Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

ErtmannErdmann, (Catharina) Dorothea (Cäcilia) von, geb. Graumann

* 3. Mai 1781 in Frankfurt a. M., † 16. März 1849 in Wien, Pianistin. Sie war die Tochter des Kaufmanns Georg Carl Graumann (1747–1810) und dessen Ehefrau Maria Charlotta geb. Wolff (1751–1813). Ihre Schwester war Anna Maria von Franck geb. Graumann (um 1786–1838), ihr Bruder Johann Friedrich Graumann (1789–1850), und ihre Nichte war die Sängerin Mathilde Marchesi. Ihre Kindheit verbrachte sie abwechselnd in Frankfurt a. M. und Offenbach. Über ihre frühe musikalische Ausbildung ist wenig bekannt. Sie erhielt Gesangsunterricht bei einer Lehrerin namens Scandelli. Außerdem ist es sehr wahrscheinlich, dass sie in ihrer Kindheit und Jugend qualifizierten Klavierunterricht erhalten hat. Bis zum Alter von 16 Jahren führte sie einen thematischen Katalog ihrer Musikalien (hauptsächlich Klavierwerke und Kammermusik mit Klavier), der bereits auf ein hohes künstlerisches Niveau ihres Spiels schließen lässt. Im Katalog sind ca. 170 Werke aufgeführt, von denen ein Drittel von Haydn, Mozart und Beethoven stammen. Daneben tauchen die Namen Muzio Clementi, Johann Franz Xaver Sterkel und Daniel Steibelt wiederholt auf.

Nachdem Dorothea Graumann am 10. Aug. 1798 den österreichischen Kapitänleutnant Stephan Leopold Freiherrn von Ertmann (1769–1835) geheiratet hatte, lebte sie in Wien. 1800 wurde ihr Sohn Franz Carl von Ertmann geboren. Noch vor 1804 lernte sie Beethoven kennen. In den folgenden Jahren nahm sie bei ihm Unterricht und studierte seine Klavierwerke und Kammermusik. Über viele Jahre hinweg war Beethoven im Hause Ertmann täglicher Gast. Dorothea Ertmann galt als „eine der verständnisvollsten Schülerinnen Beethovens und bald die beste Interpretin seiner Werke“ (Neues Wiener Tagblatt 1939, S. 13). Ihr Sohn starb im Alter von drei Jahren im Jahr 1804. Einen Bericht von Beethovens Reaktion gibt Felix Mendelssohn Bartholdy in einem Brief: „Sie [Dorothea Ertmann] erzählte, wie sie ihr letztes Kind verloren habe; da habe der Beethoven erst gar nicht mehr in‘s Haus kommen können; endlich habe er sie zu sich eingeladen, und als sie kam, saß er am Clavier und sagte blos: ‚Wir werden nun in Tönen mit einander sprechen', und spielte so über eine Stunde immer fort, und, wie sie sich ausdrückte: ‚er sagte mir Alles und gab mir auch zuletzt den Trost'" (zit. nach Mendelssohn 1899, S. 154).

Beethoven widmete ihr seine Klaviersonate A-Dur op. 101. In einem auf den 23. Febr. 1817 datierten Dedikationsbrief an seine „liebe werte Dorothea-Cäcilia“ heißt es: „empfangen Sie nun, was Ihnen öfters zugedacht war, u. was ihnen ein Beweiß meiner Anhänglichkeit an ihr KunstTalen[t] wie an ihre Person abgeben möge“.

Obwohl Dorothea Ertmann als verheiratete Frau nur in ihrem Salon und in einem ausgewählten Kreis um Beethoven auftrat, erwarb sie sich den Ruf einer herausragenden Beethoven-Interpretin. Unter anderem trat sie in dem 1812 von der Klavierfirma Streicher erbauten „Streicherhof" auf, der zu den beliebtesten Wiener Konzertsälen gehörte. Im Hause des Beethoven-Schülers Carl Czerny beteiligte sie sich als Pianistin mit Klaviermusik Beethovens an den sonntäglichen Musikveranstaltungen, die zwischen 1818 und 1820 stattfanden. Johann Friedrich Reichardt besuchte sie 1818 in Wien und beschreibt im Reisebericht den Eindruck ihres Klavierspiels: „Solche Kraft neben der innigsten Zartheit hab‘ ich, selbst bei den größten Virtuosen, nie vereinigt gesehen; in jeder Fingerspitze eine singende Seele, und in beiden, gleich fertigen, gleich sichern Händen, welche Kraft, welche Gewalt über das ganze Instrument [...] die große Künstlerin hauchte dem Instrumente ihre gefühlvolle Seele ein, und zwang ihm Dienste ab, die es wol noch keiner andern Hand geleistet hatte" (Reichardt, S. 372). Der Komponist widmete Dorothea von Ertmann zwei Klaviersonaten (f-Moll, e-Moll).

Im Hochsommer 1820 folgte die Musikerin ihrem Mann, der nach Mailand versetzt wurde. Wie aus Beethovens Konversationsheften hervorgeht, hielt sie sich 1824 und 1826 kurzzeitig in Wien auf; 1825 besuchte sie Beethovens Freund Nicolaus von Zmeskal in Ungarn und musizierte mit ihm. Nach dem Tod ihres Mannes im Jahre 1835 kehrte sie endgültig nach Wien zurück und nahm weiterhin Anteil am Musikleben. Noch 1844 spielte sie Ignaz Moscheles Beethovens Sonate cis-Moll op. 27 Nr. 2 (Mondschein-Sonate) vor, ein Werk, dessen Interpretation sie besonders bekannt gemacht hatte.

Dorothea Ertmann genoss als Pianistin die größte Wertschätzung ihrer Zeitgenossen. Sie pflegte u. a. Kontakte zu Clementi, Hanslick, Reichardt, Josef Dessauer (der ihr ein Rondo brillant für Klavier widmete), Anton Schindler, Moscheles und Mendelssohn. Letzterer besuchte sie während seiner Italienreise im Jahre 1831, weil er die berühmte Beethoven-Interpretin und Widmungsträgerin kennen lernen wollte. Danach schrieb er an seine Familie: „Sie spielt die Beethovenschen Sachen sehr schön, obgleich sie seit langer Zeit nicht studiert hat; oft übertreibt sie es ein wenig mit dem Ausdruck, und hält so sehr an, und eilt dann wieder; doch spielt sie wieder einzelne Stücke herrlich, und ich denke, ich habe etwas von ihr gelernt“ (Brief vom 14. Juli 1831).

Während Mendelssohn die Wahl der Tempi in Dorothea Ertmanns Spiel gelegentlich unangemessen erschien, empfand der Beethoven-Biograph Anton Schindler „Zeitmaß“ und Agogik als ideal. Über ihre Beethoven-Interpretationen schreibt er: „Was sie hierin geleistet, war schlechterdings unnachahmlich. Selbst die verborgensten Intentionen in Beethovens Werken erriet sie mit solcher Sicherheit, als ständen selbe geschrieben vor ihren Augen. Im gleichen tat es diese Hochsinnige mit der Nuancierung des Zeitmaßes, das bekanntlich in vielen Fällen sich mit Worten nicht bezeichnen läßt. Sie verstand es, dem Geiste jeglicher Phrase die angemessene Bewegung zu geben und eine mit der andern künstlerisch zu vermitteln, darum alles motiviert erschien. […] Der richtige Begriff von Taktfreiheit im Vortrage schien ihr angeboren zu sein“ (Schindler, S. 246). Schindler misst Dorothea Ertmann sogar Bedeutung für die Verbreitung von Beethovens Klaviermusik bei: „Ohne Frau von Ertmann wäre Beethovens Klaviermusik in Wien noch früher vom Repertoire verschwunden, allein die zugleich schöne Frau von hoher Gestalt und feinen Lebensformen beherrschte in edelster Absicht die Gesinnung der Besseren und stemmte sich gegen das Herandrängen der neuen Richtung in Komposition und Spiel durch Hummel und seine Epigonen“ (ebd., S. 247).

 

LITERATUR

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Bildnachweis

http://edocs.ub.uni-frankfurt.de/volltexte/2003/7808533, Zugriff am 14. Sept. 2022.

 

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