Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

ZografSograff, Zoograph, Sographe, Sograf-Dulowa, Zograf-Dulova, Dulova-Zograf, von Sograff, Alexandra, Alexandrine

Transliteration: Zograf-Dulova, Aleksandra Jur’evna

* 1850 (Ort unbekannt), † 1919 in Russland, Pianistin. Alexandra Zograf stammte aus einer musikliebenden Familie. 1866 nahm sie das Studium am Moskauer Konservatorium auf, das der renommierte Pianist und Dirigent Nikolai Rubinstein in diesem Jahr ins Leben gerufen hatte. Von den 79 Studierenden des ersten Jahrgangs schrieben sich 49 für das Fach Klavier ein, 38 davon waren weiblich. Dieses Übergewicht mag nicht nur an der Persönlichkeit des Dozenten, Nikolai Rubinstein (1835–1881), gelegen haben, sondern auch an den allgemein begrenzten beruflichen Ausbildungsmöglichkeit für Frauen, die überwiegend auf eine Tätigkeit als (Instrumental-)Lehrerin oder Gouvernante hinausliefen.

Alexandra Zograf scheint am Konservatorium allerdings höhere Ziele angestrebt zu haben; immerhin beendete sie ihr Studium (vermutlich 1871) mit besonderem Erfolg und „graduated at the top of her class, finishing with a silver medal“ (Govea S. 65). Ihr Lehrer, Nikolai Rubinstein, galt seinerzeit als der beste Pianist Russlands (was sogar sein Bruder, der berühmte Anton Rubinstein, neidlos anerkannte); sein Stil prägte die sogenannte Moskauer Klavierschule, zu der so bedeutende Künstler wie Sergei Tanejew (ein Kommilitone Alexandra Zografs), Heinrich Neuhaus, Sergej Rachmaninow, Swjatoslaw Richter, Emil Gilels, Ivo Pogorelich, Jewgeni Kissin oder Lilja Zilberstein gehören. Ihnen allen ist gemeinsam, dass sie ihre stupenden technischen Fertigkeiten dezidiert in den Dienst einer musikalischen Werkausdeutung stellten.

Für Alexandra Zograf war es in diesem Zusammenhang sicher nicht von Nachteil, dass sie zugleich auch in der Harmonielehre-Klasse Peter Tschaikowskys (1840–1893) studierte. Dieser widmete ihr zwei Kompositionen: die Polka de salon op. 9 Nr. 2, entstanden im Okt. 1870 und von Nikolai Rubinstein am 16. März 1871 in Moskau uraufgeführt, sowie eine vor März 1871 angefertigte Bearbeitung des Final-Rondos der Klaviersonate Nr. 1 C-Dur op. 24 von Carl Maria von Weber (1812), „arrangé pour la main gauche par P. Tschaikowksy“. Die drei Klavierstücke op. 9 sind drei Moskauer Klaviergrößen gewidmet (neben Zograf ihrer Kommilitonin Nadeshda A. Muromzeva sowie dem Klavierprofessor Alexandre Dubuque). In dieser Nachbarschaft zeugt die Zueignung der Polka de salon von den hohen Erwartungen, die Tschaikowsky 1870 in die musikalische Laufbahn Alexandra Zografs legte. Die Weber-Bearbeitung dagegen ist möglicherweise eine Verlegenheitslösung, denn Zografs Schwiegermutter erinnert sich, dass der jungen Pianistin die Tränen kamen, als sie 1866 die Oberstimme des unter dem Namen Perpetuum mobile bekannten (und in den Konzertprogrammen des 19. Jahrhunderts außerordentlich beliebten) Finales der Klaviersonate Nr. 1 C-Dur op. 24 von Carl Maria von Weber übte. Tschaikowsky tröstete sie mit dem Versprechen: „Weinen Sie nicht, Saschenka, ich werde für Sie eine Etüde für die linke Hand schreiben“ (Muzykal noe nasledie, S. 492). Ob das eine freundliche Neckerei im Sinne von ,Es geht auch noch schwieriger‘ oder ein Hinweis darauf war, dass Alexandra Zograf Linkshänderin war und daher mit der Linken besonders virtuos spielte, oder ob Tschaikowsky ihr diskret zu verstehen geben wollte, das auch ihre Linke besonderer Übung bedurfte, muss Spekulation bleiben. Jedenfalls verlegte er die anspruchsvolle Oberstimme des Weberschen Rondos in den Bass und fügte eine neue Partie für die rechte Hand hinzu. (Eine alternative Entstehungsgeschichte dieser Weber-Bearbeitung bezeichnet das Werk als Harmonisierungs-Aufgabe in der Klasse Nikolai Rubinsteins, die ausschließlich vom Kollegen Tschaikowsky überzeugend gelöst wurde [ebd].) 

Auch Carl Reinecke widmete Alexandra Zograf eine Komposition, und zwar seine Kadenz zum 3. Klavierkonzert von Ludwig van Beethoven (Breitkopf & Härtel, um 1890) aus der Folge seiner 42 Kadenzen zu klassischen Klavierkonzerten op. 87 (Nr. 3). Diese Widmung legt nahe, dass Beethovens Konzert zum Repertoire Alexandra Zografs gehörte, auch wenn sie bei ihren Auftritten in Moskau, Prag, Halle, Leipzig und Lübeck, die in deutschsprachigen Periodika nachweisbar sind, eher mit einem romantisch gefärbten Virtuosenprogramm (Chopin, Henselt, Liszt, Litolff) an die Öffentlichkeit trat.

1872 widmeten die „Signale für die musikalische Welt“ ihrem Leipziger Konzert eine ausführliche Rezension und würdigten dabei zugleich Russland als Klaviernation: „Die Russen sind ein für Musik hochbegabtes Volk. Das ist eine Thatsache, welche eben so feststehend und bekannt ist wie die, daß in Rußland vortrefflich Clavier gespielt wird, vornehmlich seitens der Damen. Für beide Facta war das Auftreten der Moskauer Pianistin Fräulein von Sograff im diesjährigen Armenconcerte nur ein Beweis mehr. Die Dame hat uns durch ihre Leistungen das lebhafteste Interesse eingeflößt, und wir zweifeln nicht, daß sie in der modernen Pianistinnen-Phalanx einen hohen Rang einzunehmen berufen ist. Ihre pianistische Bildung – die sie, wie wir hören, unter Nicolaus Rubinstein’s Mentorschaft erlangt hat – ist in jedem Betrachte höchst vorzüglich: sie verfügt über eine glänzende, mit vollster Correctheit, Sicherheit und Souveränität schaltende Finger-Bravour, ihr Anschlag ist allen Nuancirungs- und Modificirungsansprüchen hold und gewärtig, und ihre Ausdrucksweise zeugt von Temperament nicht minder als von musikalischer Ein- und Umsichtigkeit. Ein Bedenken – das aber gegenüber den angedeuteten Vorzügen nicht gar schwer wiegt – hätten wir vielleicht nur insofern auszusprechen, als Fräulein von Sograff, im Bestreben, ihren Ton groß und singend zu machen, bei der Melodieführung hie und da in zu große Schärfe verfällt und die einzelnen Noten in zu grelles Licht setzt. Aber wie gesagt, dieser Umstand wirft nur einen geringfügigen Schatten auf die Totalität von Fräulein Sograff’s Spiel, welches den ihr gewordenen rauschenden Beifall reichlich verdiente, nicht minder in Bezug auf das Litolff’sche Concert [Dritte Konzertsymphonie über volkstümliche holländische Themen, Es-Dur op. 54, von Henry Litolff], als auf die Chopin’schen Stücke [vermutlich Berceuse op. 57 und Ballade Nr. 3, As-Dur op. 47; vgl. Signale 1873, S. 77], welche letzere namentlich in der Vertheilung von Schatten und Licht und in der Feinheit des Vortrags sich innerhalb der Grenzen einer vernünftigern Maßhaltung verhielten, als man es sonst bei Kunst-Novizen gewohnt ist“ (Signale 1872, S. 914). 

Im Folgejahr erhielt die Berichterstattung über die Pianistin eine geschlechtertypisierende Nuance, als in der Rezension ihres Prager Konzerts bemerkt wurde: „Alexandra von Sograff [...] zeichnet sich durch eine gewisse männliche Entschiedenheit und Sicherheit aus. Ihr Anschlag ist kräftig und volltönig, die Technik eine bereits sehr weit vorgeschrittene. In Litolf’s [sic] an heiklen, mehr wunderlichen als brillant-dankbaren Stellen überreichen Es-dur-Concerte No. 3 ,Holländisch‘, ging sie resolut, und fast durchgängig ohne Fehl in’s Zeug und entfaltete insbesondere in Doppelpassagen eine grosse und reine Bravour, während Bach’s Präludim und Fuge in A-Moll in Liszt’s Bearbeitung für das Piano musikalisches Verständniss der strengen, polyphonen Stimmführung deutlich erkennen liess“ (Bock 1873, S. 219).

Auch Peter Tschaikowsky empfand ihr Spiel als ,männlich‘ – wobei allerdings anzumerken ist, dass klavierspielenden Frauen das Attribut der Männlichkeit generell recht häufig und – bezogen auf die künstlerische Leistung – durchaus nicht immer in negativer Hinsicht verliehen wird, während die Betonung weiblicher Wesenszüge in ihrem Spiel eher zu latenter Kritik genutzt wird. Über Zografs Auftritt am 18. Febr. 1874 im Rahmen des Konzerts zur Unterstützung der Hungernden im Gouvernement Samara, Moskau, unter der Leitung Nikolai Rubinsteins schreibt Tschaikowsky: „Frau Zoograph [sic] ist unserem Konzertpublikum schon seit längerem bekannt: bereits vor drei Jahren hatte sie noch als Studentin des Konservatoriums Litolffs Klavierkonzert in einem Symphoniekonzert der Russischen Musikgesellschaft gespielt [6. Febr. 1870] und sich damit sofort den Ruf einer ausgezeichneten Pianistin erworben. Sie besitzt eine solide, ausgesprochen männliche Technik, einen schönen Anschlag und einen eleganten Ausdruck, fernab aller Affektiertheit. Seit ihrem Debüt hat Frau Zoograph einige große und sehr erfolgreiche Konzertreisen durch Rußland und ins Ausland unternommen, so daß sie inzwischen als eine der glänzendsten Klaviervirtuosinnen unserer Zeit überall Bekanntheit erlangt hat. Bei ihrem erneuten Auftreten vor dem Moskauer Publikum empfing man sie überaus herzlich“ (Tschaikowsky 2000, S. 191).

Noch 1871 zog Tschaikowsky Alexandra Zograf 1871 als adäquaten Vergleich zu einem Auftritt von Sofie Menter heran: „Im Sinne höchsten Lobes zögere ich nicht, unseren Gast aus St. Petersburg mit unseren Moskauer Pianistinnen Zoograph und Muromzewa auf eine Stufe zu stellen“ (Tschaikowsky 2000, S. 18). 1873 wandte er jedoch ein: „Gerechterweise muß aber gesagt werden, daß die junge begabte Pianistin seit ihrem Debüt künstlerisch keinen einzigen Schritt vorangekommen ist. Bei all den guten Eigenschaften ihrer Interpretation fällt auf, daß es in ihrem Spiel immer noch eine gewisse schülerhafte Unreife gibt, eine höhere musikalische Individualität nicht erkennbar ist und die brillante Technik eindeutig über das Musikverständnis der Pianistin dominiert“ (Tschaikowsky 2000, S. 191f.).

Auch wenn in der europäischen Musikpresse keine weiteren Nachweise über Alexandra Zografs pianistische Aktivitäten zu finden sind, blieb die Musik doch im Zentrum ihres weiteren Lebens: Sie heiratete den Geiger Nikolai Dulow; ihr Sohn Georgi (1875–1940) wirkte als Violinprofessor am Moskauer Konservatorium, und ihre Enkelin Vera Dulowa (1909-2000) zählte als Schülerin von Xenia Erdeli zu den wichtigsten sowjetischen Harfenistinnen. Auch Alexandra Zografs Schwester, die Komponistin Valentina Zograf-Plaskina (1872–1964), war eine professionelle Musikerin. Etliche Dokumente des Familienarchivs liegen heute im Russischen Staatsarchiv für Literatur und Kunst (RGALI), darunter zwei Texte Alexandra Sografs. Ihre Erinnerungen an den Lehrer Nikolai Rubinstein erschienen 1912 in der Zeitschrift „Musika“.

  

LITERATUR

Aleksandra Jur’evna Dulova-Zograf, Moi vospominanija o N. G. Rubinstejne [Meine Erinnerungen an N. G. Rubinstein], in: Muzyka [Die Musik] 1912, Nr. 68–73, 84, 86–89, 96–97, 106.

Aleksandra Jur’evna Dulova-Zograf, Zapiski raznyh slučaev iz žizni [Aufzeichnungen diverser Lebensereignisse; ca. 1890–1900], MS, im RGALI [Rossijskij Gosudarstvennyj Archiv Literatury i Iskusstva], Moskau, Fonds 757.

Aleksandra Jur’evna Dulova-Zograf, Vospominanija (1854–1869) [Erinnerungen], ebd. (vermutlich textidentisch mit dem Artikel in Muzyka 1912).

Aleksandra Jur’evna Dulova-Zograf, Zapiski artistki [Aufzeichnungen einer Künstlerin], MS, im GZMMK [Gosudarstvennyj Central’nyj Muzej Muzykal’noj Kultury imeni M. I. Glinki], Moskau.

AmZ 1873, Sp. 682

Bock 1873, S. 111, S. 219

NZfM 1888, S. 181

Signale 1872, S. 839, S. 914; 1873, S. 77, S. 259, S. 279

Govea

Muzykal’noe nasledie P. I. Čajkovskogo. Iz istorii ego proizvedenij [Tschaikowskys musikalisches Erbe. Aus der Geschichte seiner Werke], hrsg. von Ksenija Davydova [u. a.], Moskau 1958.

Peter Tschaikowsky, Musikalische Essays und Erinnerungen, hrsg. von Ernst Kuhn, Berlin 2000.

Familienarchiv, http://www.rgali.ru/showObject.do?object=11013810, Zugriff am 17. Sept. 2010.

 

Kadja Grönke

 

© 2010 Freia Hoffmann