Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

1. Marshall, Amabel (Florence), verh. Carter

* 1872 im Londoner Stadtteil Mayfair, † 1951 (Ort unbekannt), Violinistin und Violinlehrerin.

2. Marshall, Frances (Alice)

* 1870 im Londonder Stadtteil Mayfair, † 28. Dez. 1943 (Ort unbekannt), Bratschistin.

 

Es handelt sich um Töchter des Privatgelehrten und Musiksammlers Julian Marshall (1836–1903) und der Komponistin, Dirigentin und Schriftstellerin Florence Ashton geb. Thomas (1843–1922), die nach ihrer Heirat unter dem Namen „Mrs. Julian Marshall“ publizierte und auftrat. Beide verfassten Beiträge für den von 1879 an erscheinenden „Dictionary of Music and Musicians“, hrsg. von George Grove. Julian Marshall war Verfasser u. a. eines „Catalogue of Engraved National Portraits in the National Art Library“ (London 1895), Florence A. Marshall veröffentlichte Biographien von Händel (London 1883) und Mary Wollstonecraft Shelley (London 1889). Ausgebildet an der Royal Academy of Music in London, dirigierte sie 17 Jahre lang das South Hampstead Orchestra, ein anspruchsvolles semiprofessionelles Orchester im Nordwesten Londons„Her compositions consist of a number of orchestral works, frequently performed in public, several cantatas and an operetta (Prince Sprite), a Nocturne for Clarinette and orchestra, various part-songs and songs“ (Ebel, Art. Marshall (Mrs. Julian)). Im angesehenen Londoner Verlag Novello & Co. erschienen das Lied A new year’s burden (1877) und Seventy solfeggi for class-singing (1885). Außer Frances und Amabel hatten die Marshalls noch eine dritte Tochter, Dorothy (Blanche Louisa, 1868–1956), die später als Chemikerin bekannt wurde.

Amabel Marshall studierte bei dem Vieuxtemps- und Joachim-Schüler Enrique Fernández Arbós (1863–1939), der seit 1894 am Londoner Royal College of Music unterrichtete. Ihre Karriere als Geigerin ist in der englischen Fachpresse von 1894 bis 1906 dokumentiert, diejenige der Bratschistin Frances Marshall von 1896 bis 1910. Am 4. Dez. 1894 wird Amabel Marshall bei einem Konzert von Edward Moberlys Frauen-Streichorchester als Solistin in Händels Concerto grosso d-Moll op. 6 Nr. 10 erwähnt, und auch in den folgenden Jahren fällt die häufige Zusammenarbeit mit Kolleginnen auf. Von 1896 an kooperierten die Musikerinnen mit den Violinistinnen Lilian Mukle und Winifred Holiday, den Violoncellistinnen Maud Fletcher und May Mukle, der Kontrabassistin Rosabel Watson, der Oboistin Leila Bull, der Klarinettistin Frances Thomas sowie der Pianistin Anne Mukle und fielen im Londoner Musikleben vor allem durch anspruchsvolle Kammermusik in unterschiedlichen Besetzungen auf.

Den Anfang machte am 23. März 1896 die Aufführung von Lalos Aubade, Dezett für Streich- und Bläserquintett (eine Transkription des Intermezzos aus der Oper Fiesque) in einem Konzert von Anne Mukle und Frances Thomas, „which was enjoyable, not only for the efficiency of the performance […], but for the unconventional selection of music presented“ (Musical News 1896 I, S. 295).

In den Winterhalbjahren 1898/99, 1899/1900 und 1900/01 veranstalteten Amabel und Frances Marshall zusammen mit der Klarinettistin Frances Thomas drei Kammermusikreihen: Am 14. Nov. 1898 erklangen das Klaviertrio Es-Dur op. 40 von Brahms, zwei Lieder von Brahms mit obligater Viola Op. 91, ein noch ungedrucktes Quintett fis-Moll für Klarinette und Streicher op. 10 von Samuel Coleridge-Taylor, am 12. Dez. 1898 das Oktett für Bläser und Streicher F-Dur op. 80 von Heinrich Hofmann, am 30. Jan. 1899 das Quartett Es-Dur op. 51 von Dvořák und Spohrs Nonett F-Dur op. 31. Das Repertoire der zweiten Kammermusikreihe ist nicht vollständig rekonstruierbar, dokumentiert ist in der Presse das Konzert vom 29. Jan. 1900 mit Haydns Streichquartett Es-Dur op. 76 Nr. 6 und einem Septett A-Dur op. 7 für Klavier, Violine, Viola, Violoncello, Oboe, Klarinette und Horn von Fritz Steinbach. Die dritte Kammermusikreihe begann am 12. Nov. 1900 mit Spohrs Septett a-Moll für Klavier, Violine, Violoncello, Flöte, Klarinette, Horn und Fagott op. 147. Am 10. Dez. folgte Brahms’ Horntrio Es-Dur op. 40, Schumanns Streichquartett in A-Dur op. 43 Nr. 3 und Mozarts Quintett Es-Dur für Klavier und Bläser KV 452.

Amabel Marshall, Konzertmeisterin des von Florence A. Marshall geleiteten South Hampstead Orchestra, trat in dessen Programmen auch solistisch auf, so am 17. Juni 1901 mit dem 4. Brandenburgischen Konzert von Joh. Seb. Bach. Als Fritz Kreisler am 20. Juni 1905 mit diesem Orchester das Violinkonzert von Brahms spielte, ging Amabel Marshall sozusagen mit einer Nebenrolle in die Geschichte ein: Als dem Solisten eine Saite riss, ergriff er das Instrument der Konzertmeisterin und spielte die Komposition damit zu Ende, „leaving that lady to use his treasured Hart Guarnerius. It may be recorded that the lady’s instrument had a very agreeable tone although by no means to be compared with that well of exquisite sound“ (Violin Times Aug. 1905, S. 115).

Verbindungen der Schwestern bestehen zur Violinistin und Komponistin Florence Mary Hill Rivington (1873–?), einer Schülerin von Amabel Marshall, „from whom she learned much, particularly in the matter of chamber music“ (Violin Times 1906, S. 57). Als Hill Rivington am 16. Nov. 1910 in London einige eigene Kompositionen öffentlich präsentierte, wirkte Frances Marshall in einem Streichquartett e-Moll mit.

1924/25 war Frances Marshall Stimmführerin der Bratschen im British Women’s Symphony Orchestra. Nach dem Tod von Gwynne Kimpton, der Dirigentin dieses Orchesters, initiierte sie den „Gwynne Kimpton Memorial Fund“, der 1931 der Royal Academy of Music Mittel zur Finanzierung eines Violin-Stipendiums überreichte.

Am 22. Dez. 1903 heiratete Amabel Marshall den Chirurgen Hugh Ronald Carter (1867–1959). Weitere Informationen über den Lebensweg von Amabel und Frances Marshall fehlen.

 

 LITERATUR

National Births and Death Indexes (Dank an Aubrey Slaughter)

Academy 1894, S. 478l

Cremona 1910, S. 149

Daily News [London] 1897, 28. Mai; 1899, 19. Juni

Era [London] 8. Dez. 1894

Leeds Mercury 20. Juni 1896

Musical Herald 1904, S. 18

Musical News 1896 I, S. 295; 1898 I, S. 186; 1898 II, S. 459, 562; 1899 I, S. 123, 662; 1899 II, S. 568; 1900 I, S. 138, 536; 1900 II, S. 427, 522

Musical Standard 1910 II, S. [45]

MusT 1895, S. 24; 1901, S. 478

Violin times 1905, S. 115; 1906, S. 57

Brown Brit (Art. Marshall, Julian), Ebel (Art. Marshall (Mrs. Julian)

David Baptie, A Handbook of Musical Biography, London 2. Aufl. 1887 (Art. Marshall, Julian)

Francisco Agramonte Cortijo, Diccionario Cronológico Biográfico Universal, Madrid 2. Aufl. 1952 (Art. Arbós, Enrique Fernández)

 

Freia Hoffmann

 

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