Dez. 1910), dem Walenn Quartet (London, März 1912), dem Wessely Quartet (London, März 1913 u. März 1914) und mit dem Saunders Quartet (London, März 1912, Okt. 1912, Okt. 1913). Seltener trat sie in kleineren Besetzungen auf, u. a. interpretierte sie mit dem Violoncellisten Pablo Casals in der Manchester Schiller-Anstalt im Mai 1912 Werke von Brahms und Bach „as only they (and a few others) can“ (MusT 1912, S. 332). In der Literatur werden gemeinsame Auftritte mit den befreundeten Geigerinnen Frida Schytte (Frida von Kaulbach) und Gunna Breuning-Storm genannt, zu denen jedoch keine Konzertdaten ermittelt werden konnten.

Eine erste Grammophon-Aufnahme mit Palmgrens Das Meer op. 17 Nr. 12 und Griegs Norwegischer Brautzug im Vorüberziehen E-Dur op. 19 Nr. 2 für das dänische Studio HMV ist datiert auf das Jahr 1926. Im folgenden Jahr wurden in den Columbia Studios in London Chopins Berceuse op. 57 und Selim Palmgrens Tarantella aufgenommen. Erst in den 1940er Jahren sind weitere Aufnahmen bei HMV angefertigt worden, u. a. Mozarts Klaviersonate in Es-Dur KV 282, Beethovens Sonate Nr. 26 Es-Dur op. 81a, eine Valse und die Nocturne Nr. 7 op. 21 von Chopin, ein Präludium von Joh. Seb. Bach sowie die Rhapsodie op. 11 Nr. 3 von Ernő Dohnány.

Die zahlreichen ab Aug. 1928 in der französischen und englischen Presse angekündigten Radiokonzerte belegen, dass sie ihre Konzerttätigkeit bis mindestens 1938 weiterführte.

Ein Teil der Korrespondenz zwischen Johanne Stockmarr und Edvard und Nina Grieg aus den Jahren 1907 bis 1912 ist in der Öffentlichen Bibliothek Bergen zugänglich.

 

 

LITERATUR

2 Briefe von Johanne Stockmarr an Edvard Grieg (20. Mai 1905; 26. März 1907), Öffentliche Bibliothek Bergen

7 Briefe von Johanne Stockmarr an Nina Grieg (25. Juli 1911; 4. Sept. 1912; 7. Juli 1912; 5., 12., 23., 26. Aug. 1912), Öffentliche Bibliothek Bergen

Aftenposten [Oslo] 1899, 18., 20., 21., 25. März; 1900, 23., 25., 27. 31. Jan., 1. Febr.; 1905, 9., 10. Nov.; 1907, 3.-6. Apr.; 1908, 28. Febr., 5., 7., März; 1913, 9. Febr., 14. Nov.; 1914; 1914, 3. Febr., 5.–7. Febr., 25. März; 1915, 22. Aug.

The Athenæum 1906 I, S. 523; 1907 I, S. 707; 1908 I, S. 707; 1912 I, S. 291; 1913 II, S. 354; 1920 II, S. 529

The Academy 1909, S. 629

Bergens tidende 1910, 21., 26. Apr., 2. Mai

The Cremona 1907, S. 92, 131

Glasgow Herald 1900, 29. Nov., 10. Dez.

The Graphic [London] 15. Dez. 1900

Judy: or the London Serio-Comic Journal 1907, S. 189

Kalmar 1900, 14., 20., Apr.

The Leeds Mercury 10. Dez. 1900

The Manchester Guardian 1900, 10., 17. Dez.

Monthly Musical Record 1901, S. 15

Musical Mirror 1929, S. 58, 228

Musical News 1900 II, S. 288f.

Musical Standard 1900 II, S. 6, 392; 1904 I, S. 409; 1904 II, S. 4; 1906 I, S. [III]; 1906 II, S.  36, 192, 239f., 389, 390; 1907 I, S. 365; 1907 II, S. 160, 171, 278; 1908 II, S. 305; 1909 II, S. 189, 275; 1910 I, S. 144; 1910 II, S. 344; 1911 I, S. 387; 1911 II, S. 197, 263; 1912 I, S. 154, 160; 1912 II, S. 236, 253, 264, 268, 278, 279, 283, 297

FritzschMW 1907, S. 179

MusT 1906, S. 410, 490; 1907, S. 473, 476, 633, 739; 1908, S. 187; 1909, S. 3; 1910, S. 242, 621, 738, 791, 802; 1911, S. 43f., 117, 740, 812; 1912, S. 332, 807, 808; 1913, S. 256, 747, 818, 821; 1914, S. 258, 331, 708; 1920, S. 750, 840; 1930, S. 72, 1130

Der Norden 1944, S. 65

NZfM 1912, S. 212

Saturday Review of Politics, Literature, Science, and Art 1920, S. 304, 321; 1935, S. 311

The School Music Review 1913, S. 194

Signale 1920, S. 922, 923

Søndfjords Avis 20. März 1908

The Speaker 1906, S. 601

Stavanger Aftenblad 1910, 20., 23., 25., 27. Apr.; 1915, 30. Aug.

The Times [London] 1900, 7., 10. Dez; 1904, 29. Juni; 1906, 18. Mai, 8. Sept.; 1907, 31. Mai , 15. Juni, 17. Okt.; 1907, 3. Febr., 16., 17. Okt; 1909, 22. Jan., 27. Sept.; 1910, 21., 25., 28. Febr., 1. März, 3., 17., 20. Okt., 21. Nov.; 1911, 7., 9., 17., Okt.; 1912, 7., 16. März, 18., 31. Okt., 19. Nov.; 1913, 4. März, 16. Juli, 27., 30. Sept., 16., 20., 25. Okt.; 1914, 16., 19., 27. März; 1920, 7., 11. Okt.; 1928, 13. Apr., 13., 14., 15. Aug. , 28., 29. Sept., 6. Dez.; 1929, 8., 14., 23. März, 4., 5. Sept.; 1930, 12. Sept., 21. Nov.; 1931, 21., 26. Okt.; 1932, 29., 30. Sept., 3. Okt.; 1933, 4. März; 1934, 17. Febr., 12. May; 1935, 4. Nov.; 1936, 5. Dez.; 1937, 24., 31. März; 1938, 30. Juni

Violin Times 1900, S. 195; 1907, S. 100, 115, 155, 178

Walter Niemann, Meister des Klaviers, Berlin 1919.

The Gramophone Shop Encyclopedia of Recorded Music, New York 1942.

Jean-Luc Caron, Carl Nielsen. Vie et œuvre 1865–1931, Lausanne 1990.

Gyldendals Enzyklopädie: http://www.denstoredanske.dk/Dansk_Biografisk_Leksikon/ Kunst_og_kultur/Musik/Pianist/Johanne_Stockmarr, Zugriff am 31. Jan. 2014.

Dänisches Biografisches Frauenlexikon: http://www.kvinfo.dk/side/597/bio/1323/origin/170/, Zugriff am 31. Jan. 2014.

http://www.naxos.com/person/Johanne_Amalie_Stockmarr/13519.htm, Zugriff am 31. Jan. 2014.

 

Bildnachweis

Musical Standard 1906 II, S. 390

 

Jannis Wichmann

 

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