Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

DecknerDekner, Charlotte, Carlotta

* 1846 in Nagy Bittse (Ungarn), † 25. Mai 1887 in Lugos (Ungarn), Violinistin, Bratschistin, Violinlehrerin. In Lugos, wohin die Familie bald zog, erhielt sie ersten Unterricht von ihrem Vater Alexander Deckner (ca. 1820–1894), der sie dann zu Michael Jaborsky (1805–1874) nach Temesvár (heute Timişoara, seit 1920 rumänisch) schickte. 1860 ging sie nach Wien und bekam von Josef Hellmesberger sen. kostenlos Unterricht. Nach rund einem Jahr verließ Charlotte Deckner, die mit ihrem Vater nach Wien gereist war, die Stadt, um in Pest weiteren Violinunterricht bei David Ridley-Kohne (u. a. Lehrer Leopold von Auers) zu nehmen. Erst 1866 und damit bereits während ihrer Konzerttätigkeit erhielt Charlotte Deckner Unterricht von Ferdinand David (1810–1873) in Leipzig.

Charlotte Deckner konzertierte bereits während ihrer Ausbildung einige Male. So gab sie ihr Debüt als zehnjähriges Kind im Stadttheater von Timişoara, ohne danach als Kindervirtuosin aktiv zu werden. 17-jährig spielte sie im Pester Nationaltheater und begann danach ihre Tätigkeit als Reisevirtuosin. Zunächst spielte sie in den österreich-ungarischen Gebieten. Im Frühjahr 1864 konzertierte sie mehrmals in Wien, u. a. mit dem damals bekannten Pianisten Franz Bendel, danach waren beide gemeinsam in Brünn, Krakau und Breslau tätig.

Ebenfalls mit Franz Bendel spielte sie 1865 in Berlin. Später in jenem Jahr war sie – wieder mit Bendel – in Halle, Gotha, Nürnberg, Wiesbaden und vermutlich auch Bad Kreuznach zu hören, bereiste dann die Niederlande und konzertierte in Utrecht und Leeuwarden. 1866 gastierte sie in Hamburg, Bremen und Lübeck. Vermutlich im selben Jahr reiste sie nach Dänemark und ließ sich in Kopenhagen in einem Hofkonzert vor dem dänischen Königspaar hören. Ebenfalls im Jahr 1866 nahm sie einen längeren Aufenthalt in Leipzig und erhielt dort Unterricht vom Gewandhaus-Konzertmeister Ferdinand David. Im Herbst jenes Jahres spielte sie in Köthen und schließlich, im Dez. 1866, im Leipziger Gewandhaus. Im Jahr 1867 konzertierte sie im Jan. in Hannover und Chemnitz, im Febr. war sie in Leipzig neben Sophie Menter im Konzert eines Gesangvereins zu hören. Kurz darauf spielte sie in Dresden, Erfurt und Weimar. Eine für das Frühjahr 1867 geplante Konzertreise nach Warschau trat sie nicht an.

Noch im Frühling 1867 zog sie „sich einige Zeit zur Erholung in ihre Heimath nach Lugos“ zurück (Signale 1868, S. 91). Eine Verlobung, die sie 1866 in Hannover mit dem Bankier Hermann Cohn eingegangen war, löste sie in dieser Zeit wieder. Auch in Lugos konzertierte sie (u. a. mit dem Pianisten Antoine de Kontski), spielte zudem 1868 im rumänischen Mehadia, bereiste jedoch erst wieder ab Jan. 1869 Westeuropa. Zunächst spielte sie im Apr. jenes Jahres in Wien. Ab Juni 1869 war eine Konzertreise durch die USA geplant, die zunächst – laut der Zeitschrift „Signale“ aufgrund zahlreicher Einladungen in die österreichischen Bäder – auf den Aug. verlegt wurde, schließlich aber wohl vollständig ausfiel. Bereits im Nov. 1869 war Charlotte Deckner wieder in Stuttgart zu hören, im Winter 1869/70 konzertierte sie in Paris.

Erst 1875 lässt sich Charlotte Deckners Spur wieder aufnehmen, als sie – nun verheiratet mit einem Herrn von Hartzer – erneut in Lugos zu finden war. Im Jahr 1878 war Charlotte Deckner kammermusikalisch tätig. Als Bratschistin musizierte sie gemeinsam mit Marianne Stresow (Violine), Elise Weinlich (Violoncello) und Josephine Amann-Weinlich (Klavier) im „Cäcilien-Quartett“, das u. a. in Kopenhagen, Hamburg, Kiel und Freiburg i. Br. konzertierte. Dieses Klavierquartett – wohl das erste unter eigenem Namen und in fester Besetzung reisende Kammermusik-Ensemble von Frauen im deutschen Raum – löste sich nach erfolgreichen Konzertreisen wohl im Winter 1878/79 wieder auf. Nach der „Musical World" (1879, S. 35) spielte Charlotte Deckner nun als Bratschistin im Ersten Europäischen Damenorchester der Josephine Amann-Weinlich, ging aber auch als Solistin auf ausgedehnte Reisen (Schweden, Dänemark, Schweiz, Frankreich). Im Jahr 1879 verlegte Charlotte Deckner ihren Wohnsitz nach Marseille, wo sie in den folgenden Jahren mehrfach konzertierte „und überall Sensation erregte“ (Signale 1879, S. 587). Dort war sie zudem tätig als „eine äußerst geschätzte Lehrerin in Familien, welche den Unterricht ihrer Töchter nicht gern Lehrern des starken Geschlechts anvertrauen“ (Signale 1884, S. 454). Eine offenkundig schwerwiegende Erkrankung überstand sie 1879 durch die Unterstützung aus Privatkreisen sowie der Hilfe durch ein Benefizkonzert mehrerer einheimischer KünstlerInnen zu ihren Gunsten.

1885 siedelte sie laut „Signale für die musikalische Welt“ nach Wien über, um „einem langgehegten Wunsche nachzukommen, in Wien als Lehrerin ihren Beruf fortzusetzen, den sie in Marseille mit glänzendem Erfolg gekrönt sah“ (Signale 1885, S. 856). Inwieweit Charlotte Deckner dieses Vorhaben noch umsetzen konnte, ist nicht bekannt. Sie starb 40-jährig am 25. Mai 1887 in Lugos.

„Die Programme der jungen Geigerin“, so schreibt ein Kritiker der „Neuen Zeitschrift für Musik" über die frühen Wiener Konzerte Charlotte Deckners, „waren […] unerheblich […], und zwar vornehmlich deshalb, weil eben der Classicismus, wie die romantische Sphäre der Violinliteratur durchaus nicht derjenige Boden zu sein scheint, auf welchem Frl. Deckner jemals heimisch werden dürfte“ (NZfM 1864, S. 217). Mit dieser Prognose hatte der Kritiker vermutlich unrecht. Der Unterricht, den die Geigerin noch 1866 bei Ferdinand David nahm, diente dem Studium des „klassischen Violinrepertoirs“ (Mendel). Sie konzertierte mehrmals mit Mendelssohns Violinkonzert und ließ auch Musik von Tartini (Teufelstriller-Sonate) und Joh. Seb. Bach hören (vermutlich aus den Sonaten und Partiten für Violine solo BWV 1001–1006). Daneben spielte sie nicht nur Beethovens Sonate in a-Moll op. 23, sondern zumindest einmal auch dessen Violinkonzert (1. Satz, in Köthen 1866). Dieses auch damals als besonders gewichtig geltende Werk erscheint ungewöhnlich im Programm einer Geigerin dieser Zeit, ebenso wie auch das in einen militärmusikalischen Kontext verweisende Concert militaire Karol Lipinskis. Daneben verfügte Deckner über einen Fundus von Virtuosenwerken unterschiedlicher, nicht nur salonhaft leichter Herkunft (etwa von Raff, Vieuxtemps, Alard). Immer wieder spielte sie zudem Bearbeitungen ungarisch-folkloristischer Themen, insbesondere von Eduard von Remenyi.

Im Zusammenhang mit solchen Adaptionen wurde Charlotte Deckner oft vor dem Hintergrund ihrer ungarischen Herkunft rezipiert. Eduard Hanslick gefiel die Geigerin „namentlich durch ihr echt nationales Temperament im Vortrage ungarischer Weisen“, sah sie jedoch auf einem „noch ziemlich langen Wege zu wirklicher Kunstvollendung“ (Die Presse 4. März 1864). Die „Neue Zeitschrift für Musik" konstatierte: „Bei relativ gutem, stellenweise sogar kräftigem Tone, entwickelt ihr Spiel eine in allen Zeitmaßarten geläufige, freilich nicht immer reine, und nur im Vortrage specifisch nationaler (das heißt mit klaren Worten: ungarisch-zigeunerhafter) Musik eigentlich beseelte Technik“ (NZfM 1864, S. 217). Nach Ansicht eines Kritikers der „Signale“ spielte sie mit einer „bei Frauen seltenen Energie, die fast etwas Ziegeunerblut in ihren Adern verräth“ (Signale 1884, S. 454). Die technisch-musikalischen Fähigkeiten der Geigerin wurden in den Musik-Gazetten unterschiedlich betrachtet. So urteilte die „Neue Zeitschrift für Musik" angesichts eines Berliner Konzerts, dass Charlotte Deckner „viel Sicherheit im Auftreten, eine gute Bogenführung und geläufige Finger besitzt. In ungünstigerem Lichte erschien ihr Ton, im allerungünstigsten ihr Gehör und Tactsinn“ (NZfM 1865, S. 57). Zwei Jahre später befand dieselbe Zeitschrift nach einem Auftritt im Leipziger Gewandhaus: „Was jetzt schon aller Anerkennung werth, ist die sichere Beherrschung der Technik, Reinheit des Tones, gute Auffassung, wie auch die äußere Ruhe des Vortrags“ (NZfM 1867, S. 12). Sehr freundlich beurteilt die „Niederrheinische Musik-Zeitung" Charlotte Deckner angesichts eines Berliner Konzerts: „Dabei ist der Ton rein und fest, das Spiel correct und sicher, frei von Effecthascherei, und entwickelt eine bedeutende Technik (Niederrheinische Musik-Zeitung 1865, S. 13).

Stärker von der Besonderheit und dem Geschlecht der Musikerinnen geprägt erscheint die Rezeption des „Cäcilien-Quartetts“. Die Musikerinnen spielten in ihren gemeinsamen Konzerten sowohl im Ensemble (in Freiburg i. Br. und in Kiel jeweils ein Quartett von Beethoven und ein Trio von Haydn) als auch solistisch. Dem Rezensenten der „Freiburger Zeitung“ ist angesichts der seltenen Besetzung die Verwunderung deutlich anzumerken: „Daß man entweder gut im Ensemble, oder gut als Solist sein kann, ist schon öfters, selbst zuweilen bei Damen, der Fall gewesen. Daß aber Damen, welche vorzüglichste Virtuosinnen auf ihrem Instrument sind, auch zugleich die tiefe musikalische Bildung besitzen, um Kammermusik in dieser gediegenen klassischen Weise zur Aufführung zu bringen wie das Cäcilien-Quartett, das muß wohl Jeden in Erstaunen setzen“ (Freiburger Zeitung 7. Apr. 1878).

 

LITERATUR

Robert Hamerling, Lehrjahre der Liebe. Tagebuchblätter und Briefe, Hamburg 1890.

Allgemeine academische Zeitung 1. Mai 1864, S. 8

AmZ 1864, Sp. 419, 730; 1865, Sp. 48f.; 1866, S. 89; 1867, S. 8, 160

Bock 1864, S. 199; 1865, S. 13f., 27f., 43, 110; 1867, S. 119; 1869, S. 117, 149, 388; 1870, S. 8, 36, 75; 1878, S. 71 (Quartett); 1887, S. 198

Freiburger Zeitung 1878, 7. Apr. (Quartett Rezension), 21. Apr. (Quartett Konzertanzeige), 25. Apr.(Quartett Rezension, Konzertanzeige), 26. Apr. (Quartett Konzertanzeige), 28. Apr. (Quartett Rezension)

FritzschMW 1878, S. 161 (Quartett), 255; 1879 (Quartett), S. 81 (Quartett)

Le Guide musical 1865, 9. März (Nr. 10), 12. Okt. (Nr. 41)

Journal de Genève 1878, 26. Okt., 30. Okt.

Leeuwarder Courant 1865, 22. Sept.

Leipziger Zeitung 1867, S. 68

MusicalT 1894, S. 841

MusW 1865, S. 193; 1879, S. 35

Niederrheinische Musik-Zeitung 1865, S. 13; 1867, S. 45

NZfM 1864, S. 67, 83, 142, 183, 217, 234, 388; 1865, S. 57, 176, 193, 219, 290, 323; 1866, S. 82, 101, 140, 180, 206, 355, 391; 1867, S. 12, 67, 80, 97, 104f., 105, 118, 119, 153, 169, 237; 1868, S. 6, 182,  242, 267, 414; 1869, S. 51, 154; 1875, S. 458; 1877, S. 174

Signale 1865, S. 72, 120, 220, 659; 1866, S. 269, 379, 407, 555, 689, 808; 1867, S. 7, 18, 113, 199, 225, 247, 260, 278, 416; 1868, S. 91, 1108; 1869, S. 188, 301, 315, 446, 602, 634, 967, 971, 1004, 1018, 1079, 1081; 1870, S. 88, 136; 1875, S. 871; 1878, S. 327 (Quartett); 1879, S. 195, 554, 587; 1880, S. 129, 537; 1884, S. 454; 1885, S. 856; 1887, S. 619; 1888, S. 259; 1894, S. 872.

Die Presse [Wien] 1864, 13. Febr., 4. März

Mendel, Van der Straeten

Eduard Hanslick, Geschichte des Concertwesens in Wien, 2 Bde., Bd. 1, Wien 1869, Repr. Hildesheim [u. a.] 1979.

Wilhelm Joseph von Wasielewski, Die Violine und ihre Meister, Leipzig 61920.

 

Volker Timmermann

 

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