Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Über das Lexikon

Unterstützt von zahlreichen auswärtigen AutorInnen, hat das Team des Sophie Drinker Instituts von 2006 bis 2015 ein Instrumentalistinnen-Lexikon erarbeitet, das etwa 750 Artikel enthält und inzwischen als Nachschlagewerk ebenso wie als Gesamtdarstellung eines bedeutenden Kapitels der Musikgeschichte einen wichtigen Platz einnimmt. In den Texten werden Biographien von Musikerinnen rekonstruiert, die aus dem Gedächtnis der Musikgeschichtsschreibung oft nahezu spurlos verschwunden schienen.

Ergänzt wurde das Online-Lexikon von mehreren Buchpublikationen (siehe auch die Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts), darunter besonders:

Freia Hoffmann und Volker Timmermann (Hrsg.), Quellentexte zur Geschichte der Instrumentalistin, Hildesheim (Olms) 2013

Annkatrin Babbe und Volker Timmermann (Hrsg.), Musikerinnen und ihre Netzwerke im 19. Jahrhundert (= Schriftenreihe des Sophie Drinker Instituts 12), Oldenburg (BIS-Verlag) 2016

 

Obwohl die meisten der im Lexikon repräsentierten Instrumentalistinnen in modernen Nachschlagewerken nicht oder nur sehr kurz verzeichnet sind, kann das Lexikon erstmals über ihr Wirken umfassend Auskunft geben: Die Artikel basieren auf Konzertberichten in der zeitgenössischen Fachpresse und in Tageszeitungen, auf Tagebüchern, Autobiographien, Büchern über Angehörige, auf Personeneinträgen in historischen Lexika und, soweit vorhanden, auf Vorarbeiten in der musikwissenschaftlichen Literatur. Hierbei, vor allem auch beim Aufspüren von Porträts, war das Internet eine selbstverständliche und große Hilfe.

Warum beschäftigt sich dieses Lexikon gezielt mit Instrumentalistinnen? Naheliegend ist die Antwort, dass die Musikwissenschaft in Bezug auf das Wirken von Frauen in der Musikgeschichte nach wie vor einen großen Nachholbedarf hat. Dies gilt, trotz fünf Jahrzehnten musikwissenschaftlicher Frauen- und Geschlechterforschung, auch für Komponistinnen. Umso mehr gilt es für Instrumentalistinnen, die im Fokus der traditionellen Kompositionsgeschichte allenfalls als Widmungsträgerinnen, als Familienangehörige oder als Personen ‚geschichtswürdig‘ scheinen, die sich in besonderer Weise um die Verbreitung von Werken verdient gemacht haben. Unser Interesse ging aber weit darüber hinaus. Der Beruf der ausübenden Musikerin ist in der bürgerlichen Gesellschaft einer der ältesten und – gemessen an der meist langjährigen qualifizierten Ausbildung – anspruchsvollsten. Nach den (Opern-)Sängerinnen gelang es in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts zunehmend auch Instrumentalistinnen, durch Konzertieren und Unterrichten eine Existenz und ein anerkanntes Berufsbild zu schaffen. Die Zahl der bedeutenden adligen und bürgerlichen Instrumentalistinnen, die ihr Wirken auf den privaten und halbprivaten Rahmen beschränkten (auch sie sind selbstverständlich im Lexikon repräsentiert), nahm in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts deutlich ab, während andere Musikerinnen in zunehmender Zahl den Weg der professionellen Karriere einschlugen. Eine wichtige Rolle spielten für diese Entwicklung die Konservatorien, die, ausgehend von Venedig und Paris, spätestens um die Mitte des 19. Jahrhunderts Instrumentalistinnen ihre Türen öffneten.

Instrumentalistinnen sind also als Pionierinnen der weiblichen Berufstätigkeit von historischem Interesse, als Frauen, die sich mit zunehmender Selbstverständlichkeit im öffentlichen Raum bewegten, Reisen unternahmen und materielle Selbständigkeit erlangten. Viele von ihnen haben sich darüber hinaus, statt der angestammten Instrumente Klavier, Glasharmonika, Harfe und Gitarre, diejenigen Instrumente angeeignet, die nach bürgerlichen Normen für Frauen als unpassend galten. Die ersten Geigerinnen, Flötistinnen, Klarinettistinnen und Violoncellistinnen mussten oft jahrzehntelang abwertende Kommentare von Musikkritikern und voyeuristische Reaktionen ihres Publikums in Kauf nehmen, bevor sich die Aufmerksamkeit ungeteilt auf ihre musikalischen Leistungen richtete. Diese bisher oft vergessenen Pionierinnen wieder ins historische Gedächtnis zurückzuholen, ist eines der Ziele des Instrumentalistinnen-Lexikons.

Wie hielten wir es mit der Frage der ‚Bedeutung‘? In einem Printlexikon würde es (allein aus Kostengründen) zunächst darum gehen, vorab eine gewisse Zahl von Einträgen mit abgestuftem Umfang festzulegen. Ein Internetlexikon kann generell großzügiger verfahren. Und es hat den unschätzbaren Vorteil, Personenauswahl, Umfänge und Akzentsetzungen nicht aus einer oft fragwürdigen Rezeption in der musikwissenschaftlichen Literatur abzuleiten, sondern aus dem Profil, das sich uns oft erst nach der Recherche erschloss. Dennoch mussten wir uns mit der Frage der Gewichtung auseinandersetzen, da ein umfangreicher Artikel nahezu automatisch eine größere ‚Bedeutung‘ suggeriert. Aber wie generiert sich ‚Bedeutung‘? Gerade bei Musikerinnen stellt sich die Quellenlage als eine besondere dar. Schwierig ist zum Beispiel die Repräsentation einer Musikerin, die aus Standesrücksichten selten oder nie öffentlich aufgetreten ist, von der wir aber aus Berichten von Besuchern wissen, dass sie eine hervorragende Instrumentalistin war – im Vergleich mit einer anderen Musikerin, die sich aus materieller Notwendigkeit häufig gegen Geld hören ließ und entsprechend vielfältig in der Presse Erwähnung findet. Schwierig war auch das Abwägen einer Instrumentalistin des 18. Jahrhunderts, deren Tätigkeit in den wenigen Quellen der Zeit entsprechend lückenhaft repräsentiert ist, gegenüber einer Instrumentalistin gegen Ende des 19. Jahrhunderts, die sich dank der zahlreichen Fachperiodika und Tageszeitungen einer Belegdichte erfreut, die Tausende von Einträgen umfassen kann. Hinter unserem Lexikon stehen also nicht nur biographische Interessen, sondern auch rezeptionsgeschichtliche und wissenschaftstheoretische Grundüberlegungen.

Die Artikel stehen nicht nur für sich allein. Wer Verweisen folgt oder Vertreterinnen bestimmter Instrumente aufsucht, wird feststellen, dass das Instrumentalistinnen-Lexikon des Sophie Drinker Instituts neue musikgeschichtliche Aspekte zutage fördert und Zusammenhänge herstellt, die bisher in der Fachliteratur fehlen. Hierzu gehören Erkenntnisse zur Bedeutung des Pariser Konservatoriums (und später der Hochschulen in Leipzig, Berlin und Wien) als berufsqualifizierender Institution, zur Ausbreitung der Violine (auch) als Frauen-Instrument und zu den diesbezüglichen Entwicklungen im deutschsprachigen Raum, Frankreich, England und den USA. Die Artikel zeigen das langsame Eindringen von Frauen in Kammermusikformationen, die Gründung der ersten Streichquartette von Frauen und die Entstehung von Frauenorchestern, die Zunahme von Organistinnen (besonders in England), die (abnehmenden) Diskussionen über „Schicklichkeit“ beim Instrumentalspiel und die unterschiedlichen Akzentuierungen in der Kritikerwahrnehmung. Außerdem informiert das Lexikon über die Rolle von Musikerinnen bei der Pflege Alter und zeitgenössischer Musik sowie Veränderungen in der Gestaltung von Konzertprogrammen, an denen Frauen nicht selten maßgeblich beteiligt waren.

Aufnahme fanden Instrumentalistinnen bis zum Geburtsjahr 1880 einschließlich, die in Europa geboren sind (auch wenn sie später auf anderen Kontinenten tätig waren). Die Veröffentlichung im Internet erlaubt es, das Lexikon als „work in progress“ zu betrachten: Die Artikel sind in ihrer Form veränderbar, die AutorInnen können auf Einwände von NutzerInnen, auf neue Forschungsergebnisse und erweiterte Recherchemöglichkeiten im Internet mit Ergänzungen und Korrekturen reagieren.

Wir freuen uns deshalb über Rückmeldungen (info@sophie-drinker-institut.de) und arbeiten Ergänzungen und Korrekturen gerne ein.