Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

WieckWiek, (Johanna) Marie, Maria

* 17. Jan. 1832 in Leipzig, † 2. Nov. 1916 in Dresden, Pianistin, Sängerin, Klavier- und Gesangslehrerin, Komponistin. Sie war das zweite Kind von Friedrich Wieck (1785−1873), Klavier- und Gesangslehrer, Musikalienhändler, und seiner zweiten Frau Clementine geb. Fechner (1805−1893). Aus Wiecks erster Ehe mit der Pianistin Marianne Wieck geb. Tromlitz (1797−1872, später wiederverheiratete Bargiel) stammten u. a. Marie Wiecks Halbschwester, die Pianistin und Komponistin Clara Wieck verh. Schumann, sowie ihr Halbbruder Alwin Wieck (1822−1888), Violinist und Klavierlehrer. Marie Wieck blieb zeitlebens unverheiratet, schreibt aber selbst von einem „früh verstorbenen Verlobten“ (Wieck 1914, S. 296).

Ähnlich wie ihre Halbschwester Clara wuchs auch Marie Wieck in Leipzig in ein Familienambiente hinein, in dem sie aufgrund der sozialen und professionellen Kontakte des Vaters zahlreiche Künstler in den eigenen vier Wänden kennenlernte und musizieren hörte. Marie Wieck besuchte keine reguläre Schule, sondern erhielt Unterricht von Privatlehrern, wurde jedoch im Vergleich zu ihrer Schwester „intensiver in den Fremdsprachen unterwiesen“ (Köckritz, S. 189). Dennoch waren die Ausgangsvoraussetzungen der Schwestern verschieden: Denn während sich Vater Wieck einst der Ausbildung Claras schon früh sehr intensiv gewidmet hatte, erhielt Marie solch väterliche Aufmerksamkeit zunächst nicht, da Friedrich Wieck sich auch in den 1830er Jahren stark der Karriere der Älteren widmete und als ihr Reisebegleiter oft längere Zeit unterwegs war. Zudem nahmen seine Verpflichtungen als Musikalienhändler ein großes Zeitkontingent ein. So erhielt Marie Wieck im fünften Lebensjahr ihren ersten Klavierunterricht nicht vom Vater, sondern von dessen Schüler Louis Anger (1813−1870). Ab Okt. 1838 übernahm Friedrich Wieck die Ausbildung in schon bewährter Weise. „Obgleich Wieck bei der Unterweisung seiner zweitjüngsten Tochter über tiefergründige pädagogische Erfahrungen als bei der Ausbildung Claras verfügte, ähnelten sich die Unterrichtsinhalte, das methodische Vorgehen und das Übungsrepertoire im Wesentlichen“ (Köckritz, S. 189). Intensiviert wurde dieser Unterricht erst 1840 nach dem Umzug der Familie nach Dresden, unmittelbar nach der vom Vater bekämpften Heirat Clara Wiecks. Der Chronologie der Unterweisungen entsprechend entwickelte sich Marie Wieck im Vergleich zu ihrer Halbschwester, die bereits als Kind große öffentliche Erfolge feierte, pianistisch langsamer. Noch als Neunjährige war sie mit technischen Grundlagen beschäftigt und hatte, wie Cathleen Köckritz bemerkt, Schwierigkeiten mit dem Greifen von Akkorden und sogar dem Notenlesen. Doch rund ein Jahr später zeigte sich zunehmend der Erfolg von Friedrich Wiecks systematischem Unterricht. In dieser Zeit spielte sie Musik u. a. von Charles Mayer, Carl Czerny, Franz Hünten, Henri Herz und Frédéric Chopin und damit oft gefällig-virtuosen Charakters. „Die Auftritte in zahlreichen kleineren Gesellschaften wurden zu einem wichtigen Ausbildungsbestandteil“ (Köckritz, S. 190f.). Öffentlich debütierte Marie Wieck am 20. Nov. 1843. In Dresden spielte sie in einem von Clara Wieck veranstalteten Konzert mit dieser gemeinsam zwei Sätze aus der vierhändigen Sonate op. 47 von Ignaz Moscheles. Ihr erstes Solokonzert gab sie am 14. Febr. 1844 in Bischofswerda als Auftakt einer sehr langen Karriere, die erst wenige Monate vor ihrem Tod endete.

 

Lithographie von August Stecher, undatiert.

 

In den ersten Jahren ihrer Laufbahn waren die Konzerte noch sparsam dosiert und in einem räumlich geringen Radius platziert: 1845 konzertierte Marie Wieck im Leipziger Gewandhaus und in Dresden, 1846 erneut in der Elbmetropole und im ebenfalls sächsischen Freiberg, 1848 in Magdeburg und Leipzig (u. a. wieder im Gewandhaus). 1849 war sie in Bremen, Teplitz, Leipzig und mehrfach in Dresden zu hören, dort spielte sie ebenso wie in Berlin auch 1850. Die Karriere Marie Wiecks intensivierte sich nun spürbar, wobei Dresden, Wohnort der Wiecks, auch in den folgenden Jahren das Zentrum ihres Wirkens blieb. „Nachdem Schumanns 1850 nach Düsseldorf gezogen waren“ schreibt die Künstlerin selbst, „setzte ich Klaras Soireen in dem schönen Konzertsaale des Hotel de Saxe fort“ (Marie Wieck 1914, S. 257). 1851 war sie zudem erneut im Gewandhaus, aber auch in Frankfurt a. M., Baden-Baden und Zürich, 1852 wieder in Dresden und Leipzig zu hören. Im ersten Halbjahr 1853 konzertierte sie ausgiebig in Berlin, u. a. mit dem Geiger Eduard Singer. In den folgenden Jahren fokussierte Marie Wieck ihre Konzerttätigkeit weiterhin auf Leipzig und vor allem Dresden, wobei sie auch die kleineren Orte des sächsischen Umlands (Loschwitz, Blasewitz, Meißen, Schandau) besuchte. Daneben unternahm sie gelegentlich längere Exkursionen, etwa im Mai 1855 nach Wien. Sie musizierte nicht nur in Solokonzerten, sondern auch im Rahmen von Kammermusiksoireen gemeinsam mit prominenten Musikern der Zeit, etwa den Geigern Ferdinand David, Wilhelm Joseph von Wasielewski und Henryk Wieniawski, vor allem aber mit sächsischen Musikern.

1859 unternahm Marie Wieck gemeinsam mit Clara Schumann eine erste Reise nach London und konzertierte dort teilweise mit der Halbschwester, Julius Stockhausen und Joseph Joachim. Neben ausgiebiger Konzerttätigkeit widmete sie sich auf der Insel dem Unterrichten. Im Gegensatz zu Clara Schumann, die nach einiger Zeit wieder auf den Kontinent zurückkam, kehrte Marie Wieck erst 1860 „nach fast einjährigem Aufenthalte“ (NZfM 1860 II, S. 162) in den deutschsprachigen Raum zurück.

Schon auf dem Rückweg konzertierte sie wieder mit Clara Schumann, die sich in Bad Kreuznach zur Kur aufhielt. „Solche künstlerische Vereinigungen der beiden Schwestern zu Konzerten wiederholten sich oft“ (Marie Wieck 1914, S. 279). Weitere Gelegenheiten für diese Auftritte fanden sich 1860 in Berlin, 1861 wieder in Bad Kreuznach. In jenen Jahren konzentrierte sich Marie Wieck erneut auf Leipzig, Berlin und besonders Dresden. So spielte sie 1862 in Dresden Beethovens Tripelkonzert op. 56 mit Johann Christoph Lauterbach und Friedrich Grützmacher.

1864 begab sich Marie Wieck erneut nach London. Hier konzertierte sie u. a. mit Henri Wieniawski und dem Harfenisten Karl Oberthür. Auch bei ihrem nächsten Aufenthalt an der Themse spielte die Pianistin mit Oberthür und nahm SchülerInnen „either for the pianoforte or singing“ (MusW 1865, S. 252) an. Offensichtlich waren die Aufenthalte in London besonders lukrativ. Marie Wieck erinnert sich: „Immer wieder trieb mich die Sehnsucht nach Dresden zurück, und so nutzte ich die Gelegenheit, die mir in London geboten war, durch Konzerte und hoch bezahlte Stunden Reichtümer zu erwerben, was mir ein leichtes gewesen wäre, nicht genug aus“ (Wieck 1914, S. 283f.). Auf dem Rückweg von London machte sie in Paris Station und besuchte Gioachino Rossini in Passy.

Schon im folgenden Jahr brach Marie Wieck, die zunehmend „fremde Länder und Menschen kennen lernen wollte“ (Marie Wieck 1914, S. 291), nach Italien auf, wo sie durch entsprechende Programmgestaltung „in Florenz bemüht [war], deutsche Musik einzubürgern“ (NZfM 1866, S. 390). In Italien besuchte sie u. a. Rom und Neapel. Weitere Reisen führten sie 1869 mit der Sängerin Theodora Schmidt zunächst nach Hamburg, dann in den Ostsee-Raum (Elbing, Königsberg, Tilsit, Memel). Im Okt. 1870 startete sie zu einer ausgiebigen Tournee durch das Baltikum (Mitau, Riga, Dorpat, Reval) und nach Petersburg, wo sie mehrmals mit Hendryk Wieniawski auftrat. 1871 fuhr sie in die Schweiz „und gab in verschiedenen Kantonen Konzerte“ (Wieck 1914, S. 298). Auftrittsorte waren Zürich, Burgdorf, Neuchâtel, Genf, Basel und Schaffhausen. In Zürich lernte sie u. a. Mathilde Wesendonck kennen. 1873 spielte sie in Wien und reiste von dort aus nach Kroatien. Im folgenden Jahr hielt sie sich in Leipzig und Dresden auf und trat u. a. in Darmstadt vor das Publikum. 1875 finden sich Nachweise für Konzerte in Straßburg und Homburg v. d. Höhe, 1876 war sie am Mecklenburger Hof zu Gast, 1877 konzertierte sie im deutschen Westen (Düsseldorf, Aachen, Köln); bereits im Mai dieses Jahres vermeldet die „Musical World“, „Marie Wieck is making a concert tour in Italy“ (MusW 1877, S. 337). Am Ende jenes Jahres war sie in Paris. 1878 tourte sie an der  französischen und italienischen Mittelmeerküste, noch im Winter sind Auftritte in Nizza und Genua verzeichnet. 1879 und 1880 stand dann die erste Skandinavien-Reise Marie Wiecks auf dem Tourplan. In Kopenhagen traf sie den dänischen Nationalkomponisten Nils W. Gade und wirkte in Konzerten mit. In Stockholm spielte sie in einem von Ludvig Normann geleiteten Abonnementskonzert und gab Rezitals. Ihr wurde eine Lehrstelle am staatlichen Konservatorium angeboten, „doch ich ging, meine Freiheit vorziehend, nicht darauf ein“ (Wieck 1914, S. 318). In Uppsala, wo sie mit dem Geiger Paul Viardot (Sohn Pauline Viardot-Garcias) konzertierte, brachte „ihr der akademische Verein eine glänzende Ovation“ (Bock 1879, S. 414). Dem schloss sich ein Aufenthalt in Oslo an.

Nach dieser ersten offensichtlich erfolgreichen Reise in den Norden wurde Skandinavien in den nächsten Jahrzehnten ein wesentlicher Wirkungsraum Marie Wiecks. Bereits 1881 war sie, nach einem  Konzert in Hamburg „für besonders großes Honorar“ (Wieck 1914, S. 320) und einem Besuch in Königsberg, wieder im Norden zu Gast und spielte in Dänemark, Schweden und (dem damals noch nicht von Schweden gelösten) Norwegen. Diesmal begann sie ihre Konzerte in Falun (in der zentralschwedischen historischen Provinz Dalarna), wandte sich westwärts ins heutige Norwegen und spielte zunächst in Trondheim, dann in Bergen, wo sie Edvard Grieg traf. „Grieg brachte meinen beiden Konzerten in Bergen viel Interesse entgegen und spielte mir in seinem Hause manche seiner Kompositionen vor“ (Wieck 1914, S. 321). Zu den weiteren Konzertorten zählten Stockholm (wo sie u. a. mit dem Violoncellisten Auguste Tolbecque auftrat), Oslo und Göteborg. Die bis 1882 andauernde Tournee verlief günstig: „Marie Wieck aus Dresden, Schwester von Clara Schumann, concertirt wiederum mit vielem Erfolge in Schweden und Dänemark“ (NZfM 1881, S. 462). „Marie Wieck (sister to Clara Schumann) is still giving concerts in the North of Europe. In Stockholm especially she is exceedingly popular“, schreibt die Musical World 1882 (MusW 1882, S. 294). Auch in den folgenden Jahren bereiste Marie Wieck mehrmals Skandinavien (z. B. 1884 und 1886), u. a. mit „vielen und langen Aufenthalten in Stockholm“ (Wieck 1914, S. 328); sie erteilte dort nun Unterricht, musizierte aber auch mit Anderen gemeinsam, darunter auch Instrumentalistinnen. 1886 gab sie „in Stockholm einen Schumannabend […], was dort noch etwas neues war“ (ebd.). In einem Klaviertrio Schumanns „wirkte eine dort sehr bekannte Cellistin, Frl. [Walborg] Lagerwall, mit. Im April 1889 bekam ich ganz überraschend von dem Impressario [sic] Lomberg ein Engagement für zwölf Konzerte mit der Violinistin [Gabriele] Wietrowitz, die ihre herrlichen Geigenstücke selbst während der Eisenbahnfahrt übte. Die Flügel fand ich in den von uns bereisten kleinen schwedischen Städten überall fürchterlich, so daß ich meine Konzertkollegin oft beneidete“ (ebd.). Während dieser Reisen entwickelte Marie Wieck offensichtlich eine starke skandinavophile Neigung. So unternahm sie nach dem Tod ihrer Mutter eine Schwedenreise, bei der sie zwar unterrichtete, die aber ohne öffentliche Auftritte wohl auch der eigenen Erholung diente. Aus Schweden ließ sich Marie Wieck schließlich gar eine Holzvilla nach Sachsen liefern, um diese in Hosterwitz nahe Dresden von schwedischen Bauleuten als Wohnhaus für sich errichten zu lassen.

Während sie in Dresden zwischen den Reisen ihren üblichen musikalischen Beschäftigungen nachging − „eigenes Studium, Unterricht und Aufführungen im eigenen Hause“ (Wieck 1914, S. 324) − und weiterhin in Deutschland auftrat (z. B. 1891 in Tübingen, Heilbronn, Rottweil, am Hof in Sigmaringen gegen „fürstliches Honorar“, Wieck 1914, S. 331), stellte die Pianistin bei ihren Auslandsreisen den skandinavischen Konzertorten (auch 1899 ausgedehnt, u. a. in Stockholm, Oslo) bald wieder Ziele in Italien entgegen. Zwischen den Skandinavien-Reisen von 1884 und 1886 spielte Marie Wieck, „welche seit längerer Zeit in Italien weilt“ (NZfM 1885, S. 232), 1885 zunächst in Rom (u. a. in der deutschen Botschaft und vor Königin Margarethe von Italien), später auch in Florenz, Genua und Turin. Dort musizierte sie u. a. mit zwei bekannten italienischen Violinistinnen der Zeit: Mit Teresa Ferni und einem Cellisten Casella spielte sie am 5. Juni 1885 ein Klaviertrio Mendelssohns, mit Teresina Tua schon am Tag darauf eine Klavier-Violin-Sonate Beethovens sowie Henryk Wieniawskis Légende op. 17. Auch 1892 ließ sie sich in Turin hören. Marie Wieck blieb bis ins Alter hinein künstlerisch wirksam und hielt auch ihre Reisetätigkeit aufrecht. So unternahm sie beispielsweise 1900 eine Konzertreise nach Prag und spielte 1902 in Zwickau, 1906 war sie in Jena, 1910 trat sie in Berlin, Hannover und Zwickau auf. Ihre beiden letzten öffentlichen Konzerte gab sie in Dresden am 4. Dez. 1915 und 15. Jan. 1916.

 

 

Zu den Rahmenbedingungen von Marie Wiecks künstlerischer Tätigkeit wie auch ihrer Rezeption gehörten die Familienverhältnisse: Als Tochter eines hoch renommierten Klavierlehrers und als Halbschwester der wohl angesehensten Pianistin des 19. Jahrhunderts dürfte sie einerseits von den Assoziationen profitiert haben, die der Name Wieck bei Publikum und Kritik auslöste. Der Name der Halbschwester diente dabei durchaus als Werbemittel, etwa 1865 in London, als sie sich in einer Werbeanzeige potenziellen SchülerInnen als „Mdlle. Marie Wieck, sister of Mde. Schumann“ (MusW 1865, S. 252) vorstellte. Andererseits war sie häufig Vergleichen mit Clara Schumann ausgesetzt. Auch diese konnte, nach einer kurzen Bewertung von Marie Wiecks Spiel, 1845 der Verlockung des Vergleichs nicht widerstehen: „Sie hat alles, was ein Unterricht wie der vom Vater ausrichten kann […,] doch es fehlt ihr der Spiritus, mir kommt ihr Spiel immer maschinenmäßig vor, immer unlustig, und dann fehlt es ihr auch noch sehr an Kraft und Ausdauer. Ich hatte wohl auch keine Lust als Kind, spielte ich aber vor, oder gar öffentlich, so kam doch immer ein Animus in mich; was mir aber vorzügliche Sorge machte, war, daß es ihr noch an mechanischer Fähigkeit fehlt, und bedenken muß man, daß das Publicum seit der Zeit, wo ich als Kind reiste, ganz andre Ansprüche an Leistungen von Kindern zu machen gelernt hat; was jetzt Kinder oft leisten, ist ja eminent, und das ist bei Marie nicht der Fall − sie spielt gut, aber nicht ausgezeichnet“ (zit. nach Litzmann Bd. 2, S. 97). Friedrich Wieck sah dies anders − er urteilte 1856, Marie habe „einen Aufschwung genommen auch in [sic] Klavierspiel, daß ich sie allen Meistern auch der Clara vorziehe“ (Brief an Minna Günther, 9. Febr. 1856, zit. nach Köckritz, S. 196). Früh begannen die Vergleiche auch in der Öffentlichkeit, etwa 1844 in der „Allgemeinen Wiener Musik-Zeitung“, nach der die „talentvolle Schwester der berühmten Clara Wiek (Schumann) […] in deren Fußstapfen zu treten“ scheint (AWM 1844, S. 148). Solcherlei Hinweise, in denen die ältere Schwester als erstrebenswerte Referenz bezeichnet wird, finden sich mehrmals, sie minderten in der öffentlichen Wahrnehmung selbst im Idealfall des höchstmöglichen Kritiker-Lobes die persönliche künstlerische Identität: „Fräulein Marie Wieck, sechzehn Jahre alt, zeigte sich als würdige Schwester der Frau Klara Schumann“ (AmZ 1848, Sp. 763). Selbst bei der konkreten Schilderung der pianistischen Meriten Marie Wiecks wurden diese bisweilen auf die Halbschwester gespiegelt: „Frl. Wieck, die Schwester der genialen Clara Schumann, besitzt deren seelenvollen Vortrag, die vollendete Technik und ein kräftiges, gesundes, das Herz erfreuendes Spiel“ (Bock 1850, S. 68). Bisweilen fiel der Vergleich hingegen vernichtend aus: „Sie ist eine recht schätzbare und angenehme Pianistin, aber die Mutter Natur hat sie ihrer geist- und poesievollen Schwester ganz ungleich gebildet und ihr mehr Phlegma zur Mitgift gegeben, als einer Künstlerin zuträglich ist“ (NZfM 1855 II, S. 18).

Künstlerische Eigenständigkeit errang die 1857 als Fürstlich-Hohenzollersche Hof- und Kammervirtuosin ausgezeichnete Marie Wieck dennoch. Dabei kam ihr das offenkundig erstklassige Klavierspiel zugute, dessen Qualität jenseits aller Vergleiche oft genug bescheinigt wurde. Aus den vielen hoch lobenden Konzertkritiken sei exemplarisch auf eine Rezension verwiesen, die im „Dresdener Journal“ erschien, 1850 von der „Neuen Zeitschrift für Musik“ übernommen wurde und insbesondere die spezifische Anschlagsqualität Marie Wiecks thematisiert: „Ein elastisches, so kräftiges als zartes Toucher, ein schöner, nie übernommener Ton, die vollkommenste Klarheit, Präcision und correcte Sauberkeit der Ausführung vereinigen sich in ihrem Spiel mit einer fein musikalischen, künstlerischen und geschmackvollen Durchbildung des Vortrags“ (zit. nach NZfM 1850 II, S. 196). Mittel für diese Spielweise war ein hoch anspruchsvolles Programm mit Werken von Kullak, Schulhoff, Chopin, Mendelssohn und Beethoven, in dem „jenes modern virtuose Haschen nach überreizten Effecten, jenes unruhige Zerreißen des Tempos, jenes eitle Geltendmachen der forcirten Subjectivität auf Kosten des guten Geschmacks der jungen Virtuosin fern liegt, und dagegen eine naive, anmuthige, ruhige Einfachheit, die sich auch in der persönlichen Erscheinung ausspricht, ein wesentliches Moment im Charakter ihrer Leistung bildet“ (ebd.). Anspruchsvolle Programmgestaltung gehörte zu den Markenzeichen Marie Wiecks, die über ein weites Repertoire verfügte, in dem sich u. a. Werke Scarlattis, Mozarts, Beethovens, Webers, Chopins und Liszts, aber auch von Dussek, Field, Schulhoff und Rubinstein befanden. Auch der Pflege der Werke ihres Schwagers verschrieb sich Marie Wieck. Gerade in Skandinavien übernahm sie hier Pionierarbeit und hatte, wie Cathleen Köckritz feststellt, „viel Erfolg […] mit Robert-Schumann-Abenden, in welchen sie Klaviermusik des Komponisten vorstellte“ (Köckritz S. 197).

Schon in jungen Jahren begann Marie Wieck, selbst Klavierunterricht zu geben, indem sie ihrer jüngeren Schwester Cäcilie, 1847 dann ihrer Nichte Marie Schumann einige Lektionen erteilte. Klavierunterricht gab Marie Wieck indes nicht nur im heimischen Dresden. Während ihrer London-Aufenthalte unterrichtete sie, aber auch in Skandinavien war sie als Lehrerin tätig, das Unterrichten gehörte bei Marie Wieck zu den zentralen Bestandteilen ihres professionellen Profils, und gerade im Norden trug sie damit zur Verbreitung der väterlichen Methodik bei. Marie Wieck wurde, wenn auch erst 1914, vom sächsischen Ministerium des Inneren der Titel einer Professorin der Musik verliehen.

Deutlich im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Betätigung stand das Klavierspiel, doch Marie war Wieck auch als Sängerin konzertreif ausgebildet worden. „Ich hatte […] sehr ernstliche und gründliche Gesangstudien bei meinem unermüdlichen Vater gemacht, und brachte es trotz nicht großer Stimme doch so weit, daß ich in vielen meiner Konzerte meine eigene Mitwirkung als Sängerin sein konnte“ (Wieck 1914, S. 270). Ab Mitte der 1850er und in den 1860er Jahren ließ sie sich entsprechend vokaliter in der Öffentlichkeit hören. Danach wurde auch der Gesang zu einem Gegenstand ihrer pädagogischen Tätigkeit.

Marie Wiecks Lebensleistung ist indes keineswegs auf das Musizieren zu reduzieren. So war sie selbst als Komponistin tätig, engagierte sich für die 1871 gegründete, den musikalischen Nachwuchs fördernde Wieck-Stiftung und gab Lehrwerke ihres Vaters heraus. Ihr Engagement um die Darstellung und Aufarbeitung der Familiengeschichte − geschehen etwa durch die Veröffentlichung einer Monographie („Aus dem Kreise Wieck-Schumann“, 1912 erstmals erschienen, neu aufgelegt und erweitert 1914) − zeugt vom Bewusstsein um das öffentliche Interesse an der Familie wie auch vom Wunsch, eben dieses Interesse zu steuern. Wenn Marie Wieck dabei insbesondere um das „Ansehen ihres Vaters, das besonders durch die hartnäckige Verweigerung der Zustimmung zur Ehe zwischen Clara Wieck und Robert Schumann gelitten hatte, aufzubessern“ (Köckritz S. 199) bemüht war und dazu auch mit anderen Autoren (etwa Joseph von Wasielewski) in Kontakt trat, so standen ihre Aktivitäten nicht immer im Einklang mit den Interessen Clara Schumanns. Deutlich wurde dies schon 1888, als Adolf Kohuts Monographie über Friedrich Wieck erschien − ein Buch, zu dem Marie Wieck dem Autor einige mit der Halbschwester gewechselte Briefe zur Verfügung stellte, ohne diese gefragt zu haben. „Besonders aber verletzte sie [Clara Schumann] der Abdruck der von Ernestine von Fricken an sie [Clara] gerichteten Briefe“ (Litzmann Bd. 3, S. 503, Fußnote). Das Verhältnis der Töchter Friedrich Wiecks untereinander dürfte dies nicht befördert haben.

 

Marie Wieck mit Vater und Halbschwester; Stich von August Weger, undatiert.

 

WERKE FÜR KLAVIER (mit anderen Instrumenten)

Zwei Abendlieder (Dichtungen von Emanuel Geibel, Singstimme u. Klavier) (NA: Körborn 2012); Drei Etüden für die linke Hand (NA: Körborn 2010); Traugesang für eine Sopranstimme mit Klavier oder Orgel (NA: Körborn 2013); Fantasie über skandinavische Volkslieder (Violoncello und Klavier) (NA: Körborn 2012); Am Springbrunnen (vierhändig von Robert Schumann, arrangiert für zwei Hände); Gigue von Haeßler, neu revidiert

 

EDITIONEN

Pianoforte-Studien von Friedrich Wieck, Leipzig [1875]; Friedrich Wieck’s Singübungen, Leipzig [1877]

 

LITERATUR (Auswahl)

Marie Wieck, Aus dem Kreise Wieck − Schumann, Dresden 2. Aufl.  1914.

Robert Schumann, Tagebücher, Bd. I: 1827−1838, hrsg. von Georg Eismann, Basel 1988.

Robert Schumann, Tagebücher, Bd. II: 1836−1854, hrsg. von Gerd Neuhaus, Leipzig 1987.

Clara Schumann/Robert Schumann, Briefwechsel. Kritische Gesamtausgabe, 3 Bde., hrsg. von Eva Weissweiler, Basel 1984−2001.

AmZ 1864, Sp. 633, 702; 1871, Sp. 811f.; 1877, Sp. 412f.; 1879, Sp. 686

Athenæum 1859 I, S. 621, 654; 1860 I, S. 276, 656; 1864 I, S. 345, 379, 813, 843, 877; 1869 II, S. 214; 1871 I, S. 249

AWM 1844, S. 148; 1846, S. 616

Bock 1868, S. 360; 1869, S. 270, 380, 414; 1870, S. 32

Critic 1860, Bd. 20, S. 182

Dresdner Nachrichten 24. Mai 1914

Literary Gazette 1860, S. 251

MusT 1880 Bd. 21, S. 35; 1881 Bd. 22, S. 648; 1886 Bd. 27, S. 296; Bd. 37 1896, S. 450; Bd. 43 1902, S. 194, 486; 1903 Bd. 44, S. 123

MusW 1855, S. 317, 794; 1856, S. 199; 1859, S. 357; 1860, S. 96, 282, 284, 405; 1862, S. 162; 1864, S. 97, 293, 381; 1865, S. 252, 407; 1870, S. 249; 1871, S. 63; 1874, S. 845; 1876, S. 89, 330, 723; 1877, S. 71, 186, 337, 821; 1879, S. 682, 798; 1881, S. 245, S. 798; 1882, S. 294, 662; 1883, S. 495, 691; 1884, S. 646; 1885, S. 323, 390, 550, 559

NZfM 1851 I, S. 29, 65, 147; 1851 II, S. 69, 202; 1852 I, S. 22, 34, 89; 1852 II, S. 269; 1853 I, S.106, 142, 220; 1853 II, S. 243; 1854 II, S. 273; 1855 I, S. 107; 1855 II, S. 18; 1856 I, S. 83f., 151, 218, 225; 1856 II, S. 218, 273; 1857 I, S. 33, 79, 218; 1858 I, S. 84, 86, 147; 1858 II, S. 103, 181, 215; 1859 I, S. 21, 32, 238, 249, 286; 1860 I, S. 111, 179, 215; 1860 II, S. 162; 1861 I, S. 26, 185; 1862 I, S. 67, 83; 1862 II, S. 126, 150, 180, 227, 235; 1863 I, S. 42; 1864 I, S. 56; 1864 , S. 165, 167, 247, 379, 407; 1866, S. 390, 445; 1867, S. 50, 371; 1868, S. 5; 1869, S. 5, 7, 23, 234, 411; 1870, S. 55f., 90, 118; 1871, S. 9, 18, 66, 498; 1873, S. 14, 493; 1874 I, S. 91, 351, 519f.; 1875, S. 457; 1876, S. 138; 1877, S. 499, 521; 1878, S. 28, 83, 538; 1880, S. 96; 1881, S. 164, 462; 1886, S. 177, 289; 1887, S. 489; 1888, S. 50; 1889, S. 233; 1892, S. 276; 1893, S. 285, 466 f.; 1894, S. 253; 1895, S. 253, 540, 471, 535

Orchestra 1864, S. 411; 1866, S. 120; 1869, S. 342

Rheinische Musik-Zeitung 1851, S. 367, 495, 614; 1852, S. 760, 1013f.; 1853, S. 1141, 1435, 1438; 1854, S. 118f., 398; 1855, S. 148, 292f., 406; 1856, S. 78, 149;1858, S. 68

Signale 1850, S. 93, 307, 412; 1851, S. 70, 117, 124, 299f.; 1852, S. 416; 1853, S. 365; 1854, S. 20, 387f.; 1855, S. 180; 1856, S. 147; 1860, S. 108; 1862, S. 118, 136; 1864, S. 505; 1865, S. 493; 1866, S. 941; 1867, S. 47; 1869, S. 99, 871, 1047, 1050; 1870, S. 26, 793; 1871, S. 793; 1872, S. 324, 648; 1873, S. 12; 1874, S. 531, 916; 1878, S. 71, 225, 312; 1879, S. 1032; 1880, S. 340; 1881, S. 486, 1126; 1882, S. 806; 1883, S. 950; 1884, S. 540; 1892, S. 664; 1894, S. 526; 1898, S. 8; 1899, S. 776

Schla/Bern, Mendel, RudolphRiga, Baker 1, Grove 5, Baker 5, Sartori Enci, New Grove, Cohen, Baker 7, MGG 2000, New Grove 2001

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Stephanie Hodde-Fröhlich, Beruf: Pianistin. Facetten kulturellen Handelns bei Marie Wieck (1832−1916) und Sofie Menter (1846−1918), Diss. phil. Hochschule für Musik, Theater und Medien Hannover 2017, Hannover 2018.

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Bildnachweis

Sammlung Manskopf der Goethe Universität Frankfurt, http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2003/7902516/, Zugriff am 18. Apr. 2012.

Sammlung Manskopf der Goethe Universität Frankfurt, http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2003/7902514/, Zugriff am 18. Apr. 2012.

Schumann-Portal, http://www.schumann-portal.de/pgcms/output.php?PAGE_ID=1524&PHPSESSID=136163c32ff74962d8016d3a46207266, Zugriff am 18. Apr. 2012.

 

Volker Timmermann

 

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