Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Wienzkowska, Wienzkowski, Melanie von

Lebensdaten unbekannt, geb. vermutlich in Warschau, gest. vermutlich in den USA, Pianistin und Klavierlehrerin. Melanie Wienzkowska ist 1873 in Warschau als Schülerin von Józef Wieniawsky (1837−1912) und ab 1886 in Wien als Schülerin von Theodor Leschetizky (1830−1915) nachweisbar. Leschetizkys Klavierausbildung war in der Art von Konservatoriumsklassen organisiert, und ab 1890 wirkte Wienzkowska für ihn als Lehrkraft in den Vorbereitungskursen. Der sehr junge Leschetizky-Schüler Mark Hambourg (1879−1960) bezeichnete sie in jener Zeit als „an old spinster pupil of Leschetitzky’s“ (S. 44). Im Herbst 1896 ging Wienzkowska von Hamburg aus in die USA, wo sie sich dauerhaft in New York niederließ. Die Passagierlisten nennen als Mitreisende auch die Familienmitglieder Helene, Leokadja und Stanislava.

Obgleich die Pianistin in Europa als „Fräulein“ (in Amerika dagegen als „Madame“) bezeichnet wird, hat sie möglicherweise eine Tochter gehabt, denn die Schauspielerin und Schriftstellerin Annette Westbay (1896−1960) wird 1920 in der Presse als „the daughter of Melanie de Wienzkowska, a celebrated Polish Prima donna [sic], who came to the United States to escape political persecution in her native country“ (New York Tribune 19. Sept. 1920) bezeichnet.

Ähnlich wie Anna Essipoff, die ebenfalls für Leschetitzkys Vorbereitungskurse tätig war, eignete Melanie Wienzkowska sich in Wien nicht nur das Klavierspielen, sondern auch das Unterrichten an. Dabei folgte sie Leschetitzkys Methode eines technisch genau reflektierten Virtuosentums, dessen Prinzipien eine andere seiner Assistentinnen, Malwine Brée, später in ihrer Schrift „Die Grundlage der Methode Leschetizky“ (Mainz 1902) niedergelegt hat. In der Tradition ihres Lehrers gründete Wienzkowska in New York „The Only ,Leschetizky‘ School of Piano Playing in America. Named after Prof. Theo. Leschetizky, of Vienna, by his special permission“ (The Columbia Literary Monthly, Band 11, 1903, S. XIII). Die entsprechende Zeitungsanzeige wirbt außerdem damit, dass Wienzkowska als „Directress and Founder“ der Schule „Prof. Leschetizky’s Solo Principal Assistant in this Country, formerly in Vienna“ und außerdem „Concert Pianiste“ (ebd.) sei.

Aufgrund ihrer Tätigkeit für Theodor Leschetizky stand Melanie Wienzkowska mit Ignaz Paderewski und anderen renommierten PianistInnen aus Leschetizkys Kreis in Kontakt und unterrichtete einzelne von ihnen auch in den USA weiter. Zu ihren amerikanischen SchülerInnen zählen Oliver Denton, William Bauer, Ruth Libby und Bertha Yocum, von denen einige − wie die Letztgenannte − anschließend selbst zu Leschetizky nach Wien gingen. Yocum arbeitete außerdem zeitweise mit Wienzkowska zusammen und unterrichtete später am Guilford College, wo sie „a well established reputation as a certified exponent of the Leschetizky School of Vienna“ (Guilford College, Greensboro/NC 1927, S. 105) besaß.

Melanie Wienzkowskas Konzertlaufbahn begann bereits 1873/74 während ihrer Ausbildung in Warschau, wo ihr Spiel sehr positiv wahrgenommen wurde: „Die Leistungen dieser jungen Dame erinnern nicht wenig an die berühmte und leider zu früh verstorbene Sophie Bohrer [sic: Bohrer starb erst 1899, hatte sich aber 1850 aus dem Konzertleben zurückgezogen]. Ein mit Geist und Geschmack durchweg belebter Vortrag, eine enorme Rapidität verbunden mit einer Kraft, welche man einer so jugendlichen Erscheinung nicht zutrauen sollte, die größte Leichtigkeit in der Ueberwindung der technischen Schwierigkeiten aller Art und dazu ein großes Gedächtniß“ (Signale 1873, S. 424). 1879 konzertierte die Künstlerin in Berlin, wo sie sich am 6. Dez. „in einem eigenen Concert als sehr begabte, technisch schon weit vorgerückte Pianistin“ (Signale 1879, S. 1110) empfahl. Gelobt wurde ihre „grosse Fingerfertigkeit, selbst im rapidesten Zeitmaass vermag sie Passagen, besonders Tonleiterläufe mit beiden Händen perlend auszuführen; auch der Anschlag ist, so lange er sich in den Grenzen des Schönen hält, elastisch, im piano sogar duftig. Leider überschreitet die junge Dame diese Grenze oft und stösst alsdann mit dem Arm und steifen Fingern derartig in die Tasten, dass der hierdurch erzeugte Ton für ein gebildetes Ohr wahrhaft beleidigend wird. Als Untugend müssen wir ferner den zu häufigen und anhaltenden Pedalgebrauch, der oft ganz verschiedene Harmonien zusammenerklingen [sic] lässt und zu einem Chaos vereinigt, wie den schroffen, unmotivierten Wechsel zwischen dem Fortissimo und pianissimo [sic] bezeichnen. Das Spiel würde an Wirkung bedeutend gewinnen, wenn Frl. v. W. weniger auf den Effect ausginge; dann würde sich dasselbe von selbst harmonischer gestalten und einen befriedigenderen Eindruck gewähren. – Am besten gelang der jungen Dame die Chopin’sche Polonaise; diese schien ihrer Auffassungskraft und Gefühlsweise mehr zu entsprechen als Beethoven’s Sonate und Schumann’s Novellette“ (Bock 1879, S. 404f.).

Noch nach ihrem 1886 erfolgten Lehrerwechsel zu Leschetizky monierte ein Rezensent an dem virtuosen Klavierkonzert Nr. 4 d-Moll op. 70 von Anton Rubinstein und − vermutlich ähnlich konzipierten − Solostücken von Leschetizky, Paderewski und Chopin, dass sich „das Bestreben nach möglichst virtuoser Bewältigung der technischen Schwierigkeiten noch durchwegs [sic] auf Kosten tieferer Auffassung (stellenweise selbst nicht ohne Anschlagshärten), als charakteristischen Hauptmoment geltend“ (NZfM 1889, S. 279) mache. Offenbar hatte die Presse Schwierigkeiten, dieses Werk, das Wienzkowska ebenso wie das technisch anspruchsvolle Concerto symphonique Nr. 3 Es-Dur op. 45 (Concert national Hollandais) von Henry Charles Litolff im Repertoire hatte, mit einer Interpretin in Einklang zu bringen: „Rubinsteins Concert, das der Componist für seine und ähnliche Löwentatzen schrieb, spielte ein Frl. v. Wienzkowska, ,so weit die vorhandenen Kräfte‘ reichten, immerhin technisch fertig, geschmackvoll und gut musikalisch, daher nicht ohne aufmunternden Beifall“ (FritzschMW 1890, S. 70). Noch deutlicher wurde die „Neue Zeitschrift für Musik“, die vermerkte, das Werk sei „mit Eleganz und nicht unbedeutender technischer Fertigkeit gespielt, doch sind die Clavierconcerte von Rubinstein, da ihre Ausführung einen hohen Grad physischer Kraft verlangt, mehr für Pianisten wie Pianistinnen geeignet“ (NZfM 1890 S. 139). Immerhin bescheinigte die „Neue Freie Presse“ ihr bereits 1886, „eine der begabtesten Schülerinnen Leschetitzky’s“ (Neue Freie Presse 9. Nov. 1886) zu sein.

Vor der Übersiedlung nach Amerika sind vorwiegend Auftritte im ost- und süddeutschen Raum und − ausbildungsbedingt − in Wien nachweisbar. Neben polnischer Musik und Kompositionen von Klaviervirtuosen spielte Wienzkowska auch Kammermusik. So musizierte sie 1888 gemeinsam mit Leschetizkys Ehefrau Anna Essipoff an zwei Klavieren die Variationen über ein Beethovensches Thema von Camille Saint-Saëns, ging 1886 bis 1888 mit dem polnischen Tenor Władiysław Mierzwiński auf Tournee und wirkte 1889 an einem der von dem berühmten Violinisten Arnold Rosé in Wien veranstalteten Kammermusikabende in Robert Schumanns Klaviertrio Nr. 2 F-Dur op. 80 mit.

Nach ihrem Umzug in die USA konzertierte Melanie Wienzkowska auch dort, vorwiegend in ihrer neuen Heimatstadt New York und in Boston. Anlässlich eines Konzerts in Boston, bei dem sie gemeinsam mit Mitgliedern des dortigen Knaisel Quartet erneut Schumanns zweites Klaviertrio musizierte, resümiert „The Daily Princetonian“: „Mme. Mèlanie [sic] de Wienzkowska [...] is an artist of talent and ability. She was born in Warsaw, and has, from her earliest childhood, when she gave evidence of great talent, studied in the Polish school, her last teacher being the famous Leschetizky. She was both a co-worker and a warm friend of Paderewski, who has given her much encouragement. After having made her reputation on the concert stage in all of the principal cities of Europe, and having played with the most famous orchestras, she came to America last autumn and has established herself in New York. Her master, Theodor Leschetitzky [sic], says of her: ,Where, as in the case of Mme. de Wienzkowska, true talent is combined with absolute knowledge and ability the most brilliant results must follow.‘ Hans Richter, the famous director, under whom she has played in all of her philharmonic and orchestral concerts, gives her words of the warmest praise“ (The Daily Princetonian 26. Febr. 1897). Nach einem Soloabend in der New Yorker Mendelssohn Glee Club Hall am 4. Febr. 1897 bestätigt die Presse ihr: Mme. Wienzkowska’s reading of these numbers“ − sie spielte ein Programm, das neben Schumann ausschließlich Musik berühmter Klaviervirtuosen des 19. Jahrhunderts enthielt − was admirable; her playing showed brilliancy of execution, ease of technique, and a sympathetic temperament. The audience was highly appreciative (The Music Trade Review 13. Febr. 1897).

Melanie Wienzkowska gewidmet ist die 1891 veröffentlichte „Sérénade“ op. 34 Nr. 3 aus den Silhouettes-Portraits (Sept morceaux de piano) des Leschitizky-Schülers Eduard Schütt.

 

Anzeige für Wienzkowskas New Yorker Klavierschule (1903).

 

LITERATUR

Altoona Tribune 27. Sept. 1918

Bock 1879, S. 404f.; 1887, S. 390.

The Columbia Literary Monthly (Columbia University), Bd. 11, 1903, S. XIII.

The Daily Princetonian 26. Febr. 1897

Guilford College, Greensboro/NC 1927, S. 104f.

Logansport Pharos-Tribune 19. Okt. 1920

The Music Trade Review 1897, 12. Febr.

FritzschMW 1886, S. 567, 609, 649; 1887, S. 354; 1889, S. 257; 1890, S. 70

Der Klavier-Lehrer 1880, S. 5

Neue Freie Presse [Wien] 1886, 7. März, 9. Nov.; 1887, 14. Dez.; 1888, 6., 7. Apr.; 1889, 13. Jan., 20., 24., 28. März, 5. Apr.

New York Daily Tribune 4. Febr. 1897

New York Tribune 19. Sept. 1920

NZfM 1886, S. 549; 1887, S. 86; 1888, S. 25, 81; 1889, S. 279, 419; 1890, S. 139

Signale 1873, S. 424; 1874, S. 88; 1879, S. 1110; 1884, S. 193f.; 1886, S. 1177; 1887, S. 130; 1888, S. 131, 133, 468; 1889, S. 150, 468; 1890 S. 277, 355; 1891 S. 195; 1897, S. 279.

The Smith College Monthly, Bd. 12, 1904, S. 59

Catalog of Music-rolls for the Duo-art Reproducing Piano, New York 1924.

Lewis Carlisle Granniss, Connecticut Composers, Connecticut 1935.

Mark Hambourg, From Piano to Forte: A Thousand and One Notes, London 1931.

César Saerchinger (Hrsg.), International Whos Who in Music and Musical Gazetteer: A Contemporary Biographical Dictionary and a Record of the Worlds Musical Activity, New York 1918.

Angele Potocka, Theodore Leschetizky. An Intimate Study of the Man and the Musician, New York 1903.

Anton Seidel. A Memorial by His Friends, hrsg. von Henry T. Finck, New York 1899.

Hamburger Passagierlisten 1850-1934, auf http://search.ancestry.de/cgi-bin/sse.dll?db=hamburgpl_full&so=2&pcat=ROOT_CATEGORY&gsfn=Melanie&gsln=Wienzkowsky&gss=angs-g&sbo=2, Zugriff am 23. Nov. 2012.

Konzertprogramme der Wiener Philharmoniker 1861-1930, auf http://concertannals.blogspot.de/2010_10_01_archive.html, Zugriff am 21. Mai 2014.

Konzertprogramm Boston Symphony Orchestra 1897, auf http://www.worthpoint.com/worthopedia/boston-sym-program-1897-rafael-joseffy-m-wienzkowska, Zugriff am 21. Mai 2014.

Noten von Eduard Schütt, auf http://www.waltercosand.com/CosandScores/Composers%20Q-Z/Schuett,%20Edouard/, Zugriff am 21. Mai 2014.

 

Bildnachweis

The Columbia Literary Monthly (Columbia University), Band 12, 1903, S. 13

 

Kadja Grönke

 

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