Würdigung

Vielseitig interessiert, war Myriam Marbe nicht nur Musikerin, sondern auch Musikwissenschaftlerin und Publizistin, die unter anderem an einer von der Pariser Académie des Beaux Arts preisgekrönten Monographie zu George Enescu mitarbeitete (Bukarest 1971). Dennoch bleibt sie vor allem als Lehrerin und Komponistin im Gedächtnis, die gegen alle Widrigkeiten ihrer Gegenwart die Notwendigkeit von Kunst zum Zentrum ihres Lebens machte. Musik war ihre Sprache, in der sie sowohl Leid als auch Utopie kompromisslos zum Ausdruck brachte.

Die Zerriebenheit ihrer Generation zwischen einer reichen abendländischen Geistestradition und der vollständigen Verarmung aller Existenzbereiche in der kommunistischen Zwangsherrschaft führte zu einer sehr eigenen musikalischen Sprache, in der traditionelle rumänische Musik sowie byzantinische und jüdische musikalische Modelle auf die Vielvölker-Kultur Rumäniens verweisen und die zahllosen kulturellen und geistigen Einflüsse der gewachsenen Mischkultur klingende Identität gewinnen. Neben den eigentümlichen Traditionen ihres Landes nutzt Marbe freilich auch avancierteste Techniken der westeuropäischen Avantgarde-Musik. In ihrer Aufgeschlossenheit gegenüber heterogenen kulturellen Implikationen, ästhetischen Orientierungen und satztechnisch-handwerklichen Aspekten reflektiert sie die historischen und aktuellen Möglichkeiten des Komponierens und öffnet sich für Neues.

Das könnte rein intellektuell oder gar spröde wirken, wäre es nicht von einer nachhaltigen Freude am Klang bzw. Klangsinnlichen als dem Urgrund alles Musizierens getragen. Darüber hinaus ist Marbe sehr am Sprachcharakter von Musik gelegen: „Ausgehend von der klassischen Polyphonie entwickelte sie eine Vorstellung vom musikalischen Diskurs als einer Begegnung individueller Stimmen“ (Beimel/MGG2 2004). Wenn Instrumente bzw. ihre SpielerInnen auf diese Weise „in einer solidarischen Haltung zusammenfinden sollen“ (Beimel/MGG2 2004), kann das durchaus politisch verstanden werden.

Den Wunsch nach einer konkreten, menschenbezogenen Kommunikation zeigen Marbes Partituren auch optisch sehr deutlich: Insbesondere die Vortragsanweisungen lassen erkennen, wie der Prozess der Einstudierung oder auch nur der Gedanke an einen bestimmten ausführenden Künstler oder Künstlerin Marbe zu einem schriftlichen Austausch mit ihrem ausdeutenden Gegenüber motiviert.

Diese Orientierung an den Interpreten als den zentralen Vermittlern niedergeschriebener Musik bringt Marbe dazu, in ihren Partituren überflüssige Komplikationen zu vermeiden. Das Bildhafte ihrer Notenseiten zeichnet sich durch eine ganz auffällige Klarheit aus, die optisch fast als Leere erscheint. Die Musik ist technisch vergleichsweise einfach auszuführen, der musikalische Ausdruck jedoch ist von außerordentlicher Intensität.

Auf diese Weise gelingt es Marbe auch, jene Doppel- und Mehrdeutigkeit zu erzielen, die gerade für KomponistInnen der Ostblockländer von überlebenswichtiger Bedeutung war: Die scheinbar leichte Fasslichkeit der klingenden Außenseite ermöglicht die Akzeptanz durch die politischen Instanzen; die Mehrdimensionalität der künstlerischen Aussage jedoch bringt Unsagbares zum Ausdruck. Das reicht weit über politische, ästhetische oder ethische Botschaften hinaus ins Persönliche und gibt auch dem Mit-Leiden und Mit-Dulden ein klingendes Ventil. Marbes ehemaliger Nachlassverwalter, der Komponist Thomas Beimel, deutete beispielsweise Les oiseaux artificiels von 1979 als ihr künstlerisches Testament der 1970er Jahre; das Erste und Zweite  Streichquartett (1981 und 1985) und Trommelbass (1985) reagieren seiner Überzeugung nach auf die schmerzliche politische Geschichte ihres Landes und das dritte und vierte Streichquartett (1988 und 1990) sowie das Requiem (1990) reflektieren Persönliches.

In der gezielten Multivalenz von Form und Aussage vermag die Musik von Myriam Marbe weit über das rein ästhetische Moment hinaus den Menschen in seinem Dasein zu ergreifen und zu bewegen. Unter den Bedingungen von Diktatur, Repression und Entbehrungen entstanden, beschränkt sich diese Musik nicht darauf, das Leben zur Zeit Ceauşescus künstlerisch zu reflektieren, sondern gestaltet eine kreative Aussage, die weit über den konkreten Entstehungsrahmen hinausgeht. Ethische Ambitionen, die Frage nach Menschlichkeit, Leid und Leidbewältigungsstrategien sowie die Fähigkeit, Grundlegendes in Klang zu fassen, machen die Musik von Myriam Marbe zu einem überzeitlich gültigen Dokument engagierter Menschlichkeit.

Kadja Grönke