Europäische Instrumentalistinnen
des 18. und 19. Jahrhunderts

 

Streicher, Nannette (Anna Maria), geb. Stein

* 2. Jan. 1769 in Augsburg, † 16. Jan. 1833 in Wien, Pianistin, Klavierbauerin und Komponistin. Sie war das sechste Kind des berühmten Orgel- und Klavierbauers Johann Andreas Stein in Augsburg (1728–1792) und seiner Frau Maria Regina geb. Burkhart (1742–1800). Schon früh erhielt sie Klavierunterricht von ihrem Vater, der dabei ganz unter dem Einfluss seines Freundes Ignaz von Beecke stand. Von einem ihrer ersten öffentlichen Auftritte berichtet er: „Mein kleines Mädgen von im 7ten Jahr hat letzten Donerstag auf der H. Geschlechter stube und Mittwoch darauf auf der Kaufleuth Concert – es war publiquis – Clavier Concert gespielt; mit vieler Empfindung und einer arth Enthusiasmus machte sie die Einleidung ihrer Rondeaux“ (Hertz, S. 13f.). Im Jahr 1777 fällte Mozart ein höchst kritisches Urteil über das Klavierspiel der Achtjährigen, bestätigte aber ihre Begabung: „Sie kann werden: sie hat genie. aber auf diese art wird sie nichts“ (Brief an Leopold Mozart, 24. Okt. 1777). Er sprach ausführlich mit Stein über ihre Fehler und das zweifelhafte Vorbild Beeckes, dürfte damit also wichtige Impulse für ihren künftigen Unterricht gegeben haben: „H: stein und ich haben gewis 2 stund mit einander über diesen Punct gesprochen. ich habe ihn aber schon Ziemlich bekehrt. er fragt mich iezt in allen um rat“ (ebd.).

In Augsburg trat Nannette Stein als Pianistin immer wieder in Konzerten auf, teilweise auch gemeinsam mit ihrer Freundin Nanette von Schaden. Laut Gerber spielte sie „mit vieler Fertigkeit, ausdrucksvoll, mit Geschmack und Deutlichkeit das Klavier“; 1787 sang sie in einem Konzert auch „einige kleinere Arien“ (Gerber 1). Das Singen musste sie später allerdings aus gesundheitlichen Gründen aufgeben. Was in allen Besprechungen ihres Klavierspiels, auch aus späterer Zeit, immer besonders hervorgehoben wird, ist ihr gefühlvoller Ausdruck, „der Ohren und Herzen dahin reißt und bezaubert“ (Stetten, S. 320), sowie ihre Fähigkeit zu einem vollkommenen Pianissimo: „Sie ist, als Dilettantin, eine sehr geschickte Fortepianospielerinn, welche dies Instrument so vollkommen in ihrer Gewalt hat, daß es dem ganzen Gefühl ihres Herzens zu Gebote stehen muß. Unter ihren Fingern wachsen und schmelzen Töne auf jeden ihr beliebigen Grad, und verlieren sich gleichsam bis ins Unhörbare“ (Schönfeld, S. 60)1802 bestätigte ihr Georg August Griesinger in einem Artikel in der „Allgemeinen musikalischen Zeitung“, dass es ihr „wenn sie nach dem Rufe einer Virtuosin gegeizt hätte, sehr leicht gewesen [wäre], sich in dieser Eigenschaft durch Reisen einen ausgebreiteten Namen“ zu machen (AmZ 1802, Sp. 156).

Ihr Lebensweg verlief jedoch in eine andere Richtung: Der Vater hatte sie schon sehr früh auch im Klavierbau unterwiesen, so dass sie in der Lage war, die Werkstatt nach seinem Tod selbständig weiterzuführen. 1794 heiratete sie den Musiker Johann Andreas Streicher (1761–1833) und übersiedelte im selben Jahr mit ihm nach Wien. Hier führte sie den väterlichen Betrieb, zunächst gemeinsam mit ihrem jüngeren Bruder Matthäus Andreas (1776–1842), seit 1802 unter eigenem Namen (Nannette Streicher geb. Stein) weiter. Mit der Unterstützung ihres Mannes – und seit 1824/25 mit ihrem Sohn Johann Baptist (1796–1871) als Teilhaber – gelang es ihr, den Betrieb zu einem der bedeutendsten Klavierbauunternehmen der Residenzstadt auszubauen.

Das Ehepaar Streicher spielte aber auch darüber hinaus eine wichtige Rolle im Wiener Musikleben. Die wöchentlich stattfindenden Konzerte im Streicherhof, seit 1812 in einem eigenen Konzertsaal für etwa 300 ZuhörerInnen, boten adeligen DilettantInnen und jungen KünstlerInnen willkommene Auftrittsmöglichkeiten vor einem sachverständigen Publikum. Nannette Streicher selbst dürfte hier nicht mehr öffentlich konzertiert haben, spielte aber gerne in privatem Kreis vor Musikfreunden und Besuchern, mitunter auch zusammen mit ihrer Tochter Sophie (1797–1840), einer gleichfalls begabten Klavierspielerin. Sie stand in Verbindung mit vielen großen Musikerpersönlichkeiten Wiens; ihre Freundschaft zu Beethoven ist in über sechzig kleinen Briefchen dokumentiert, in denen er sie um Rat und Hilfe in Haushalts- und Erziehungsfragen bat. In ihrem letzten Lebensjahrzehnt übersetzte sie das sechsbändige Werk „Sur les fonctions du cerveau“ des Gehirn- und Schädelforschers Franz Joseph Gall (1758–1828), bei dem sie auch zwei kraniologische Kurse besucht hatte.

Zwei kleine Märsche für Klavier wurden 1817 bei Simrock herausgegeben und 2006 neu aufgelegt; die bei Eitner erwähnten Variationen für Klavier sind verschollen.

 

Nannette Streicher, aquarellierte Tuschzeichnung von Ludwig Krones 1836.

 

WERKE FÜR KLAVIER

Variationen

Zwei Märsche, Simrock 1817

 

LITERATUR

Johann Andreas und Anna Maria (Nannette) Streicher, Gesamtausgabe der Originalwerke, hrsg. von Christoph Öhm-Kühnle, H. 10, Köln 2006.

AmZ 1802, Sp. 156f.; 1833, Sp. 373–380

Gerber 1 (Art. Stein), Schilling (Art. Stein), Gaßner, Wurzbach (Art. Streicher), Grove 1 (Art. Stein), Fétis, EitnerQ (Art. Stein), MGG 1 (Art. Stein), Grove 5 (Art. Stein), Herloßsohn, New Grove 1 (Art. Stein), Cohen, MGG 2000 (Art. Stein, Streicher), New Grove 2001 (Art. Stein, Streicher)

Wolfgang Amadeus Mozart, Briefe und Aufzeichnungen. Gesamtausgabe, hrsg. von Wilhelm A. Bauer und Otto Erich Deutsch, Bd. II 1777-1779, Kassel 1962.

Schönfeld

Paul von Stetten der Jüngere, Beschreibung der Reichs-Stadt Augsburg, Augsburg 1788.

Ludwig van Beethoven, Briefwechsel. Gesamtausgabe, hrsg. von Sieghard Brandenburg, 6 Bde., Band 4 1817–1822, Bonn 1996–1998.

Vincent Novello, Eine Wallfahrt zu Mozart. Die Reisetagebücher von Vincent und Mary Novello aus dem Jahre 1829, hrsg. von Nerina Medici di Marignano u. Rosemary Hughes, Bonn 41992.

Alfred Christlieb Kalischer, Beethoven und seine Zeitgenossen, 4 Bde., Bd. 3, Berlin u. Leipzig 1910.

Otto Clemen, „Andreas Streicher in Wien“, in: Neues Beethoven-Jahrbuch 4 (1930), S. 107–117.

Eva Hertz, Johann Andreas Stein (1728–1792). Ein Beitrag zur Geschichte des Klavierbaus, Würzburg 1937.

Freia Hoffmann, Instrument und Körper. Die musizierende Frau in der bürgerlichen Kultur, Frankfurt a. M. u. Leipzig 1991.

Uta Goebl-Streicher [u. a.], Diesem Menschen hätte ich mein ganzes Leben widmen mögen. Beethoven und die Wiener Klavierbauer Nannette und Johann Andreas Streicher. Katalog zur Ausstellung im Beethoven-Haus, Bonn 1999.

Uta Goebl-Streicher, Das Stammbuch der Nannette Stein, Tutzing 2001.

Gerda Wiesbauer, Nanette Streicher (1769–1833) – eine einzigartige Persönlichkeit der Wiener Klassikin: Frauen hör- und sichtbar machen. 20 Jahre „Frau und Musik“ an der Universität für Musik und darstellende Kunst Wien, hrsg. von Sarah Chaker u. Ann-Kathrin Erdélyi, Wien 2010, S. 153–164.

 

Bildnachweis

Tuschzeichnung nach einem Bild im Gedenkbuch für Anton Rollett in Baden (1829).

 

Uta Goebl-Streicher

 

© 2008 Freia Hoffmann