Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

LevyLeviLöwy, Sara, Sarah (Zerelche, Zerline), geb. Itzig

* 19. Juni 1761 in Berlin, † 11. Mai 1854 ebd., Cembalistin, Mäzenin und Musikaliensammlerin. Sie war das zehnte Kind des vermögenden jüdischen Bankiers Daniel Itzig (1723–1799) und seiner Frau Mariane (Miriam) geb. Wulff (1725–1788), die Schwester von Fanny ArnsteinCäcilie von Eskeles (Zippora Wulff) und Bella Salomon, der Großmutter von Fanny Hensel und Felix Mendelssohn Bartholdy. In ihrem Elternhaus erhielt sie eine umfassende Bildung. Zu ihren Lehrern gehörten Moses Mendelssohn (1729–1786) und Wilh. Fr. Bach (1710–1784). Letzterer unterrichtete sie von 1774 bis 1784. Sie gilt als seine einzige Berliner Schülerin. Mit Sicherheit hat sie auch schon vorher hochqualifizierten Klavierunterricht erhalten. Bereits die älteren Schwestern Hanna und Bella wurden im musikalischen Elternhaus, in dem ein „förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus“ betrieben wurde (Weissmann, S. 36), vom Bach-Schüler Kirnberger unterrichtet. Im Hause der Familie Itzig waren bedeutende Musiker zu Gast, neben Wilh. Fr. Bach auch die Pianistin und Komponistin Maria Theresia Paradis.

Am 2. Juli 1783 heiratete Sara Itzig den reichen Berliner Bankier Salomon Levy (1760–1806). Wilh. Fr. Bach schrieb anläßlich ihrer Hochzeit die Kantate Cantilena nuptiarum consolatoria (Herz, mein Herr, sei ruhig, F 97). Nach ihrer Heirat führte Sara Levy einen Salon, in dem sie selbst als Pianistin auftrat. Zwar galt ihr Hauptinteresse der Musik, doch waren neben MusikerInnen wie Zelter, Felix und Fanny Mendelssohn auch DichterInnen und Wissenschaftler zu Gast, darunter E. T. A. Hoffmann, Bettina Brentano, Ludwig Börne, Gustav Droysen, Friedrich Schleiermacher und Johann Gottlieb Fichte.

In den 1790er Jahren trat sie gemeinsam mit ihrer Schwester Zippora (Cäcilie) in Konzerten auf, die ihre älteste Schwester Hanna (1748–1801) und deren Ehemann Dr. Joseph Fließ (1746–1822) in ihrem Haus veranstalteten. Weitere Auftrittsmöglichkeiten boten sich ihr durch die 1791 von Karl Christian Friedrich Fasch gegründete Berliner Sing-Akademie, wo sie oft solistisch konzertierte. Im Jahre 1807 gründete Carl Friedrich Zelter dort die sogenannte Ripienschule, eine Organisation, die es sich zum Zweck gesetzt hatte, alte Orchestermusik zu pflegen. Hans Uldall, der seinerzeit Zugang zu Übungslisten der Ripienschule hatte, berichtet: „Die [öffentlichen] Übungsstunden fanden jeden Freitag statt in den Jahren 1807–1815, mit Ausnahme der Franzosenzeit. Das Programm bestand jedesmal aus einer Ouvertüre oder Sinfonie, einem Klavierkonzert, einer Arie oder einem anderen Konzert und nochmals einer Sinfonie. Das Klavierkonzert wurde immer von der Mad. Levy […] gespielt, und zwar kamen zur Hauptsache Konzerte von Phil. Em. Bach zu Gehör, aber auch die Namen Müthel, Friedemann Bach, Joh. Seb. Bach und Nichelmann sind, wie die Listen zeigen, noch nicht vergessen. Konzerte der großen Wiener Meister sind überhaupt nicht gespielt worden. Das einzige, was von den Wiener Meistern zur Aufführung gelangte, sind Chorwerke. In der reinen Instrumentalmusik wurzelt diese Ripienschule noch ganz und gar in der 60 Jahre zurückliegenden alten Berliner Schule. Außer den vorgenannten Meistern werden die Namen Janitsch, Graun, Quantz, Hasse, auch auch Händel und Vivaldi oft in den Listen erwähnt“ (Uldall, S. 112). Für die Jahre 1807 und 1808 sind Konzerte belegt, bei denen Sara Levy in Joh. Seb. Bachs Cembalokonzert d-Moll BWV 1052 sowie im (später so genannten) 5. Brandenburgischen Konzert für Cembalo, Flöte und Violine D-Dur BWV 1050 mitwirkte. Ein letztes Konzert ist 1831 belegt, in dem sie die Cembalo-Partie in Bachs Tripelkonzert a-Moll BWV 1044 spielte. Nach 1831 zog sich Sara Levy aus dem Konzertleben zurück.

Ihre umfangreiche Musikaliensammlung überließ sie nach Beendung ihrer pianistischen Karriere der Berliner Singakademie. Sie bildet eine bedeutende Quelle zur Musikgeschichte Berlins in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. Im 2. Weltkrieg wurde das Archiv der Berliner Sing-Akademie – und damit auch der Großteil der Sammlung Sara Levys – von der roten Armee als Kriegsbeute konfisziert. Erst 1999 wurde es von Christoph Wolff in Kiew wiederentdeckt und 2001 nach Berlin überführt.

Die Musikaliensammlung Sara Levys enthält Autographen (u. a. von Phil. Em. und Wilh. Fr. Bach), Abschriften dreier Schreiber („Anonymus Itzig 9, „Anonymus Itzig 12, „Neruda IHenzel, S. 70) und zeitgenössische Drucke. Neben ihrer bekannten Vorliebe für die Werke der Musikerfamilie Bach zeigt sich eine klare Präferenz für die Werke der Brüder Johann Gottlieb und Carl Heinrich Graun. Unter den kopierten Werken sind zahlreiche Gattungen vertreten, u. a. auch ca. 100 Symphonien.

Sara Levy unterstützte ihren Lehrer Wilh. Fr. Bach in den letzten zehn Jahren seines Lebens. Nach seinem Tod nahm sie Kontakt zu seinem Bruder Carl Ph. Em. Bach auf und gab bei ihm mehrere Werke in Auftrag, von denen das Bekannteste das Doppelkonzert in Es-Dur für Cembalo, Klavier und Orchester (Wq 47; H 479, 1788) ist. Weitere Auftragskompositionen waren drei Werke, die mit Quartett fürs Klavier, Flöte und Bratsche überschrieben sind (Wq 93–95, H 537–539, 1788). Carl Ph. Em. Bach fasst diese Werke (die eigentlich Trios sind) als Quartette auf, da sie vier kontrapunktische Stimmen enthalten (Fl, Vla, linke und rechte Klavierhand).

Sara Levys leidenschaftlicher Einsatz für die Musik Joh. Seb. Bachs ist besonders bemerkenswert, da diese nicht dem Zeitgeschmack entsprach und nur in Kenner-Kreisen gepflegt wurde. Erst 1829 gelang es ihrem Großneffen Felix Mendelssohn, mit der Aufführung der Matthäus-Passion in der Berliner Singakademie eine Bach-Renaissance einzuleiten.

Die Ehe mit Salomon Levy, der schon 1806 starb, blieb kinderlos, doch erzog Sara Levy drei verwaiste Neffen. Wie ihre Schwestern zeigte sie ein großes soziales Engagement. Sie setzte sich für die Berliner Waisenhäuser ein und vermachte diesen nach ihrem Tod 20.000 Taler. Anders als die meisten ihrer Verwandten, die zum Christentum konvertierten, blieb sie dem jüdischen Glauben Zeit ihres Lebens treu.

 

LITERATUR

Allgemeine Zeitung des Judenthums 29. Mai 1854, S. 268

AmZ 1811, Sp. 204

Der Humorist 1854, S. 480

Illustrirte Zeitung [Leipzig] 1854 I, S. 326

Morgenblatt für gebildete Stände 18. Juni 1854, S. 594

Die Neuzeit 21. Febr. 1862, S. 90–92, 31. März 1865, S. 148f.

Spazier, 9. März 1793, S. 18

MGG 1, New Grove 1, New Grove 2001, MGG 2000

Ludwig Rellstab, Aus meinem Leben, 2 Bde., Bd. 1, Berlin 1861.

Meyer Kayserling, Die jüdischen Frauen in der Geschichte, Literatur und Kunst, Leipzig 1879, Repr. New York 1980.

Nahida Remy, Das jüdische Weib. Leipzig ³1892, Repr. Frankfurt a. M. 1999.

Adolf Weissmann, Berlin als Musikstadt, Berlin [u. a.] 1911.

Hans Uldall, Das Klavierkonzert der Berliner Schule mit kurzem Überblick über seine allgemeine Entwicklungsgeschichte und spätere Entwicklung (= Sammlung musikwissenschaftlicher Einzeldarstellungen 10), Leipzig 1928.

Georg Schünemann, „Die Bachpflege der Berliner Singakademie“, in: BJ 25 (1928), S. 138–171.

Ernst Fritz Schmid, Carl Philipp Emmanuel Bach und seine Kammermusik, Kassel 1931.

Georg Schünemann, Die Sing-Akademie zu Berlin 1791–1941, Regensburg 1941.

Siegmund Kaznelson, Juden im dt. Kulturbereich, Berlin 1962.

Hilde Spiel, Fanny von Arnstein oder Die Emanzipation. Ein Frauenleben an der Zeitenwende 1758–1818, Frankfurt a. M. 1962.

Hermann Ullrich, „Maria Theresia Paradis’ große Kunstreise (1783–1786)“, in: Beiträge zur Musikwissenschaft 6 (1964), S. 129–142.

Martin Falck, Wilhelm Friedemann Bach, Hildesheim [u. a.] 1977.

Karl Geiringer, Die Musikerfamilie Bach. Musiktradition in sieben Generationen, München ²1977.

Petra Wilhelmy, Der Berliner Salon im 19. Jahrhundert 1780–1914 (= Veröffentlichungen der historischen Kommission zu Berlin 73), Berlin 1989.

Peter Wollny, Ein förmlicher Sebastian und Philipp Emanuel Bach-Kultus. Sara Levy, geb. Itzig und ihr literarisch-musikalischer Salon, in: Musik und Ästhetik im Berlin Moses Mendelssohns, hrsg. von Anselm Gerhard (= Wolfenbütteler Studien zur Aufklärung 25), Tübingen 1999, S. 217–249.

Ders., „Sara Levy and the Making of Musical Taste in Berlin, in: MQ 4 (1993), S. 651–688.

Christoph Henzel, „Die Musikalien der Sing-Akademie zu Berlin und die Berliner Graun-Überlieferung, in: Jahrbuch des Staatlichen Instituts für Musikforschung (2002), S. 60–106.

"Bach-Kultus" in Berlin um 1800. Sara Levy und ihr musikalischer Salon. Ausstellung im Gartenhaus des Mendelssohn-Hauses Leipzig vom 30. Okt. bis 15. Dez. 2002, Leipzig [2002].

Christoph Wolff, „A Bach Cult in Late-Eighteenth-Century Berlin : Sara Levy’s Musical Salon“, in: Bulletin of the American Academy 1 (2005), S. 26–30.

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Peter Schleuning, Fanny Hensel geb. Mendelssohn. Musikerin der Romantik (= Europäische Komponistinnen 6), Köln [u. a. ] 2007.

Internetseite des Auswärtigen Amtes,http://www.auswaertigesamt.de/diplo/de/Aussenpolitik/Kulturpolitik/ZieleUndPartner/BerlinerSing-Akademie.html Zugriff am 10. Sept. 2007.

Thekla Keuck, Hofjuden und Kulturbürger. Die Geschichte der Familie Itzig in Berlin, Göttingen 2011.

Rebecca Cypess u. Nancy Sinkoff, Sara Levy's World. Gender, Judaism, and the Bach Tradition in Enlightenment Berlin, Rochester/NY 2018.

 

 

Bildnachweis

Wolff, S. 26 und S. 29

 

Hanna Bergmann/FH

 

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